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Yasmina Khadra: Herbst der Chimären

Eine Leseprobe, mit freundlicher Genehmigung des Haymon Verlags.

 

Ich werde dich ausspeien aus meinem Munde.
Du (...) weißt nicht, daß du bist elend und jämmerlich,
arm, blind und bloß.

Apokalypse des Johannes 3, 16-17

 

1 (Auszug)

Herbst der Chimären Von allen Genies auf Erden widerfährt den unseren die größte Schmach. Sie sind die Stiefkinder der Gesellschaft. Von den einen werden sie verfolgt, von den anderen verkannt. Ihr Leben ist, solange es währt, eine dramatische Hetzjagd durch die Abgründe der Willkür und Absurdität. Wer nicht der Stahlklinge zum Opfer fällt, wird vom Bannstrahl sozialer Ächtung getroffen oder geht an Verbitterung zugrunde. Verendet im Irrenhaus oder im Nirgendwo, um das Haupt eine Dornenkrone, die Adern zerstört vom Alkohol. Und der Moment, da man ihn bestattet, ist der einzige Moment, da je Bericht über ihn erstattet wird. Sein Mausoleum ist im erstbesten Friedhof das erstbeste Grab, sein Ruhm gründet allein in der Kühnheit, mit der er es wagte, Talent zu zeigen zu Zeiten, da nur zu Ehren kam, wer nicht den geringsten Funken Genie besaß.
    Arezki Naït-Wali ist ein Genie. Der Beweis? Er hat sich in einer Sackgasse in den Tiefen Bab El-Oueds (1) verkrochen, hinter dem Geplärr der Kinderhorden und den Wäschebergen wimmelnder Familienclans. Hätte er andernorts das Licht der Welt erblickt, hätte sein Ruhm vermutlich hell wie tausend Sonnen gestrahlt. Hier aber gilt er als Schattengestalt.
    Ein Wohnhaus, das nur so starrt vor Schmutz, ein Treppenhaus, das ausschaut wie eine öffentliche Bedürfnisanstalt, und schon kommt hinter der Tür mit der Nummer 13 ein ärmlicher Greis hervor, zittrig und schlotternd wie Aspik.
    Arezki hat den tragischen Gesichtsausdruck der algerischen Intellektuellen. Ein bleiches Gespenst mit zwei Augen, daß es einem das Herz durchbohrt, dazu die Hände eines Gefolterten.
    »Wie hast du es geschafft, mich hier zu finden?«
    »Ich habe die Fundamentalisten nach dem Weg gefragt.«
    Er lächelt, wobei seine Nase, die ohnehin schon Halbmast zeigt, sich fast ganz über seinen Mund herabsenkt. Er weicht beiseite wie ein schlaffer Vorhang. Hätte ich die Wahl zwischen ewigen Höllenqualen und dem Anblick des Elends, der sich da vor mir auftut, im Interesse meines Seelenfriedens zögerte ich keine Sekunde, für alle Zeiten in der Hölle zu schmoren.
    »Meine Putzfrau ist krank«, flunkert er mich an, um das Gesicht zu wahren.
    Mir fällt nichts ein, was ich sagen könnte, um das meine zu wahren.
    Mein Schweigen ist für uns beide peinlich. Er blickt sich um, als gäbe es da etwas, an dem er sich festhalten könnte, entdeckt in einer zugemüllten Zimmerecke ein Bündel, nimmt es unauffällig an sich und macht mir ein Zeichen, daß er startklar ist.
    Ich nicke und sage: »Ich warte im Auto auf dich.«

