Krimi-Auslese 07/2001
Krimifans hierzulande ist der Australier Garry Disher ein Begriff, seit sein Gangster-Epos »Gier« im Jahr 2000 mit dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Disher, der sein Handwerk u.a. an der Stanford University bei Robert Stone erlernte, hat jetzt mit »Drachenmann« einen ausgeklügelten Polizeiroman vorgelegt.
Und der hat's in sich.
Der Peninsula District ist eine beschauliche Halbinsel südöstlich von Melbourne. Es ist kurz vor Weihnachten, drückend heiß und die Touristen fallen ein. Detective Inspector Hal Challis ist der oberste Kriminalbeamte des Districts, der seine Ermittlungen mit der Hilfe der örtlichen Kripo durchführt. Derzeit ermittelt er in dem Mordfall an einer jungen Frau, deren Leiche neben dem entlegenen Old Peninsula Highway gefunden wurde. Seit 48 Stunden ist wieder eine Frau verschwunden, deren letztes Lebenszeichen ein Anruf beim Pannendienst war - von einer Telefonzelle am Rande des Highways. Kurz darauf erhält die Journalistin Tessa Kane einen anonymen Brief, in dem der Täter die Polizei verhöhnt und weitere Opfer ankündigt.
Nun ist Garry Dishers Roman alles andere als ein Serienmörder-Roman. Die Story um die Frauenmorde hält wie eine Klammer ein ganze Palette aus Geschehnissen zusammen: Es sind dies alltägliche, banale Dinge. So beschwert sich ein Einwohner, in seinem Teich werde illegal gefischt. Zwei jugendliche Rowdys ziehen trunken durch die Gegend und zünden Briefkästen an. Dabei verschrecken sie eine Neuseeländerin, die unter dem Zeugenschutzprogramm auf der Halbinsel lebt und in den brennenden Briefkasten ein Vorzeichen ihrer Hinrichtung sieht. Challis und seine Kollegen schlagen sich zusätzlich mit einer Einbruchserie und mit kleinen Betrugsdelikten rum.
Dishers »Drachenmann« ist deshalb ein genialer Wurf, weil er all die kleinen Taten und Begebenheiten auf fatale Weise miteinander verknüpft, ohne die Glaubwürdigkeit zu strapazieren. Auch ist Hal Challis - melancholischer Polizist mit rührender Vorgeschichte, die im Halbdunkel bleibt - nicht die Hauptfigur des Romans, sondern eher wie das Auge eines Orkans: Um ihn herum tosen diverse Persönlichkeiten - Sergeant Ellen Destry, Constable Scobie Sutton, Sergeant Kees von Alphen, die Streifenpolizisten John Tankard und Pam Murphy. Es sind dies keine Helden, sondern kunstvolle Charaktere, denen Disher mit ihren Sorgen und Ängsten, ihren Zielen und Hoffnungen, ihren Verfehlungen und Leistungen ausreichend Raum gibt, um sich zu entfalten: Disher erzählt auch von Cops, die sich mit Stoff aus der Asservatenkammer versorgen oder an einem Tatort Geld mitgehen lassen. Beschwerden der Bevölkerung gegen willkürliche Polizeiübergriffe weiten sich gar zu einer regelrechten Kampagne aus.
Ob der Vielschichtigkeit der Personen und der Handlung, denkt man beim Lesen an Ed McBain und seine großen Romane um das 87. Revier. Und wie beim alten Meister muß man auch Dishers »Drachenmann« bescheinigen: Das Buch ist mehr als nur ein Kriminalroman - es ist das lebendige Panorama einer kleinen Welt, die Disher literarisch gekonnt in all ihren Abgründen auslotet.
Wow!
Mehr davon!
