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James Patterson: Der 1. Mord

Eine Leseprobe mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Random House.

 

1

Der 1. Mord Wunderschöne, langstielige rote Rosen füllten die Hotel-Suite - wirklich die perfekten Geschenke. Alles war perfekt.
      Irgendwo auf diesem Planeten mag es vielleicht einen noch glücklicheren Menschen geben, dachte David Brandt, als er die Arme um seine frisch angetraute Ehefrau Melanie schloss. Vielleicht irgendwo im Jemen - irgendeinen Allah preisenden Bauern mit einer zweiten Ziege. Aber auf keinen Fall in San Francisco.
      Das Paar blickte aus dem Fenster des Wohnzimmers in der Mandarin Suite des Grand Hyatt Hotels. In der Ferne sahen sie die Lichter von Berkeley, Alcatraz, die anmutige Silhouette der hell beleuchteten Golden Gate Bridge.
      »Es ist unglaublich«, sagte Melanie strahlend. »An diesem Tag würde ich nicht eine einzige Kleinigkeit ändern.«
      »Ich auch nicht«, flüsterte er. »Na ja, vielleicht hätte ich meine Eltern nicht eingeladen.« Beide lachten.
      Vor wenigen Momenten hatten sie sich im Ballsaal des Hotels von den letzten der dreihundert Gäste verabschiedet. Endlich war die Hochzeitsfeier zu Ende: die Reden, das Tanzen, die fotografierten Küsse über der Torte. Jetzt waren die beiden endlich allein und hatten den Rest ihres gemeinsamen Leben vor sich.
      David ergriff die zwei mit Champagner gefüllten Gläser, die er auf einem Lacktisch abgestellt hatte. »Ein Toast«, verkündete er, »auf den zweitglücklichsten Mann der Welt.«
      »Der zweitglücklichste?«, fragte sie und lächelte mit gespieltem Schock. »Wer ist denn der glücklichste?«
      Sie hakten einander unter und tranken genüsslich einen großen Schluck des köstlichen Getränks aus den Kristallgläsern. »Der Bauer mit den zwei Ziegen. Das erkläre ich dir später«, antwortete er.
      »Ich habe noch etwas für dich«, erinnerte sich David plötzlich. Er hatte ihr bereits den lupenreinen fünfkarätigen Diamanten an ihrem Finger geschenkt, den sie, wie er wusste, nur trug, um seinen Eltern eine Freude zu machen. Er ging zu seiner Smokingjacke, die er im Wohnzimmer über eine Stuhllehne gehängt hatte, und kam mit einem Schmuckkästchen von Bulgari zurück.
      »Nein, David«, protestierte Melanie. »Du bist mein Geschenk.«
      »Mach's trotzdem auf«, sagte er. »Das gefällt dir bestimmt.«
      Sie nahm den Deckel ab. Auf Samt lagen zwei Ohrringe: Große Silberringe umschlossen zwei winzige mit Brillanten besetzte Monde.
      »Die zeigen, wie ich dich sehe«, meinte er.
      Melanie hielt sich die Monde an die Ohrläppchen. Sie waren vollkommen - genau wie sie.
      Sie küssten sich, und er zog den Reißverschluss ihres Kleides auf, bis der Ausschnitt über ihre Schultern herabglitt. Er küsste ihren Hals, dann den Busenansatz.
      Jemand klopfte an die Tür der Suite.
      »Champagner«, rief eine Stimme draußen.
      Einen Moment lang erwog David zurückzurufen: »Stellen Sie ihn einfach ab!« Den ganzen Abend hatte er sich schon danach gesehnt, das Brautkleid von den weichen weißen Schultern seiner Frau zu ziehen.
      »Ach, mach schnell auf«, sagte Melanie und ließ die Ohrringe vor seinem Gesicht baumeln. »Ich lege die inzwischen an.«
      Sie entwand sich seiner Umarmung und ging zum Badezimmer der Mandarin-Suite. In ihren schönen braunen Augen strahlte ein Lächeln. O Gott, wie sehr liebte er diese Augen!
      Als David zur Tür ging, dachte er, dass er mit niemandem auf der Welt tauschen wollte. Nicht einmal für eine zweite Ziege.

