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Fraktur-Krimi einer Frauenrechtlerin

Pieke Biermann über »Ein seltsamer Fall« von Jenny Hirsch (1912)

 

Jenny Hirsch Man nehme: Sophie Klingenmüller, eine ziemlich unangenehme Person. Nach der Scheidung von einem Scheusal ist sie zur dogmatischen Ehefeindin mutiert und lebt vermögend und verbittert in einer Vorstadtvilla. Dazu Dienerin Katharina und Gärtner Windenbruch sowie eine Nichte. Albertine Wenzel kam mit und vor fünfzehn Jahren aus der Waisenanstalt zu ihr, "aus einem Kerker in den anderen" und wurde zum neidzerfressenen berechnenden Fräulein mit kalten Augen - neidisch auf Vetter Sigmar Hardheim, den hübschen Leichtfuß, der auf Kosten der Tante Sophie in Architektur macht und die schöne, reiche Imhilde Follenius aus dem Pensionat gegenüber beflirtet; und in ihrer berechnenden Art seelenverwandt mit Moritz Ladenburg, dem die Tante eine Art Prokura anvertraut hat und der seinerseits auf Albertine spekuliert. Selbstredend darf niemand im Umkreis der starren Sophie sich dem andern Geschlecht nähern - nicht mal der Sunnyboy-Neffe, aber dem ist Imhilde sowieso viel zu emanzipiert, vor allem solange das Geld der Tante sprudelt.

Die liegt nun aber eines Morgens nach einer Gewitternacht im heißen August erwürgt in ihrem Alkoven, mit Sigmars Taschentuch als Knebel im Mund. Und damit geht los, was man mit einem Wort abtun müsste: Kolportage. Ein bisschen locked-room mystery, ein bisschen Ermitteln, wie sich der zeitungsgebildete Zeitgenosse das damals vorstellte, Intrige plus deus ex machina - alles so rührend naiv, dass man es nur noch in der Fraktur lesen mag, in der es gedrucket ward: Erst als Fortsetzungsroman in einer Zeitung, nach dem Tod der Autorin auch in Buchform.

Warum soll man heute so etwas trotzdem lesen?
Erstens wegen der Autorin. Jenny Hirsch, geboren 1829 in Zerbst als Tochter einer jüdischen Kaufmannsfamilie, starb 1902 in Berlin als eine der wichtigsten Akteurinnen der Frauenbewegung. Sie verkörpert das pragmatische "preußische" Element der Bewegung - war Zeitungsschreiberin und -redakteurin, Internationalistin, Geschäftsführerin einer der bedeutendsten Frauenbildungsanstalten, des Lette-Vereins, Übersetzerin (u.a.) von John Stuart Mills Emanzipationsklassiker "Die Hörigkeit der Frau" und ungemein produktive Schriftstellerin, unter eigenem Namen wie pseudonym. "Ein seltsamer Fall" von einem F.Arnefeldt (der manchmal auch als Fritz firmiert) ist nur einer von 33 Romanen und Erzählungen, die Jenny Hirsch hinterließ, viele davon mit kriminalistischem Aspekt. Mehr Spannendes über sie, ihre Zeit, ihre Bedeutung kann man in Marianne Bünings kluger Monographie nachlesen.

Der zweite Grund, sich mit der literarischen Jenny Hirsch zu beschäftigen, ist die ewige Frage: Hat Krimi auch eine Tradition auf Deutsch oder ist er bloß angelsächsischer Import? Um sie fundiert beantworten oder auch als sinnlos enttarnen zu können, muss man lesen, was denn früher so an Krimis veröffentlicht wurde. Aber das meiste davon ist nur noch zufällig in Antiquariaten, Bibliothekskellern oder Flohmarktkisten zu finden. Deshalb gibt es seit 2005 die "Criminalbibliothek des 19. Jahrhunderts", mit Sachkunde und Selbstausbeutung zusammengetragen von Dieter Paul Rudolph und zunächst nur digital zu lesen bei www.alte-krimis.de. Mithilfe eines Subskriptionssystems soll Verschollenes aber nach und nach auch dem Buchmarkt wieder zugeführt werden, für alle die, die Bücher immer noch lieber gedruckt in der Hand halten als am Bildschirm vorbeiflimmern sehen.

An Jenny Hirschs hier auch wiederentdecktem Roman übrigens lässt sich nicht nur trefflich studieren, wie über-national Literatur (und alle Kunst) immer vernetzt ist, sondern auch, wie in politischen Aufbruchzeiten die Mühen des Ästhetischen hinter denen der politischen Haltung - vielleicht notgedrungen - zu kurz kommen: Themen, die jede literarische Generation neu verhandeln muss. Jenny Hirsch war nämlich beides mit demselben Ernst, Schriftstellerin und Politikerin.

 

Jenny Hirsch: Ein seltsamer Fall. Kriminalroman, 96 S., posthum unter Pseudonym F. Arnefeldt erschienen ab 1912, jetzt digital zugänglich in der "Criminal-Bibliothek des 19. Jahrhunderts", herausgegeben von Dieter Paul Rudolph, http://alte-krimis.de/autoren_hirsch.htm
Marianne Büning: Jenny Hirsch - Frauenrechtlerin - Redakteurin - Schriftstellerin. Berlin: Hentrich & Hentrich, 2004, Jüdische Miniaturen Bd. 23, 62 S., 5,00 Euro (D)

 

© Pieke Biermann, 2007
(Deutschlandradio, 23.01.2007)

 

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