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Walter Mosley: Socrates' Welt

Eine Leseprobe, mit freundlicher Genehmigung des Unionsverlags.

 

Blauer Blitz (Auszug)

1.

Socrates' Welt Zuerst dachte er, der trillernde, blökende Ton sei Teil seines Traums. Ein süßer Ton und so hoch ­ das musste der Engel sein, den laut seiner Tante Bellandra der blaue Gott schickt. »Damit die schwarzn Mannsleut nich ganz und gar aus der Welt falln. Der hat ne ganz hohe Stimme, so wie ne Trompete, und der kommt immer auf'n letzten Drücker, wenn so'n Wurm seine Arbeit los is oder sein Geld, seine Frau, seine Selbstachtung und überhaupt alles, was er hat. So knapp vorm Tod«, hatte Tante Bellandra mit lautem Händeklatschen verkündet, »da hört der den Engel singen.«
    Als kleiner Junge hatte Socrates Angst gehabt vor seiner großen, strengen Tante, aber er hatte auch gebannt gelauscht auf ihre Geschichten von schwarzen Menschen in einer weißen Welt unter einem blauen Gott, der von Leuten sowieso kaum Notiz nahm.
    »Wenn er schon fast weg is, dann macht der Engel vielleicht'n Schritt für ihn«, behauptete sie. »Und wenn dann so'n schwarzer Mann diese Honigstimme hört, fällt der ganze furchtbare Verlust und das Leid einfach von ihm ab, dann kuckt er hoch und merkt, er hat eigentlich immer gewusst, wos langgeht, er hat bloß den Schritt nie gemacht.«
    Da war er wieder, der hohe Ton. Diesmal etwas ausgefranst. Ein kleines Geschmetter diesmal, durch Socrates' Traum.
    »Kann noch lange nich jeder hörn. Manch einer is nämlich zu voll mit Rauschgift und der Nächste zu voll mit Hass. Und manchmal kommt der Engel auch'n Tickchen zu spät, und dann wird sein Lied zu'm Trauerchoral. Da war dann wohl was, bevor der gestorben is...«
    Socrates fuhr im Bett hoch und riss die Augen auf, so weit er konnte. Er bekam Angst, dass die Musik in seinem Traum tatsächlich der Grabgesang von diesem verschnarchten Engel und er selber über Nacht gestorben war und nicht mehr die Zeit hatte, all das, was er in seinen schlimmen Jahren an Schmerz und Leid angerichtet hatte, wieder gutzumachen.
    Er setzte sich in seinem Klappsofabett auf. Aus seinem Hals kam ein Pfeifgeräusch, ganz leise und ganz am Ende jedes Atemzugs. Dieses Pfeifen und dazu diese hohen Töne von einer Trompete irgendwo draußen.
    Wie Weinen klang die Musik. Erst ein tiefer Seufzer, der sich in eine Kaskade aus Tränen ergießt, danach flehentliche keuchende Töne wie die, mit denen man um den Tod bettelt.
    Die Leuchtzeiger auf Socrates' Wecker sagten, dass es vier Minuten nach halb vier morgens war. In nur anderthalb Stunden musste der ehemalige Zuchthausinsasse aufstehen und sich zur Arbeit fertig machen.
    Er versuchte, hinter den Tönen eine Melodie herauszuhören, aber jetzt war das Horn plötzlich stumm. Die Augen fielen ihm eine Weile wieder zu, dann riss er sie kurz auf und schloss sie noch einmal ein paar Sekunden lang. Gerade wollte er auch den Kopf wieder zurück ins Sofakissen sinken lassen, da fing das Horn wieder an zu spielen. Diesmal war es ein langsamer Blues ­ er klang wie ein Zug, der in einen Bahnhof einfährt oder vielleicht auch hinaus.
    Sein Dämmerzustand verwandelte sich in lebhafte Neugier auf die Musik. Socrates schwang die Beine über die Bettkante, stieg in die Latzhose, die auf dem Boden bereitlag, stellte sich auf die Füße und schob die Träger über die Schultern. Dann schlüpfte er in die breiten Lederschlappen, die er in einer Mülltonne in Beverly Hills gefunden hatte, als er dort wieder einmal für den Bounty Supermarket ausgeliefert hatte.
