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Kleiner Abgesang auf das Krimi-Jahr 2009

 

Alle, alle lieben dich Im Frühjahr 2009 wars, da machte sich eine ganze Armada von Übertragungswagen auf ins Württembergische, um nach dem Amoklauf von Winnenden Kameraobjektive und Mikrofone möglichst nah ran zu halten auf Blut, Schmodder und Tränen. Der Reporter als Pornograph, die Würde der Toten und ihrer Anghörigen geopfert auf dem Altar von Auflagen und Quoten. Kurz zuvor war Stewart O'Nans bewegender Roman »Alle, alle lieben dich« erschienen. Nein, das Buch thematisiert weder Amok noch Massaker, sondern handelt von einem vermissten Mädchen und den Qualen, die ein ungeklärtes Schicksal den Zurückgebliebenen beifügt. Spektakel sind O'Nans Sache nicht, er ist ein Seelenergründer: Sein Anliegen ist die Würde der Opfer.

Sommer in Kingsville, Ohio. Für die achtzehnjährige Kim Larsen ist es der beste Sommer seit Jahren, denn in ein paar Wochen wird sie aufs College gehen und endlich dem kleinstädtischen Mief entkommen. Nach einem unbeschwerten Badeausflug macht sie sich auf den Weg zur Arbeit, wo sie nie ankommen wird: Kim ist wie vom Erdboden verschluckt, ihr Auto verschwunden, und es gibt keinen noch so kleinen Hinweis, der auf ihr Schicksal weist. Die Zeit verrinnt, aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate. Die Hoffnung der Familie Larsen auf einen glücklichen Ausgang schwindet, auch wenn das niemand eingestehen mag.

O'Nans Roman ist quälend konsequent geschrieben. Es passiert wenig, die Handlung plätschert so dahin, möchte man leichtfertig schreiben, aber eben so verläuft ein Leben, das in einer grausigen Warteschleife gefangen ist. Dabei versucht O'Nan nicht mal, die Seelenpein der Hinterbliebenen zu beschreiben, sondern löst das Elend in Handlung und Dialogen auf. Vater und Mutter erscheinen in ihrem anfänglichen Aktionismus - dem Zusammenstellen privater Suchtrupps, dem Organisieren von Wohltätigkeitsveranstaltungen, der Kommunikation mit den Medien und dem Aufbau einer Webseite - beinahe unberührt. Es sind lapidare Sätze, die in die verborgenen Abgründe weisen: O'Nan zeigt die weinende Mutter nicht, sondern lässt ihre jüngere Tochter Lindsay berichten, dass die Mutter in bestimmten Momenten immer in Tränen ausbricht. Neben dem, was O'Nan tatsächlich zeigt, wird der Roman getragen von den Leerstellen, wo O'Nan eben nicht hinschaut, um seinen Figuren ihre Würde zu lassen.

»Alle, alle lieben dich« ist ein tief humanistischer, auf seine leise Art berührender Roman - ein literarisches Denkmal für alle, die das grausame Schicksal einer Vermissung haben ertragen müssen.

 

In weiter Ferne die HundeDas schönste Buch des Jahres 2009 stammt von der kanadischen Autorin Gil Adamson: »In weiter Ferne die Hunde« führt zurück in das Jahr 1903 in die Wildnis Montanas und Albertas jenseits der kanadischen Grenze. Adamson erzählt die Geschichte der 19-jährigen Mary Boulton die kurz nach der Geburt ihr Kind verloren und ihren gewalttätigen und untreuen Ehemann erschossen hat. Auf der Flucht vor dessen rachsüchtigen Brüdern Jude und Julian versteckt sie sich in den weiten Wäldern der Rocky Mountains.

Gehetzt bis an den Rand der Erschöpfung und den nahen Hungertod vor Augen, findet sie Unterschlupf bei einem Wildhüter, der auf dem Rückzug vor der Zivilisation immer weiter in die Berge vordringt. Als sich zwischen der Witwe und dem Einsiedler eine romantische Beziehung anbahnt, flieht er in tiefer Nacht und überlässt Mary ihrem Schicksal. Schließlich landet sie in einer Bergarbeitersiedlung, wo sie bei dem vierschrötigen Reverend Bonnycastle als Hauswirtschafterin unterkommt und sich in der rauhen Männergesellschaft voll skurriler Typen einen behüteten Platz erobert. Doch auch in dieser schartigen Idylle schlägt das Schicksal erneut zu - auch die Zwillinge Jude und Julian haben Marys Verfolgung noch nicht aufgegeben.

Gil Adamson, die in Kanada vor ihrem Roman-Debüt zwei Lyrikbändchen und eine Story-Anthologie veröffentlicht hat, zieht den Leser mit ihrer virtuosen Sprache und farbenprächtigen Bildern in den Bann. Ihre pathosfreien Landschaftsbeschreibungen sind von eindringlicher Schönheit, aber nie Selbstzweck. Ihre Figuren sind in ganz eigentümlicher Weise ambivalent gezeichnet: Äußerlich meist zwergen- oder hünenhaft, als seien sie mythologische Abziehbilder, sind sie doch so lebensprall, das man beim Lesen meint, sie atmen zu hören.