Garry Disher: Drachenmann. (The Dragon Man). Roman. Aus dem australischen Englisch von Peter Friedrich. Zürich: Unionsverlag, 2001, gebunden mit Schutzumschlag, 302 S., 34.00 DM, 17.00 Euro (D)
Dass es sich bei der »spanischen Dame« nicht um ein rassige Frau von der iberischen Halbinsel handelt, sondern um eine der verheerendsten Grippe-Epidemien dieses Jahrhunderts, ist wohl nur Wenigen geläufig. Anfang des 20. Jahrhunderts wütete das Virus mit einer derartig destruktiven Rasanz, dass es allein in den USA binnen weniger Monate mehr Menschen hinraffte als in allen Kriegen des Jahrhunderts zusammen. Keinem Wissenschaftler ist es seinerzeit gelungen, das Virus zu isolieren, weil es genau so schnell von der Bildfläche verschwand, wie es auf selbiger auftauchte.
So jedenfalls erzählt es John F. Case in seinem Thriller »Das erste der sieben Siegel«, einem Thriller mit rasantem Auftakt: Im Hudson Valley wird ein älteres Ehepaar brutal ermordet. In Nordkorea wird ein kleines Bauerndorf von der eigenen Armee ausradiert - nur ein verkrüppelter Bewohner entkommt dem Massaker und kann sich über die Grenze nach Südkorea schleppen. Eine Wissenschaftliche Expedition reist auf eine entlegene Insel in die Arktis, um fünf Bergleute aus dem ewigen Eis zu exhumieren. Doch die Leichen sind verschwunden, an der Wand der Kirche neben dem kleinen Friedhof prangt das Bild eines riesigen weißen Pferdes. Als die Wissenschaftler aufs Festland zurückkehren, werden sie von Agenten des FBI in Empfang genommen und unter Androhung drakonischer Strafen zum Stillschweigen verdonnert.
So weit, so spannend.
John F. Case ist ein ordentlicher Handwerker, der sein gut recherchiertes Material in eine spannende Story verpacken kann - das hat Case mit seinem letzten Roman »Der Schatten des Herrn« bewiesen. In seinem jüngsten Thriller allerdings unterläuft ihm ein schwerwiegender dramaturgischer Fauxpas: Case lässt seine Hauptfigur, den Wissenschaftsjournalisten Frank Daly, fast das ganze Buch lang blind durch die Geschichte taumeln, um endlich auf das zu stoßen, was Case dem Leser gleich am Anfang offenbarte: die Verschwörung einer terroristischen Gruppierung, in der sich religiöser Wahn mit radikal-ökologischen Überzeugungen paart. Dieser Wissensvorsprung macht die Lektüre des Buches weitgehend dröge.
Das Finale wiederum ist spannend. Allerdings holt Case nicht all die kleinen, perfiden Hinweise und Spuren ein, die er im Laufe seiner Geschichte ausgelegt hat. So bleibt dann etwa auch das schaurige Gemetzel in Nord-Korea zusammenhangslos neben der Story.
John F. Case: Das erste der sieben Siegel. (The Firste Horseman). Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Bergisch Gladbach: Bastei-Verlag Lübbe, 427 S., 16.90 DM, 8.45 Euro (D)
Der deutsche Kriminalroman ist besser als sein Ruf. Nehmen Sie zum Beispiel Hen Hermanns und seinen kleinen Roman »Das große Gripschen«, der von Glücksrittern in Düsseldoft erzählt. Etwa von Charly , dem Repo-Man, der sich selbst als "Collector" bezeichnet und den Säumlingen schon mal mit einer Heckenschere zu Leibe rückt. Oder von Alexej, einem russischen Killer mit Akademie-Abschluss, der in mehreren Sprachen genauso gewandt ist wie an der Kalaschnikow, und dessen Ehrenkodex verbietet, sich von einem Hit zurückzuziehen, selbst wenn der Auftrag schon ordnungsgemäß storniert wurde.
Oder John, "the King of Cool", der eigentlich Jochen heißt und alles tut, "um wie John Travolta in ’Pulp Fiction' auszusehen". Oder der Blümchengießer Tim, der sich als Biographienschreiber versucht und nur schallendes Gelächter erntet, wenn er sein ausstehendes Honorar einfordert. Den Dealer Keks, dessen eigenwilliger Name weniger mit seiner eigenen Handelsware denn mit den Erzeugnissen einer Hannoveraner Großbäckerei zu tun hat.