    Das Leder schlappte ihm rhythmisch an die Sohlen, während er aus der Tür trat und in den kleinen Gemüsegarten an der Straße ging. Sein schwarzer Hund, der nur noch die beiden Vorderpfoten hatte, legte sich in seiner Papphütte um, machte sich aber nicht die Mühe, für sein Herrchen aufzustehen.
    Das Lied des Horns kam aus der Brache links. Früher hatte dort das Lagerhaus gestanden, aus dem die leer stehenden Möbelläden zu beiden Flanken der winzigen Parzelle, auf der Socrates' Hütte stand, ihren Nachschub bezogen hatten.
    Hier draußen war die Trompete laut und klar zu hören. Und an der frischen Luft bekam die Musik einen zornigen Unterton.
    Die Sterne sahen aus wie eine nächtliche Eskorte für das Lied. Socrates überlegte, warum er eigentlich nicht öfter vor Sonnenuntergang aufstand. Der Nachthimmel war so schön und so einsam. Kein Mensch war auf der Straße, alles war friedlich, und er war frei und konnte überallhin, und kein Gitter und kein Wärter hielten ihn zurück.
    Das verkohlte Grundstück war zwar leer, aber nicht völlig ungenutzt. Zwei durchgerostete Autowracks standen herum, ein paar Kartons für große Geräte, diverse Metallfässer und -kanister, es gab auch Müllhalden und hier und da hastig zusammengebastelte Hütten, eben alles, was Durchreisende, Obdachlose oder Ausgeklinkte so brauchen.
    Einen Trompeter konnte Socrates nicht sehen, aber der Zug rollte weiter. In seinem Kopf klirrten Tante Bellandras Worte nach. Er ging auf die Brache zu, lederschlappend und mit knirschendem Kies hinter jedem Schritt. Und alles kam ihm zutiefst vernünftig und zweckgerichtet vor ­ das gelbe Licht aus dem Fenster von Mrs. Melendez gegenüber, die Kälte von der nächtlichen Brise, die er auf den Schultern spürte, ohne zu frieren.
    Am Rand der Brache blieb er stehen und sah hoch in den Halbmond dicht über dem Horizont.
    Baby bought a new hat. So geht das, dachte er. She bought a yellow dress. So ging der Text von diesem einen Stück, das beim Friseur vom Fonografen kam, jeden zweiten Sonnabend, wenn er mit seinem Halbbruder Garwood mit zum Bürstenschnitt durfte.
    She's gonna ride that Greyhound bus and take away my best.
    »Heh!«, rief Socrates.
    Die Musik verstummte.
    »Heh!«, rief er noch einmal.
    Die Stille lastete wie ein Druck auf seinen Ohren.
    Er wusste nicht, wie er unbewaffnet nach draußen in die dunkle Nacht hatte gehen können, auf die gefährlichen Straßen seiner Nachbarschaft. Erst vor drei Wochen war in einer Seitenstraße eine junge Frau erschossen worden. Sie hatte bloß noch einen silbernen Minirock und einen roten Schuh angehabt, erzählten die Nachbarn. Mitte zwanzig war sie gewesen, mit brauner Haut und schmächtig bis auf riesige Brüste. Zur Zeit ihrer Geburt hatte Socrates noch gesessen, für zwei von ihm begangene Morde.
    Etwas Hartes, Metallisches fiel zu Boden, und Socrates stürzte auf einen Mann mit ausgetretenen Schuhen los.
    »Wegblei'm!« Der kleine Mann machte einen Satz über einen umgekippten Boiler und rannte über die ganze Brache bis zur anderen Querstraße. Als Socrates endlich auch dort ankam, war das Männchen verschwunden.
    »Verdammt noch mal!«, fluchte er. »Was für'n Idiot läuft hier mitten inner Nacht schreiend durch die Gegend!«

 

2.