 

2

Phillip Campbell hatte sich diesen Moment, diese fantastische Szene unzählige Male ausgemalt. Er war sicher, dass der Bräutigam ihm die Tür öffnen würde. Und so war es auch. Er betrat die Suite.
      »Herzlichen Glückwunsch«, sagte Campbell und überreichte den Champagner. Er starrte den Mann im offenen Smokinghemd und der lose baumelnden schwarzen Schleife an.
      David Brandt würdigte ihn kaum eines Blickes, als er die mit einer bunten Schleife geschmückte Schachtel inspizierte. Krug. Clos du Mesnil, 1989.
      »Was ist das Schlimmste, was je ein Mensch verbrochen hat?«, murmelte Campbell vor sich hin. »Bin ich dazu imstande? Habe ich genügend Mut?«
      »War eine Karte dabei?«, fragte der Bräutigam und wühlte in der Tasche nach dem Trinkgeld.
      »Nur das hier, Sir.«
      Campbell trat vor und stieß dem Bräutigam ein Messer tief in die Brust, zwischen die dritte und vierte Rippe, der kürzeste Weg zum Herzen.
      »Für den Mann, der alles hat«, sagte Campbell. Mit einem Fußtritt schloss er schnell die Tür. Dann drehte er David Brandt herum, drückte ihn gegen die Tür und trieb die Klinge noch tiefer hinein.
      Der Bräutigam verkrampfte sich in einer Zuckung aus Schock und Schmerz. Aus seiner Brust drangen gurgelnde Geräusche, keuchende Atemzüge. Ungläubig traten seine Augen aus dem Kopf.
      Das ist verblüffend, dachte Campbell. Er konnte spüren, wie die Kraft aus dem Opfer herausfloss. Der Mann hatte soeben einen der glücklichsten Augenblicke seines Lebens erlebt, und jetzt - nur Minuten später - starb er.
      Warum?
      Campbell trat zurück, und der Körper des Bräutigams sank auf dem Boden zusammen. Der Raum legte sich wie ein Schiff auf die Seite. Dann drehte sich alles um ihn und wurde undeutlich. Er hatte das Gefühl, als sähe er eine alte Wochenschau mit zuckenden Bildern. Beeindruckend. Gar nicht so wie er es erwartet hatte.
      Campbell hörte die Stimme der frisch gebackenen Ehefrau und war so geistesgegenwärtig, die Klinge aus David Brandts Brust zu ziehen.
      Dann ging er ihr rasch entgegen, um sie abzufangen, als sie, immer noch in ihrem langen Spitzenkleid, aus dem Badezimmer kam.
      »David?«, fragte sie. Bei Campbells Anblick verwandelte sich ihr erwartungsvolles Lächeln in einen Ausdruck des Schocks. »Wo ist David? Wer sind Sie?«
      Ihre Augen wanderten voll Entsetzen über ihn und blieben auf seinem Gesicht und der Messerklinge haften. Dann sah sie ihren Mann auf dem Boden.
      »O mein Gott! David!«, schrie sie. »David, o David!«
      Campbell wollte sich immer so an sie erinnern. Dieser erstarrte Blick aus weit aufgerissenen Augen. Die Hoffnung und die Verheißung, die soeben noch darin geglänzt hatten, waren jetzt erloschen.
      Die Worte strömten aus seinem Mund. »Sie wollen wissen, warum? Nun, ich auch.«
      »Was haben Sie getan?«, fragte Melanie heiser. Sie bemühte sich, dies alles zu begreifen. Ihre verschreckten Augen huschten hin und her und suchten nach einem Fluchtweg.
      Unvermittelt stürzte sie zur Tür. Campbell erwischte sie am Handgelenk und setzte ihr das Messer an die Kehle.
      »Bitte«, wimmerte sie mit starrem Blick. »Bitte, bringen Sie mich nicht um.«
      »In Wahrheit, Melanie, bin ich hier, um Sie zu retten.« Er lächelte in ihr zitterndes Gesicht.
      Campbell senkte die Klinge und stach zu. Mit einem Aufschrei bäumte sich ihr zierlicher Körper auf. Ihre Augen flackerten wie schwache Glühbirnen. Ein Todesröcheln entrang sich ihrer Kehle. Warum?, flehten ihre Augen. Warum?
      Er brauchte eine volle Minute, um wieder atmen zu können. Der Geruch von Melanie Brandts Blut war tief in seiner Nase. Beinahe konnte er nicht fassen, was er getan hatte.
      Warum?
      Er trug die tote Braut zurück ins Schlafzimmer und legte sie aufs Bett. Sie war wunderschön, mit feinen Gesichtszügen. Und so jung. Er erinnerte sich daran, wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte und wie sehr sie ihn damals fasziniert hatte. Sie hatte geglaubt, die ganze Welt läge ihr zu Füßen.
      Er rieb die Handfläche gegen die weiche Oberfläche ihrer Wange und umschloss einen Ohrring mit den Fingern - einen lächelnden Mond.
      »Was ist das Schlimmste, das jemals jemand getan hat?«, fragte sich Phillip Campbell wieder. Das Herz hämmerte in seiner Brust.
      Dies hier? Hatte er es soeben vollbracht?
      »Noch nicht«, antwortete ihm eine innere Stimme. »Noch nicht ganz.«
      Langsam hob er das wunderschöne weiße Brautkleid hoch.