Hermanns lässt tonnenweise Schnee über Düsseldorf rieseln, wirft noch zwei Millionen Mark in die Geschichte und gibt den Ring frei: Heraus kommt eine flottes, kurzweiliges Buch mit vielen guten twists. An manchen Stellen wirkt der Text eher designed denn geschrieben, und die Dialoge klingen gelegentlich nach öffentlich-rechtlicher Vorabendserie. Dennoch - "Das große Gripschen" hat alles, was gute Unterhaltung braucht.
Vergnügliche Lektüre mit guter Action.
Hen Hermanns: Das große Gripschen. Düsseldorf Krimi. Originalausgabe. Köln: Emons, 2001, 172 S., 17.80 DM, 9.00 Euro (D)
Stellenweise heiter - unter diesem Schlagwort kann man Uli Aechtners neuen Roman »Programmschluss« abheften. Die Frankfurter Autorin erzählt von einem Entführungsfall in einer Reihenhaussiedlung: Georg Reimann ist Besitzer einer florierenden Fernsehagentur und beliefert diverse Kanäle mit Beiträgen. Eines morgens ist Georg Reimann verschwunden. Mit seinen Kaschmirpullis. Und den Kindern, ihren Tamagotchis, Walkmen und Reeboks.
Aus Angst vor negativen Schlagzeilen will Doddo, Ehefrau des TV-Manns, nicht die Polizei einschalten, sondern wendet sich Hilfe suchend an ihre Nachbarin Lizzi. Seit ihrer Trennung schafft es Lizzi nur selten, die Glotze auszuschalten, und fröhnt vor allem Sendungen mit hypochondrischen Inhalten. Und Pralinen.
Mit fundiertem Fernsehwissen und der Unterstützung des Privatermittlers Kalle Albers, genannt Blomquist, ermittelt Lizzi in dem Fall, der schon bald eine neue Wendung erfährt:
"'Habe die Kinder. Deponieren Sie fünfzigtausend auf dem Grab von Elisabeth Reimann, heute um Mitternacht.'
’Das ist ein Klischee!', protestierte ich.
’Das ist ein Erpresserbrief', stellte Blomquist richtig.
Aus dem Wohnzimmer drang eine Woge des Schluchzens.
’Das ist meine Schwiegermutter!', wimmerte Doddo.
Uli Aechtners Roman »Programmschluss« ist putzig geschrieben. Das Buch kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Reihenhaussiedlung nicht unbedingt ausreichenden Stoff für einen spannenden Roman bietet. So erschöpft sich Aechtners Geschichte weitgehend in einem Vortrag, wer in der Siedlung was mit wem hat.
Lektüre für den öffentlichen Nahverkehr, aber auch nicht mehr.
Uli Aechtner: Programmschluss. Roman. Originalausgabe. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2001, 127 S., 13.50 DM, 6.90 Euro (D)
Dass Kriminalliteratur durchaus eine geeignete Gattung ist, um auch die ganz großen Fragen zu behandeln, beweist Robert Clark mit seinem grandiosen Roman »Das Verbrechen des Mr. White«. Clarks Roman ist eine poetische Abhandlung über Schuld und Sühne, über Wahrheit und Lüge und nicht zuletzt über die Frage: Wer oder was sind wir eigentlich ohne unsere Erinnerung?
Herbst 1939. Die Deutschen sind in Polen einmarschiert, in New York findet die Weltausstellung statt und in einer Kleinstadt in Minnesota wird eine junge Tänzerin ermordet. Die Ermittlungen leitet der Police Lieutenant Wesley Horner - ein gebrochener Mann, seit seine Tochter vor fünf Jahren verschwand und kurze Zeit später seine Frau an Krebs verstarb.