»Ihre Uhr geht heute wohl ein wenig nach, Mr. Fortlow«, sagte Jason Fulbright statt eines Grußes. Es war drei Minuten vor acht.
    »Wie bitte?«, fragte Socrates auch nicht gerade freundlich zurück.
    Fulbright war ein hellhäutiger Schwarzer und hatte dicke Lippen, die er jetzt zum verächtlichsten dünnen Strich zusammenkniff, den er hinkriegte. Er hielt Socrates seine Armbanduhr unter die Nase und klopfte auf den Glasdeckel.
    »Es ist gleich acht.« Fulbright hatte eine hohe Stimme wie eine meckernde Elster. »Sie haben doch die Sieben-Uhr-fünfundvierzig-Schicht, nicht wahr?«
    »Der Busfahrer hatte sich wohl verfranst heut Morgen«, gab Socrates etwas milder zurück. Er mochte seine Arbeit. Er fühlte sich wohl dabei, jeden Morgen zur Arbeit zu gehen. Und die Lohntüte konnte er auch gebrauchen.
    »So, so. Ihr Bus hatte Verspätung. Dann müssen Sie wohl einen Bus früher nehmen.« Der Mittdreißiger Fulbright grinste den Endfünfziger und Exzuchthäusler Fortlow an. »Kann sein, dass Sie dann ein wenig zu früh hier sind, aber Sie sind wenigstens pünktlich. Tja, Sir, wenn Sie etwas werden wollen in diesem Betrieb, werden Sie wohl einen Bus früher kommen müssen.«
    Fulbright klopfte Socrates auf die Schulter. Vielleicht musste er einfach mal die steinharten Muskeln darunter spüren, am Oberarm, um zu merken, dass er tiefer in der Tinte saß, als ihm gut tat.
    »Fassen Sie mich nich an, Mann«, sagte Socrates fast beiläufig.
    »Wie meinen Sie?«
    »Ich meine, Sie solln Ihre Hände bei sich behalten, wenn Sie noch'n bisschen was davon ham wolln.« Die ganze Zurückhaltung, die er sich beigebracht, all die Gelegenheiten, bei denen er sich eingeredet hatte, dass Leute wie Jason Fulbright Idioten sind, auf die man gar nicht hört ­ das alles war plötzlich weg. Ein paar schlichte Stunden Schlaf zu wenig und ein heftiger Traum ­ dazu irgendein Clown, der unbedingt mitten in der Nacht trompeten musste ­, mehr war dazu nicht nötig. Ein einziger mieser Morgen, und Socrates war in der Lage, alles hinzuschmeißen.
    Fulbright wich unwillkürlich einen halben Schritt zurück, aber Socrates las an seinem Gesicht ab, dass er eigentlich weiterreden wollte. Und was immer er weiter sagen würde, würde in einer Prügelei enden. Ach was, Prügelei ­ in einem Blutbad. Denn dieser jüngere Mann mochte vom vielen Sport vielleicht groß und stark sein, aber er hatte keine Ahnung, was für eine Art von Gewalt es war, die er in einem ehemaligen Zuchthausinsassen wachkitzelte. Socrates ballte die Fäuste, er konnte nicht anders. Jahrelang hatte er seinen Zorn immer wieder hinuntergeschluckt, aber jetzt war Schluss.
    »Guten Morgen, Jason ­ Socrates«, sagte plötzlich Marty Gonzalez, der Lagerverwalter.
    Fulbright und Fortlow mussten sich voneinander wegdrehen, um zurückzugrüßen.
    »Ach, Marty«, sagte Jason, »hallo.«
    Socrates nickte nur.
