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Moskau Noir

Über die "Zarinnen" der neuen russischen Kriminalliteratur

 

Der russische Krimimarkt schlägt eigenartige Kapriolen: Binnen kurzer Frist erreichen Autoren und (vor allem) Autorinnen Auflagen, bei denen viele bestverkaufende Schriftsteller in den westlichen Ländern vor Neid erblassen. Folgt man den Werbeabteilungen der Verlage, wird fast wöchtenlich ein neuer Superstar der russischen Kriminalliteratur geboren, der alle vorherigen in den Schatten stellt. Die Produktionszyklen werden dabei immer kürzer: Alexandra Marinina, eine der ersten Stars der neuen russischen Krimiszene, brachte es Mitte der Neunziger zeitweilig auf vier neue Romane pro Jahr, bei jüngeren Vertretern der Zunft sind sechs Titel in der gleichen Zeit keine Seltenheit, und, so war kürzlich zu lesen, Darja Donzowa soll gar einen Kriminalroman pro Monat produzieren.

Was tatsächlich hinter dem Boom steckt, und was reine Erfindung der Marketing-Abteilungen sind, spielt keine Rolle: Mit Krimis wird in Russland Geld verdient - richtiges Geld. Kein Wunder, dass manch deutscher Verleger aufgeregt mit den Hufen scharrt und sich seinen Teil vom einträglichen Kuchen sichern möchte. Russland als Themenschwerpunkt der diesjährigen Frankfurter Buchmesse hat den Prozess immens beschleunigt: Pünktlich zur umsatzstärksten Zeit des Buchmarktes werden jetzt auch hier so viele Autorinnen zu Königinnen und Zarinnen der russischen Kriminalliteratur erkoren, dass einem vor Superlativen ganz schwindelig wird. Tatsächlich entpuppt sich manch blaublütige Regentin allenfalls als Bettelprinzessin, die vielleicht im Luftschloss residiert, aber gewiss nicht ins Pantheon der Kriminalliteratur gehört. Vorweg: Trotz Mega-Auflagen in der Heimat, braucht die russische Kriminalliteratur gewiss noch ein paar Jahre, um auch internationalen Standards zu genügen.

Der süße Duft des Blutes Ziemlich ungeschickt stellt sich etwa Tatjana Stepanowa mit ihrem Roman »Der süße Duft des Blutes« an. Die Stepanowa versucht sich im Subgenre des "Serienkiller-Romans" und eiert mit überdrehten, nichtsdestotrotz konturlosen und uninteressanten Figuren durch eine spannungsfreie Mordgeschichte im Theater-Milieu. Der Moskauer Polizist Nikita Kolossow und die Polizeireporterin Katja Petrowskaja ermitteln in mehreren Fällen, in denen junge Schauspielerinnen getötet werden - mit einem unbekannten Gegenstand aufgespießt wie Schmetterlinge. In eher schlichter Erzählperspektive folgt die Autorin ihren beiden Hauptfiguren und blendet wechselweise zu einer bizarren Theater-Truppe, die an einer eigenwilligen Interpretation des Oscar Wilde-Stücks Salomé arbeitet. Der Zusammenhang zwischen den Morden und der Künstlergruppe ist schnell hergestellt, aber wer die Auflösung wissen will, muss sich durch fast vierhundert zähe Seiten arbeiten. Nach vollbrachter Quälerei hält sich die Überraschung in engen Grenzen.

Tod in der Datscha Komplexer ist der Roman »Tod in der Datscha« von Anna Malyschewa, in dem das Gemälde eines weitgehend in Vergessenheit geratenen Malers eine entscheidende Rolle spielt. Die junge Restauratorin Sascha gerät in arge Bedrängnis, als sie ein in eigenwilliger Technik gefertigtes Bild zerstört, das sie wiederherstellen sollte. Der Künstlerin, der ob der Fehltritte ihres Ehemannes finanziell das Wasser ohnehin schon bis zum Halse steht, droht eine Vertragsstrafe von zehntausend Dollar. Um das Bild zu erneuern, macht sich Sascha auf die Suche nach dem verschollenen Maler und stolpert über die Leiche seiner Ehefrau und seines Sohnes. Nach etwa einhundertfünfzig Seiten schlichtester Heftchenprosa, zickigen Dialogen ("warf sie ihm hin", "äußerte Sascha nachdenklich", "erläuterte der Kommissar höflich") und backfischiger Erzählperspektive (die Gedanken der Figuren stehen in Anführungszeichen, als redeten sie mit sich selbst), kurz bevor man das Buch entnervt in die Ecke pfeffert und mit der Belletristik im Allgemeinen und der Kriminalliteratur im Besonderen abschließen möchte, macht die Malyschewa einen Schnitt und blendet in die zweite Hälfte der Siebziger Jahre zurück - in die Zeit, in der das zerstörte Gemälde entstand. Nun endlich verdichtet sich die Handlung und erste Umrisse dessen, was die Autorin eigentlich zu erzählen beabsichtigt, werden erkennbar. Sogar ein Hauch von Atmosphäre kommt auf, als Malyschewa von vier jungen Menschen berichtet, die in jenen Sommertagen ihre erste Liebe mit dem dazugehörigen Leiden durchleben, und einem weiteren Mädchen, das seit der Zeit spurlos verschwunden ist. Richtig berührt wird der Leser allerdings kaum - dafür ist die Diskrepanz zwischen einer ambitioniert konstruierten Geschichte und den begrenzten sprachlichen Möglichkeiten der Autorin (oder des Übersetzers) zu groß.