Wir durchqueren, ohne es zu merken, die ganze Stadt, ich nervös auf mein Lenkrad eintrommelnd, er mit seinem Bündel im Arm. Nicht ein einziges Mal bekundet er Interesse für das Menschengewühl, das ziellos die Gehwege überflutet, noch für die Autofahrer, die uns rücksichtslos in wildem Slalom überholen. Zusammengesunken sitzt er da, sein Blick klebt an der Windschutzscheibe, seine Lippen sind wie vernarbt. Trotz der glühenden Sommerhitze hat er noch nicht mal daran gedacht, die Scheibe herunterzukurbeln. Ich weiß nicht warum, doch als ich ihn so sehe, steigt plötzlich Groll gegen die ganze Welt in mir auf.
    Nach einer guten Stunde Fahrt, als wir eben in den Pfad der Verderbnis einbiegen, der weit von jeder überwachten Straße wegführt, höre ich, wie er den Griff um sein Bündel lockert. Ich spähe aus den Augenwinkeln nach ihm, warte auf eine Reaktion. Ich hatte gedacht, er würde auf das Armaturenbrett einschlagen oder den Boden des Fahrzeugs mit Tritten traktieren, doch nicht die geringste brüske Bewegung. Nur sein Adamsapfel zuckt im kahlen Hals auf und ab, dann, Sekunden später, klingt seine Stimme in einem pathetischen Gurgeln auf: »Hat er sehr gelitten?«
    »Andere haben Schlimmeres durchgemacht.«
    Sein Atem gerät einen Moment aus dem Takt, wird wieder regelmäßig. »Ich habe dich gefragt, ob er gelitten hat!«
    »Jetzt leidet er nicht mehr.«
    »Schußwaffe?«
    »Das macht ihn auch nicht wieder lebendig.«
    Plötzlich sind seine Hände auf dem Lenkrad und nötigen mich zu einer Vollbremsung am Straßenrand.
    »Ich will es wissen!«
    Ich stoße ihn wütend auf seinen Sitz zurück. »Was willst du wissen, Arezki Naït-Wali? Liest du keine Zeitungen, hörst du kein Radio? Wir sind im Krieg. Dein Bruder ist tot, Punkt und Schluß.«
    Er umklammert wieder sein Bündel, starrt weiter auf die Windschutzscheibe. Eine Minute lang versucht er, dem Beben seiner Kinnspitze Einhalt zu gebieten. »Ich möchte es auf keinen Fall erst im Dorf erfahren, Brahim. Für mich ist es wichtig, hier und jetzt Klarheit zu haben.«
    Er seufzt, und in diesem Seufzen liegt so viel an Kummer und Leid, daß meine Hand sich wie von selbst auf seine legt.
    Ich nehme all meinen Mut zusammen, bevor ich antworte: »Klinge.«
    Mir ist, als könnte ich die Explosion wahrnehmen, die ich tief in ihm drin ausgelöst habe. Langsam, ganz langsam schrumpft er zusammen, wird so klein, daß ich den Eindruck habe, ich könnte ihn von Kopf bis Fuß mit meiner hohlen Hand umfangen.
    »Neiiin!« Aufstöhnend läßt er sich nach hinten fallen.
    Und beginnt zu weinen.

 