    Martys Urgroßeltern stammten aus Mexiko. Sie waren 1909 aus Sonora nach Kalifornien eingewandert. Marty besaß noch eine Taschenuhr, in deren Deckel gegenüber dem Zifferblatt ein Bild von seinem Urahn Ernesto Gonzalez klebte. Er hatte sie Socrates einmal gezeigt und dazu bemerkt, wie ähnlich er seinem Vorfahren sehe und wie wenig ähnlich er ihm sei.
    »Ich sprech nich mal Spanisch«, hatte Marty erklärt. »Und ich war zwar schon in Vietnam, aber in Mexiko nie. Meine Frau is gebürtige Dänin, und mein Sohn hat blaue Augen und findet, mehr als Taco Bell muss er nich wissen von mexikanischer Kultur.«
    Socrates mochte Marty sehr.
    »Was'n hier los?«, fragte der Lagerverwalter mit den dunklen Augen jetzt.
    »Also, ehrlich gesagt, so recht erklären kann ich mir das auch nicht, Mr. Gonzalez«, fing Jason an.
    Er wollte mehr sagen, aber Marty schnitt ihm sofort das Wort ab. »Ah so. Ach, Jason ­ gehn Sie doch mal nachsehn, ob die Zwillinge gestern den Bestand korrekt erfasst und nachbestellt ham, ja?«
    »Sehr wohl, Mr. Gonzalez. Ganz wie Sie wünschen.« Jason zupfte sich die braunrot gestreifte Krawatte fest und glotzte die beiden anderen fragend an.
    »Schon recht.« Marty klopfte ihm auf die Schulter. »Gehn Sie ruhig mal kontrollieren, wie die Zwillinge so arbeiten.«
    Die Zwillinge waren ein jüdisches Mädchen namens Sarah Schulberg, die auf dem Spalding Drive wohnte, und ein sehr hellhäutiges schwarzes Mädchen namens Robyn Craig, deren Vater Schönheitschirurg war und eine Praxis auf dem Roxbury Drive hatte. Sarah und Robyn machten alles zusammen. Sie trugen sogar die gleiche Kleidung und tratschten gemeinsam über geile Jungs. Und sie wurden abwechselnd von beiden Müttern im Auto zu Bounty gebracht und wieder abgeholt.
    »Ich schwörs, ich schlag dem Drecksack den Schädel zu Brei, wenn der mich nich in Ruhe lässt!«, sagte Socrates ein bisschen sehr laut.
    Marty versuchte ihm, mit beiden Händen gestikulierend, klarzumachen, er solle leise reden.
    »Weiß ich doch«, sagte er dann. Marty war stämmig, aber nicht sehr groß; er musste hochkucken, wenn er dem Hünen Socrates in die Augen sehen wollte. »'n aufgeblasener Wichser is das.«
    »Sie sollten mal mit dem reden, Marty«, antwortete Socrates. »Der quatscht mich hier voll, meine Uhr wär wohl kaputt, und ich soll'n Bus früher nehmen. Mann, ich nehm jeden Morgen den ersten Bus, der überhaupt fährt, und ne Uhr hab ich im Leben nich gehabt.«
    »Schon gut, Socco. Jason is'n Schleimscheißer. Der hat sowieso keine Ahnung.«
    »Kann er aber ganz schnell kriegen, wenn er nich aufhört, mich anzuwichsen.«
    »Was is'n wirklich los, Socco?«
    »Gar nix«, antwortete der Hüne. »Der nervt mich einfach, sonst gar nix.«
    Marty nickte und betrachtete seine Schuhe. »Tja, is wirklich'n Aas«, sagte er schließlich. »Na kommen Sie ­ Sie und ich und Hector, wir laden heut Morgen den LKW aus, ja? Da ham wir was zu tun.«