Der unschuldige Mörder Während sich Anna Malyschewa an einer Tragödie verhebt, hat Darja Donzowa an einer Komödie kräftig zu stemmen. Als hätte sie tief in die Mottenkiste der Kriminalliteratur gegriffen, werden in Donzowas Roman »Der unschuldige Mörder« Figuren mit äthergetränkten Tüchern betäubt, und männliche Schauspieler spielen weibliche Rollen so perfekt, dass selbst der Lebensgefährte der gedoubleten Dame den Fake nicht bemerkt. Du glückliches Russland!, möchten man ausrufen, von den Zwängen des Sowjetsystems und jeglicher Logik befreit! Dazu eine überkandidelte weiblich Hauptfigur, die nach Belieben zwischen Moskau und Paris rumjettet und mit amerikanischen Banknoten nur so um sich wirft.

Bei aller Realitätsferne besitzt Darja Donozwas Roman einen gewissen Charme, so dass eine fahrige Geschichte nicht zur Pein verkommt, sondern immerhin befriedigenden Unterhaltungswert hat: Dascha Wassiljewa hat vier Kinder aus gescheiterten Ehen, von denen keins ihr eigenes ist. Die Blagen, ungezählte Haustiere und gleich zwei Schwiegermütter sorgen dafür, dass es im Heim so chaotisch zugeht wie in der Villa Kunterbunt. Viel Gelegenheit, dem häuslichen Chaos zu entgehen, bietet sich für die Amateurdetektivin, als ihr dritter Ex-Mann Maxim beschuldigt wird, seine siebte Ehefrau gemeuchelt zu haben. Dascha macht sich auf die Suche nach einer wichtigen Zeugin, fahndet nach dem Verbleib von einer Million Dollar und sitzt in ihrer forschen Art alsbald bei einem Paten auf dem Schoß, der den Eier-Handel in der Hauptstadt kontrolliert und die kühne Detektivin unter seine Protektion stellt. Entspannung findet Dascha zwischenzeitlich nur noch bei ihren Schlafstunden in den Tempeln der Moskauer Hochkultur.

Darja Donzowa ist mit ihrem Roman »Der unschuldige Mörder« gewiss kein rüttelfestes Buch gelungen, denn Dramaturgie und Plausibilität bewegen sich unter dem durchschnittlichen Niveau des Genres, aber immerhin ein launiger Text. Von einer Janet Evanovich etwa, die wie die Donzowa flapsige Krimis mit einer gehörigen Portion Humor schreibt, ist die russische Autorin jedoch noch meilenweit entfernt.

Russische Orchidee Mit ihrer Fabulierfreude, ihren scharfen Beobachtungsgabe und bissigen Kommentaren gehört Polina Daschkowa zu den besten Erzählerinnen der aktuellen russischen Kriminalliteratur. Den Rang belegt auch ihr jüngster Roman »Russische Orchidee« - mit Vorbehalt, denn die Daschkowa knüpft an so vielen Enden rum, dass der Leser am Schluss ein wenig ratlos an mehreren Stoffen wiederkäut.

Los geht's mit einem Mord an einem schmierlappigen russischen Moderator, der in seiner krawalligen Fernsehshow am liebsten das Sex-Leben der Prominenz ausbreitet. Beschuldigt wird ein Geschäftsmann, der praktischerweise gleich neben der Leiche schlief. Allein Untersuchungsführer Ilja Borodin vertraut nicht auf die Gunst der Umstände. Derweil gerät eine andere russische Journalistin im kanadischen Montréal langsam und unerbittlich in die glitschigen Hände eines Erpressers, der ihr mit pornographischem Bildmaterial zu Leibe rückt. In Moskau wirft sich die suizidgefährdete Geliebte eines Milizhauptmanns, der nicht ganz freiwillige Verbindungen zur Organisierten Kriminalität unterhält, im Auftrag ihres Mannes an den Hals des stellvertretenden Finanzministers.

Zusätzlich zu den Hautpsträngen, die diverse Nebenverästelungen austreiben, sich in mehreren Punkten berühren, aber nicht bedingen, erzählt die Daschkowa von zwei Diamanten: Der eine, 1701 in Indien gefunden, hat mit den anderen Geschichten, die Daschkowa vorträgt, rein gar nichts zu tun. Der andere Edelstein hingegen, der der Legende nach im 19. Jahrhundert von einer Henne im Ural gelegt wurde, hat wiederum mit allen Geschichten zu tun - irgendwie, ein bißchen jedenfalls.