* * *

Die Beerdigung findet auf dem alten Friedhof von Igidher (2) statt. Viele sind gekommen, wollten es sich nicht nehmen lassen, den Toten zu seiner letzten Ruhestätte zu geleiten. Aus der ganzen Gegend sind sie herbeigeströmt. Würdige Greise, stattliche Männer, junge Leute, sichtlich unter Schock.
    Idir Naït-Wali war keiner von den Notabeln. Gewiß, er hatte einen der bedeutendsten Maler des ganzen Landes zum Bruder, gewiß, sein Name erhob den Stamm in den Rang einer Nation, doch als Philosoph, der um den Wahn weltlicher Eitelkeit wußte, war es ihm gelungen, eine aufrechte, zurückhaltende Gestalt zu bleiben, wie schon sein Vater, sein Großvater und seine Ahnen es gewesen waren. Ein geborener Hirte und unrettbarer Träumer, Künstler nach Lust und Laune und Krieger wider Willen. Sein Leben spielte sich im Schatten seiner Ölbäume ab, nie sah man ihn anders als mit dem Turban auf dem Kopf und der Flöte in Reichweite seiner Seufzer. Er besaß rund zwanzig Schafe, denen er hingebungsvoll beim Grasen zusah, ein Fleckchen Land am Ausgang vom Dorf und die warme Zuneigung der Seinen. Er war primitiv, weil er authentisch war, und seine Tage spulte er ab wie andere die Perlen an ihrem Rosenkranz, ohne Getue, ohne Tamtam, ohne weltbewegende Überzeugungen, überzeugt wie er war, daß das Glück ­ jedwedes Glück ­ eine Frage der Mentalität sei, weiter nichts.
    Gerade spricht der Imam: »Das schlimmste Unrecht, das man dem lieben Gott antun kann, besteht darin, jemandem das Leben zu nehmen. Denn nirgends zeigt sich die Großzügigkeit des Herrn eindrucksvoller als im Geschenk des Lebens.«
    Neben mir steht Arezki und reibt sich pausenlos die Hände an den Hüften trocken. Er hört nicht, was der Imam sagt, sieht nicht die Vögel, die sich in den verkümmerten Bäumen die Seele aus dem Schnabel schreien. Von Zeit zu Zeit fällt sein verstörter Blick auf den weißumhüllten Körper seines Bruders. Und erst dann faltet er, der so zerbrechlich und zerrupft aussieht, die Hände vorm Bauch und beugt das Genick noch einwenig mehr vornüber.
    Kaum sind die ersten Schaufeln Erde auf den Leichnam gefallen, hat Arezki sich schon abgewandt. Ich folge ihm bis zur Straße, durch die sich zahllose Risse ziehen, und weiter hinauf bis auf den Hügel, auf den er als Kind immer mit seinem Bruder lief, um von dort oben Echos über das zerklüftete Land zu werfen. Selbstvergessen lehnt er an einem Feigenbaum, einen Arm auf dem Stamm ausgestreckt, den Kopf gegen den Handrücken gestützt, selbstvergessen, eine Ewigkeit lang.
    Mir fehlen die Worte.
    Stumm verharren wir dort, zwischen Himmel und Erde, winzig und stumm, zwei Staubkörnern gleich. Um uns herum, so weit das Auge reicht, verwüstetes Land. Mein Blick fällt auf ausgedörrte Obstgärten, kahle Hügelkuppen und Geisterflüsse, die dabei sind, ihrer Verlassenheit von Gott und der Welt Gestalt zu geben. Am Fuß des Bergs, hinter seinen Elendshütten verschanzt, modert Igidher in der Sonne vor sich hin, undurchdringlich wie die Wege des Herrn. Meine Heimat ist nur noch ein unermeßlicher Schmerz...
    Hier bin ich geboren, vor sehr langer Zeit. Man nannte es die Zeit der Kolonien. Damals waren die Felder so unermeßlich weit, daß jenseits des Bergs, so schien es mir, das Nichts begann. Der Weizen stand mir bis zu den Schultern, und doch hatte ich ständig Hunger, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Ich verstand schon damals nicht, aber es war mir egal: Ich hatte das Glück, ein Kind zu sein. Wenn ich dem Flug der Libelle zusah und mir dabei selber Flügel wuchsen, wenn die Kaskaden meines Lachens ins plätschernde Wasser der Brunnen tropften, wenn ich wie toll durchs Farnkraut tobte, obwohl jeder Schritt wie ein Zweikampf war, wußte ich: ich war als Dichter geboren wie der Vogel als Sänger, und wie dem Vogel so fehlten auch mir nur die Worte, es zu sagen.
    Und heute, da verstehe ich noch immer nicht. Ich taste mich vorwärts wie ein Blinder im hellen Tageslicht. Zwar habe ich die Fesseln längst abgestreift, doch der Lorbeer des Freigelassenen ist mir wie eine Scheuklappe. Mein Prophetenblick hat jeden Halt verloren. Fast schäme ich mich für den Erwachsenen, der aus mir geworden ist, und erwarte mein Alter mit demselben Argwohn wie andere den Gerichtsvollzieher, denn die Dinge hienieden machen mich längst nicht mehr träumen.