Montagmorgens brachten riesige LKW Nachschub, und Socrates lud gern aus. Tonnen von Lebensmitteln mussten bis zur Rampe des Lagerhauses geschleppt werden. Das war Schwerarbeit, aber Socrates war stark. Meistens war er der Stärkste weit und breit.
    Zentner um Zentner hievte und schleifte, rollte und stapelte er an diesem Morgen aus dem LKW. Hector La Forna und Marty Gonzalez mussten sich abwechseln, um hinter dem kahlköpfigen schwarzen Hünen Socrates herzukommen.
    Er schuftete, bis ihm der Schweiß auf der Kopfhaut glänzte. Er wusste jetzt schon, dass ihm die ganze Woche alle Knochen wehtun würden, denn seine Muskeln waren zwar kräftig, aber eben auch schon alt und widerspenstig.
    »Mittagspause«, schlug Marty um Viertel nach elf vor.
    »Mittag is doch erst um zwanzig nach zwölf für die Sieben-Uhr-fünfundvierzig-Schicht«, erwiderte Socrates.
    »Scheißegal. Wir holen uns'n paar Sandwiches mit Cornedbeef und gehn rüber in die Grünanlage. Ich sag Jason Bescheid. Soll der doch übernehmen, solange wir weg sind. Da kriegt der so ne Latte, dass mir seine Frau bestimmt ne Danksagung schickt.«