Daschkowas Episoden sind so kunstvoll erzählt, dass man sich richtig in den Roman reinbeißt. Auch steigert der lockere Zusammenhang zwischen den einzelnen Begebenheiten viel mehr die Spannung als ein logischer Holzhammer. Aber es fehlt ein Schluss, der alles (und alle) unter einen Hut bringt - es fehlt ein Ende, das die vorher so stilsicher aufgebaute Spannung wirklich löst. Schade, aber Polina Daschkowa ist eine der Autorinnen, die man im Auge behalten sollte.

Ein Püppchen für das Ungeheuer Die spannendste und wagemutigste Krimi-Dame ist Viktoria Platowa mit einer eigenwilligen Serie, die eigentlich eher ein Fortsetzungsroman ist: In bisher drei Büchern erzählt Platowa von einer jungen Frau, die eine wunderliche Mutation durchlebt: von einer grauen Maus zu einem atemberaubend schönen, rothaarigen Racheengel, der den Tod ihrer Freunde von der Filmhochschule sühnt. Ein Unfall, bei dem sie vorübergehend ihr Gedächtnis verliert, leitet die nächste Stufe ein: Unter der Fittiche eines Geheimdienstmannes verwandelt sie sich in eine sich selbst verleugnende Wunderwaffe - in eine Mischung aus Mata Hari und Modesty Blaise, allerdings in äußerst zwielichtiger Mission. Im dritten Roman ist die ruchlose Superagentin zu einer frühzeitig ergrauten Frau mit stumpfen Augen verwelkt, die ohne feste Identität und Existenz versucht, so etwas ähnliches wie ein bürgerliches Leben zu führen. Ihr bescheidenes Dasein ist bedroht, als am Set einer Filmproduktion, bei der sie als Casting-Assistentin anheuerte, die Hauptdarstellerin erstochen und sie selbst gezwungen wird, bei der Vertuschung des Mordes tatkräftig zu helfen.

Klingt trashig? - Ist es auch, aber die Platowa inszeniert ihre Geschichte so suggestiv, dass die Romane zu einem der besonderen Leseerlebnisse des Jahres werden. Die Hauptfigur, die mit jeder Stufe ihrer Wandlung einen neunen Namen erhält (besser vielleicht: eine neue Bezeichnung), ist eine durch und durch abstrakte Kunstfigur. Doch Platowa zeichnet sie von einer Einsamkeit, die einem das Herz zusammenschnürt, und gleichzeitig von einem unbändigen Überlebenswillen, der sich in sarkastischen und zum Brüllen komischen Dialogen entlädt. Da ist kein Platz für Sentimentalität, höchstens für Erinnerung - und für körperliche Qualen, mit denen die Autorin ihre Hauptfigur peinigt, dass auch der Leser an die Grenzen des Erträglichen stößt.

Platowas Romane, die man dringend in der Reihenfolge lesen sollte, in der sie erschienen sind, gehen unter die Haut und setzten sich dort lange fest. Höchst eigenwillige Spannungsliteratur, die, soweit ich sehe, so ihresgleichen sucht.

 

© j.c.schmidt, 2003

 

Alexandra Marinina, eine weitere "Zarin" der neuen russischen Kriminalliteratur, hatten wir in einer separaten Besprechung unter dem Titel Pragmatische Bestandsaufnahme gewürdigt.

 

Tatjana Stepanowa: Der süße Duft des Blutes. (Zvezda na odnu rol', 1998). Thriller. Aus dem Russischen von Margret Fieseler. Deutsche Erstausgabe. Bergisch Gladbach: Bastei-Verlag Lübbe, 2003, 382 S., 7.90 Euro (D)

Anna Malyschewa: Tod in der Datscha. (Otravlennaja zizn', 1999). Roman. Aus dem Russischen von Olaf Terpitz. Deutsche Erstausgabe. München: btb bei Goldmann, 2003, 480 S., 9.50 Euro (D).

Darja Donzowa: Der unschuldige Mörder. (Zhena moego muzha, 2000). Roman. Aus dem Russischen von Judith Elze. Deutsche Erstausgabe. München: btb bei Goldmann, 2003, 382 S., 21.90 Euro (D)

Polina Daschkowa: Russische Orchidee. (Efirnoje wremja, 1999). Roman. Aus dem Russischen von Margret Fieseler. Deutsche Erstausgabe. Berlin: Aufbau-Verlag, 2003, 435 S., 20.00 Euro (D)

Viktoria Platowa: Die Frau mit dem Engelsgesicht. (V tichom omute). Roman. Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova. und Ingolf Hoppmann. Deutsche Erstausgabe. Berlin: Aufbau-Taschenbuch Verlag, 2002, 404 S., 8.50 Euro (D)

Viktoria Platowa: Ein Püppchen für das Ungeheuer. (Kukolka dlja monstra). Roman. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungard. Deutsche Erstausgabe. Berlin: Aufbau-Taschenbuch Verlag, 2003, 311 S., 8.50 Euro (D)

Viktoria Platowa: Die Diva vom Gorki-Park. (Esafot zabvenija). Roman. Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova. und Ingolf Hoppmann. Deutsche Erstausgabe. Berlin: Aufbau-Taschenbuch Verlag, 2003, 355 S., 8.50 Euro (D)

 

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