Adamsons Erzählung, auch das trägt zum hohen Unterhaltungswert des Buches bei, ist nicht eindimensional. In der erzählten Zeit folgen wir Flucht und Überlebenskampf »der Witwe« (so wird Mary Boulton durchgängig bezeichnet), den Ereignissen nach der Katastrophe von Kindstod und Gattenmord. In Rückblenden und Erinnerungen erzählt die Autorin vom bürgerlich-städtischen Vorleben ihrer Hauptfigur, einer unbeschwerten und behüteten Kindheit, bis das Schicksal zum ersten Mal eine klaffende Wunde in ihr Leben schlug. Tieftraurige und heitere Passagen stehen nebeneinander: Wie Mary Boulton - Laudanum-stramm bis zur Halskrause - durch das Bergabeiterdorf wandert und schließlich in die Grube einfährt, ist eine der größten Szenen seit langem - aber kurz darauf bricht die Hölle los.

Wenn wir schließlich nach knapp 400 Seiten mit Bedauern feststellen, dass wir am Ende des Buches angekommen sind, ist einiges anders, als wir vermuteten, und Adamsons Roman hallt eine ganze Weile nach, weil sie den Mut hat, nicht alle Fragen durchzudeklinieren. Wow - ist das schön!

 

Im Namen der Lüge Ein wundersames Kunststück ist David Ellis mit seinem Thriller »Im Namen der Lüge« gelungen: Allison Pagone, von Beruf Krimiautorin, soll ihren Liebhaber Sam Dillon umgebracht haben, einen Geschäftspartner ihres Ex-Gatten. Beide Männer sind dringend verdächtig, US-Senatoren bestochen zu haben, um ein Medikament auf den Markt zu drücken.

Die Beweise gegen Pagone sind erdrückend: Neben ihren Fingerabdrücken auf der Tatwaffe finden die Ermittler ein schlampig vernichtetes Manuskript der Kriminalschriftstellerin, in dem sie einen Mord beschreibt, der genau den Umständen des Mordes an Dillon entspricht. Nur ein Zeitungsreporter scheint von Pagones Unschuld überzeugt. Er recherchiert entlastendes Material, das die Beschuldigte vor Gericht allerdings nicht vorbringen mag. Und weil's ohne Verwicklungen in den internationalen Terrorismus heute nicht mehr geht - so denken wir -, stolpert noch ein finsterer Pakistani durchs Tableau, der einen Anschlag mit kontaminierten Medikamenten plant. Soweit so - pffff, äh, najaaah.

Das Besondere an Ellis' Thriller: Er erzählt seine Geschichte rückwärts, und so funktioniert sein Buch vorzüglich. Ellis beginnt mit der Beerdigung nach dem Selbstmord der Hauptfigur, mit dem - meinen wir - Allison Pagone einer Verurteilung zuvorkommt. Mit jedem Kapitel blättert er ein, zwei Tage zurück bis zum Mord an Sam Dillon und weiter zu einer FBI-Operation, die einige Tage davor initiiert wurde. Mit dieser Technik gelingt es Ellis, dem Leser permanent den Boden unter den Füßen wegzuziehen: Er legt Fährten aus, die uns geradezu zum Miträtseln einladen, und entlarvt diese ein paar Seiten weiter wieder als Täuschungsmanöver. Ist der Leser einmal in den Sog aus Lüge und Täuschung hineingeraten, kann er sich dem Reiz des Buches kaum entziehen. Sehr kurzweilige Unterhaltung zum Wegknabbern!

 

Brüller des Jahres 2009 ist der Thriller »Coma« des Schotten John Niven, ein zum Wiehern komisches Golf-Buch über den überwältigenden Schmerz und die unfassbare Verzweiflung die sich bei Amateurgolfern einstellt, wenn sie in der Diskrepanz zwischen sportlicher Perfektion und eigenen Können rumstochern. Das haut selbst die hartgesottenen Götter des Golfsports vom Hocker!

 

© j.c.schmidt, 2010
[Alligatorpapiere print]

 

Stewart O'Nan: Alle, alle lieben dich. (Songs for the Missing, 2008). Roman. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Deutsche Erstausgabe. Reinbek: Rowohlt, 2009, gebunden, 410 S., 19.90 Euro (D).

Gil Adamson: In weiter Ferne die Hunde. (The Outlander, 2007). Roman. Aus dem kanadischen Englisch von Maria Andreas. Deutsche Erstausgabe. München: Bertelsmann, 2009, gebunden, 383 S., 19.95 Euro (D).

David Ellis: Im Namen der Lüge. (In the Company of Liars, 2005). Thriller. Aus dem Amerikanischen von Alexander Wagner. Deutsche Erstausgabe. München: Heyne, 2009, Heyne Taschenbuch Nr. 43389, 429 S., 8.95 Euro (D).

John Niven: Coma. (The Amateurs, 2009). Roman. Aus dem Englischen von Stephan Glietsch. Deutsche Erstausgabe. München: Heyne, 2009, Heyne Taschenbuch Nr. 67577 (Heyne Hardcore), 397 S., 12.00 Euro (D).

 

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