In dem kleinen Park gegenüber Bounty standen eine Bank, ein Tisch, ein Bronzedenkmal für einen unbekannten Goldgräber und ein enormer Felsbrocken, der über zwei Meter siebzig hoch und fast genauso breit war. Eine uralte grüne Pinie spendete Schatten. Marty besorgte Sandwiches und Bier zum Nachspülen. Socrates nahm Martys Entschuldigung für Jason Fulbrights schlechtes Benehmen an und beruhigte sich, zum ersten Mal an diesem Tag seit vier Minuten nach halb vier.
    Und nach dem soliden Imbiss und dem Bier nickte er und blinzelte zufrieden. Dann schien er wegzudösen, ein, zwei, drei Minuten lang, sackte schlaftrunken ein Stück zu weit vornüber und musste sich zurückreißen, um nicht von der Bank zu kippen.
    Marty grinste ihn an.
    »Wie spät is'n?« Socrates wollte aufspringen, sank aber wieder zurück, als Marty die Hand hob.
    »Viertel vor eins ungefähr.«
    »Dann hab ich ne halbe Stunde Verspätung. Was Jason wohl dazu erst sagt.«
    »Was is los, Socco? Warum sind Sie heut so nervös?« Martys Augen waren so schwarz, dass Socrates sie für tiefe Löcher hielt.
    »Was los is? Alles Mögliche. Jede Menge Scheiße is los. Hab gestern Abend ne Zeitung gesehn, die Bullen ham schon wieder'n LKW voll mit illegalen Mexikanern zusammengedroschen. Am helllichten Tag. Das Fernsehn war dabei. Aber das kratzt ja kein' mehr. Die ham wirklich nix gelernt aus den Aufständen damals.«
    »Das is ganz alltäglich, Mr. Fortlow«, sagte Marty. »Aber was is heute los? Ich meine, die ham doch nich Ihnen in' Arsch getreten.«
    »Probiert hats bisher jedenfalls keiner. Weil nämlich der nächste Drecksack, der mir in' Arsch treten will, sowieso'n toter Mann is. Ob Bulle oder sonst was. Ich spiel nich mit bei dem Scheiß. Reicht das von wegen los?«
    Marty Gonzalez hatte sich seitlich ausgestreckt und lagerte auf einem Ellbogen.
    »Was?«, fragte Socrates nach einer Schweigepause.
    »Hab nix gesagt.«
    »Wolln Sie wieder rüber?«
    »Was immer Sie wolln, Socco.« Marty zuckte mit der Schulter, rührte sich aber nicht.
    »Ham Sie scho'mal Angst gehabt, verrückt zu werden, Marty?« Socrates wusste selbst nicht mehr, was er gedacht hatte, als sich diese Frage zu Wörtern sortierte.
    »Ja, jedes Mal, wenn die Mutter von meiner Frau abends zum Essen da is und ungefähr noch ne halbe Stunde danach, wenn sie wieder weg is.«
    Socrates' Lachen klang, als ob irgendwo fern etwas explodiert, eine Batterie Kanonen bei der Einnahme einer Stadt. »Warn Sie immer schon so'n komischer Vogel, Marty?«
    »Glaub schon. Und Sie?«
    »Ja, ich wohl auch.« Socrates schabte sich mit der linken Hand, die Steine zertrümmern konnte, die Glatze. »War von Anfang an' Idiot, und grad siehts aus, als ob ich schon wieder dabei bin, was Blödes anzustellen. Ehrlich, ich hätt Jason eins in die Fresse gehaun, wenn Sie nich aufgekreuzt wärn.«
    »Und ich hätt Sie auch fast gelassen.« Marty grinste. »Diesem Bruder würden Sie glatt'n Gefallen tun damit, bloß hab ich keine Lust, Sie zu verlieren, Socco. Sie sind der einzige gestandne Kerl in dem ganzen Laden. Ansonsten gibts doch hier bloß Weiber, Gören und Schleimscheißer.«
    Wieder lachte Socrates. »Ja-hah. Weiß, was Sie meinen. Mhh. Und manchmal, also bei manchen Männern frag ich mich auch, wie die eigentlich morgens allein in die Klamotten finden. Und dann soll ich mir hier'n Scheiß von den' anhörn, für die vier Dollar fünfundneunzig die Stunde.«
    »Mehr kriegen Sie nich?« Marty sah ehrlich schockiert aus.
    »Nee. Na, wissen Sie'n nich, was die den Leuten hier zahlen?«
    »Doch, doch. Die ham da so'n Stufensystem. Aber ich hab gedacht, Sie sind mindestens Stufe vier inzwischen. Sie sind doch schon über'n Jahr hier. Und der Junge, um den Sie sich kümmern, dieser Darryl, der kriegt ja schon viersechzig.«
    »Ach, scheiß drauf. Ich bin froh, dass ich überhaupt ne Stelle hab.« Socrates sah nach links und rechts und hievte sich dann auf die Füße. »Ich glaub, wir müssen wirklich wieder rüber.«
    Auch Marty kam zurück in den Stand und baute sich vor Socrates auf. Sein Gesicht war genau gegenüber dem Hals des Hünen. »Gibbs geht weg aus der Obst-und-Gemüse-Abteilung. Der geht in die Zentrale und wird Chefeinkäufer für den gesamten Südwesten.«
    »Tja. Hat er auch verdient, glaub ich.«
    »Und ich brauch da jemand Neues«, erklärte Marty, ohne mit der Wimper zu zucken.
    »Ja, tja, den brauchen Sie bestimmt. Benny würd gern höher kommen. Hat Frau und Kind.«
    »Wie alt sind Sie, Mr. Fortlow?«
    »Zum Knutschen nah an sechzig.«
    »Und schaffen mehr weg als zwei Jason Fulbrights.«
    »Nich, wenn ich hier'n ganzen Tag rumsitze und Bier kippe.« Socrates schlug seine kräftigen, aber gelblichen Zähne in die Unterlippe.
    »Sie könnten mein Leiter Obst und Gemüse werden, Socco.«
    »Nähäh, Marty, ich nich. Ich komm hier bloß her und mach, was ich gesagt kriege. Lad das hier ab, stell das da hin ­ dafür bin ich da.«
    »Socco, Sie sind der beste Mann, den ich hab. Und ich brauch jemand, dem ich frische Lebensmittel anvertraun kann. Obst und Gemüse wird genauso schnell schlecht wie Fleisch. Da muss jemand mit Verantwortungsgefühl 'n Auge drauf ham.«
    Socrates wandte sich ab und sah über die Straße zu dem weitläufigen Supermarkt mit dem Riesenparkplatz davor. Es kam ihm alles sehr, sehr fern vor.
    »Lassen Sie uns lieber los, Mann«, sagte er zu seinem Chef und stapfte einfach davon. Ende der Debatte über Obstkisten und Karrieren.

 

Aus dem Amerikanischen von Pieke Biermann
© Unionsverlag, 2001
Alle Rechte vorbehalten!

 

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