Horners Ermittlungen führen ihn zu Herbert White, einen Stammgast des Tanzlokals Aragon, in dem das ermordete Mädchen gearbeitet hatte:
"Als Wesley Horner zusammen mit seinem Kollegen in der Nähe von Seven Corners im White Castle einkehrte, sah er den Mann zum ersten Mal. Der rundliche und glatzköpfige Mann saß wie ein Ei im Becher an der Theke und aß hintereinander drei Hamburger, nachdem er jedes Mal die Gurkenscheiben säuberlich entfernt und auf den Unterteller seiner Kaffeetasse gelegt hatte. Er aß langsam, fast schon genießerisch. Die Hände waren wulstig, aber dennoch wohlgeformt. Nachdem er den letzten Hamburger verzehrt hatte, trank er noch seinen Kaffee aus und griff nach dem steifen Hut, den er auf der Theke abgelegt hatte. Er stand auf, wobei er mit einer vehementen Bewegung aufwärts wippte wie ein Wrackteil auf der Meeresoberfläche, nickte der Kellnerin zu, legte einen Vierteldollar hin und verzichtete schüchtern winkend auf sein Wechselgeld. Er packte seine Einkäufe zusammen - eine Tüte, die aus einem Buch- und Schreibwarenladen in St. Paul stammte, und einen flachen, rechteckigen, kodakgelben Karton - und schlurfte zur Tür, wobei er den Eindruck machte, als bestünde er aus zwei nicht aufeinander abgestimmten Hälften. Er bewegte sich wie ein Eselskarren mit ungleichen Rädern."
Die Vernehmung Herbert Whites bringt den Polizisten Horner nicht weiter: White gibt vor, unter einer seltenen Form des Gedächtnisschwunds zu leiden: Klar erinnere er sich an das, was eben geschah, und an Ereignisse, die länger als ein Jahr zurückliegen. Die Zeit dazwischen allerdings ist ein einziger grauer Nebel. Mr. White ist sich nicht mal sicher, ob der das getötete Mädchen kannte. Er beteuert aber immer wieder, er könne sich nicht vorstellen kann, zu einer derartigen Tat fähig zu sein.
Der sanftmütige Koloss, der in seiner naiv-freundlichen Offenheit vielleicht ein wenig an Forrest Gump erinnert, schreibt Fanbriefe an das Hollywood Starlet Veronica Galvin ("Seien Sie meiner bewundernden und besten Grüße versichtert") und trifft sich gerne privat mit den Mädchen des Aragons, um sie zu photografieren. Um den Tücken seines Gedächtnisses zu entgehen, sammelt Herbert White Zeitungsartikel und klebt diese sorgfältig in Alben ein. Und Mr. White ist ein geflissentlicher Tagebuchschreiber, der mit den Eintragungen gegen sein Vergessen kämpft.
Als wenig später eine zweite Tänzerin aus dem Aragon ermordet wird, scheinen auch für den Polizisten Wesley Horner alle Fakten gegen Herbert White zu sprechen: White hatte die Ermordete zweifelsfall gut gekannt, wurde in der unmittelbaren Nähe des Tatortes gesehen, und hatte selbst in sein Tagebuch eingetragen, er "habe Schönheit in Schande verwandelt". Alle Zweifel an Whites Schuld scheinen endgültig ausgeräumt, als es einem Kollegen Horners gelingt, White zu einem Geständnis zu bewegen (der Originaltitel lautet "Mr. Whites Confession").
Robert Clark, so war zu lesen, ist 1997 zum Katholizismus konvertiert. Nun ist "Das Verbrechen des Mr. White" alles andere als ein religiöser Erbauungstext. Clarks Roman ist weit jenseits aller Formelhaftigkeit, die vielen Werken des Genres zu eigen sind, und dadurch dringt er in die tieferen Gehirnschichten seiner Leser ein. Clark erzählt die Geschichte auf zwei Ebenen: Als neutraler Erzähler beschreibt Clark das Geschehen von außen, und wir schauen dem Polizisten Wesley Horner über die Schulter. In den Tagebucheintragungen Herbert Whites hat der Leser einen unmittelbaren Blick von innen. Aber wie authentisch sind die Notizen des Mr. White? Verbirgt sich in dem gutmütigem Riesen doch ein Monster?
Eine wunderschöne Geschichte, die einem das Herz zudrückt.
Robert Clark: Das Verbrechen des Mr. White. (Mr. White's Confession). Roman. Aus dem Amerikanischen von Maak Flatten. Deutsche Erstausgabe. München: btb bei Goldmann, 2001, 382 S., 18.00 DM, 9.00 Euro (D)
© j.c.schmidt, 2001