Die Nacht zieht schwarzgallig über dem alten Stammland der Naït-Wali herauf. Einst ein wundervoller Augenblick. Die Sterne waren zum Greifen nah. Die heiligen Schutzpatrone der dechra* wachten über uns. Wir schauten dem Tanz der Irrlichter über der Öllampe zu und waren mit allen Dingen und Wesen versöhnt. Wir waren arm, aber nicht unglücklich, lebten für uns, aber nicht vereinsamt, waren ein Stamm und wußten, was das hieß. Die Faszination der Ferne, die Verheißungen der Großstadt, die lockenden Gesänge der Chimären..., nichts davon kam dem Schellenklang an den Hälsen unserer Ziegen gleich. Wir waren eine Rasse freier Männer, und wir hielten uns fern von der Welt, ihren Bestien und Höllenhunden, ihren Machern und Machenschaften, ihren Protesten und Manifesten, ihrem Industrielärm und ihrem Investitionsgeschrei...
    Heute hat der Abend sämtliche Lichter verschluckt. Schaudernd erbleichen die Sterne am Himmel von Igidher. Das Höllentier ist da. In der Stille des Untergrunds schickt es sich an, uns das Leben zu verdüstern.
    »He, Brahim, du stößt gleich mit einem Satelliten zusammen!«
    Ich schrecke hoch.
    Mohand läßt sich neben mich fallen, das Gewehr zwischen die Schenkel geklemmt. »Komm auf die Erde zurück, alter Freund«, fügt er hinzu. »Das Spiel läuft hier.«
    Er kramt eine Schachtel Zigaretten hervor, hält mir eine hin: »Rauchst du?«
    »Nein, danke.«
    Er betätigt das Feuerzeug, macht drei gierige Lungenzüge und atmet durch die Nase aus. Unten in der Ferne, am Fuß des Hügels, schimmert der Weiler Imazighène wie eine Ansammlung von Glühwürmchen.
    Ich lege einen Stein mit der Schuhspitze frei und befördere ihn in den Graben.
    Mohand dreht sich zu mir um, sucht meinen Blick. Er bläst mir seinen weingeschwängerten Atem ins Gesicht. »Schnupperst du wieder am Korken?«
    »Die Landluft ist auch nicht mehr, was sie mal war.«
    »Was genau ist passiert?«
    »Wir haben ihn in seinem Gemüsegarten gefunden, mit durchschnittener Kehle.«
    »Und weiß man, wer's war?«
    »Da muß man nicht lang suchen.«
    »Warum ausgerechnet Idir?«
    »Er war zufällig da, weiter nichts. Seit ein paar Tagen wird vor einer Gruppe von Marodeuren hier in der Gegend gewarnt. Sie haben sich den Erstbesten, der ihnen über den Weg lief, geschnappt. Ihre Art, uns wissen zu lassen: Hallo! Wir sind wieder da!«
    Mohand betrachtet das glühende Ende seiner Zigarette, bevor er sie auf einem Stein ausdrückt. Der Abendwind bläst die Funken durchs Gebüsch. Wir verstummen für einen Moment und lauschen dem nächtlichen Grillengezirpe.
    »Glaubst du, sie werden wiederkommen?«
    »Die sollen nur kommen, wir sind bereit.« Wieder sucht er meinen Blick. »Wie lange wird das noch so weitergehen, dieser Mummenschanz, Brahim?«
    »Das fragst du mich?«
    »Igidher ist nicht Algier. Hier hat man keine Zeit, das alles zu verstehen.«
    »Drüben in Algier weiß man auch nicht mehr, welchem Teufel man noch vertrauen kann. Es ist die Hölle, Mohand, ein heilloses Durcheinander, der größte Schwindel, den du dir nur vorstellen kannst.«
    Er stampft mit dem Gewehrkolben auf den Boden. »Was um alles in der Welt machen denn unsere Verantwortlichen?«
    Jetzt bin ich es, der sich zu ihm umdreht. Und was ich in seinen ausgemergelten Zügen lese, verstört mich gewaltig. Er ist verdammt alt geworden, der gute Mohand. Als ich ihn das letzte Mal sah, da hatte er kein einziges weißes Haar. Drei Jahre später, und schon auf der Schwelle zum Greisenalter. Hat mehr Falten als ein altes Pergament, und der Blick seiner Augen, der früher so packend war, brennt heute unerträglich.
    »Die Verantwortlichen? Welche Verantwortlichen? Meinst du die Komiker, die man in den Nachrichten sieht, diese hoffnungslosen Hanswürste? In unserem Land, Mohand, gibt es nichts als Schuldige und Opfer. Wenn du ein Problem hast, ist es dein Problem.«
    Meine Direktheit schockiert ihn. Er steht auf, umklammert wütend sein Gewehr und stapft mit gebeugtem Rücken davon. Ich sehe ihm nach, bis er die Piste erreicht. Ein ratloses Gespenst. Dann stehe ich ebenfalls auf, klopfe mir den Staub vom Hosenboden und gehe hinauf in den Patio, wo die Alten und Freunde einem gramerfüllten Arezki Beistand leisten.
(...)

 

Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe
© Haymon Verlag, 2001
Alle Rechte vorbehalten!

 

(1) wörtlich "Tor zum Fluß", Teil der Altstadt von Algier, sehr volkstümlich, Hort der Armut und Zentrum der Islamisten.

(2) Berberdorf in der Kabylei (östlich von Algier) - Kabylen (von arab. "qibla" = Stamm) heißen die algerischen Berber, die 20-30 Prozent der Gesamtbevölkerung Algeriens ausmachen. Sie gelten traditionell als "rebellisch" und stehen in Opposition zum totalitären Regime, das ihre sprachliche und kulturelle Besonderheit unterdrückt.

 

Viele gute Hintergrund-Informationen zu Yasmina Khadra und Algerien finden Sie in Beate Burtscher-Bechter: Bilder eines "unsichtbaren" Krieges, dem Nachwort zu Herbst der Chimären.
Außerdem können wir Ihnen noch eine Leseprobe aus Morituri anbieten.

 

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