 

3

Es war kurz vor halb neun an einem Montagmorgen im Juni, einem jener kühlen, grauen Sommermorgen, für die San Francisco berühmt ist. Diese Woche fing für mich nicht gut an. Ich blätterte alte Ausgaben des New Yorker durch, während ich darauf wartete, dass mein Hausarzt, Dr. Roy Orenthaler, mich hereinrief.
      Ich ging zu Dr. Roy, wie ich ihn manchmal nannte, seit ich an der San Francisco University Soziologie studiert hatte. Jedes Jahr kam ich gehorsam zur Untersuchung. Das war am vergangenen Dienstag gewesen. Überraschenderweise hatte er mich am Ende der Woche angerufen und mich gebeten, heute vor Dienstbeginn vorbeizukommen.
      Vor mir lag ein arbeitsreicher Tag: zwei offene Fälle und eine schriftliche Zeugenaussage vor dem Bezirksgericht. Ich hoffte, um neun Uhr an meinem Schreibtisch zu sein.
      »Ms. Boxer«, sagte endlich die Sprechstundenhilfe. »Der Doktor hat jetzt Zeit für Sie.«
      Ich folgte ihr in sein Büro.
      Üblicherweise begrüßte Dr. Orenthaler mich mit einem fröhlichen, gut gemeinten Seitenhieb auf meine Polizeiarbeit, wie »Also, wenn Sie hier sind, wer jagt dann die Verbrecher auf den Straßen?« Ich war jetzt vierunddreißig und seit zwei Jahren Inspector bei der Mordkommission im Justizpalast.
      Heute jedoch erhob er sich steif und sagte nur mit ernster Miene: »Guten Morgen.«
      Dann bat er mich, auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz zu nehmen. O-o!
      Bis dahin war meine Philosophie über Ärzte recht einfach: Wenn einer von ihnen einen mit diesem tiefen, besorgten Blick bat, Platz zu nehmen, konnten drei Dinge passieren. Nur eines davon war schlimm. Entweder wollten sie mit einem ausgehen, einem eine schlimme Nachricht schonend beibringen oder sie hatten gerade ein Vermögen dafür ausgegeben, die Couch neu beziehen zu lassen.
      »Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, begann Orenthaler. Er hielt ein Dia gegen das Licht und deutete auf Ansammlungen winziger, schemenhafter Kugeln in einem Strom kleinerer Kügelchen. »Das ist eine Vergrößerung des Blutabstrichs, den wir von Ihnen genommen haben. Die größeren Kugeln sind Erythrozyten. Rote Blutkörperchen.«
      »Die sehen recht zufrieden aus«, scherzte ich nervös.
      »Die schon, Lindsay«, erwiderte der Arzt ohne die Spur eines Lächelns. »Das Problem ist, dass Sie nicht viele davon haben.«
      Ich hing wie gebannt an seinen Augen und hoffte, sie würden sich entspannen und wir könnten zu Trivialerem übergehen, wie »Sie sollten lieber anfangen, die langen Überstunden abzubauen.«
      »Diesen Zustand nennt man aplastische Anämie«, fuhr Orenthaler fort. »Das ist sehr selten. Im Grunde handelt es sich darum, dass der Körper nicht mehr genügend rote Blutkörperchen produziert.« Er hielt ein Foto hoch. »So sieht ein normales Blutbild aus.«
      Auf dem Bild sah der dunkle Hintergrund aus wie die Kreuzung von Market und Powell Street um siebzehn Uhr: Ein Verkehrsstau komprimierter Energiekügelchen. Eilboten, die alle Sauerstoff in die Körperteile eines anderen Menschen schafften. Mein Bild dagegen sah so belebt aus wie das Hauptquartier einer Partei zwei Stunden, nachdem der Kandidat das Handtuch geworfen hatte.
      »Das kann doch aber behandelt werden, richtig?«, fragte ich ihn. Eigentlich befahl ich es ihm.
      »Man kann es behandeln«, antwortete Orenthaler nach einer Pause. »Aber es ist sehr ernst.«
      Vor einer Woche war ich nur zu ihm gekommen, weil meine Augen trieften und verschwollen waren und ich in meinem Slip Blut entdeckt hatte. Außerdem überfiel mich jeden Tag gegen drei Uhr nachmittags bleierne Müdigkeit, als würde irgendein an Eisenmangel leidender Zwerg mir Energie aussaugen. Und das mir, die ich regelmäßig zwei Schichten und vierzehn Stunden am Tag arbeitete. Sechs Wochen Urlaub hatte ich schon angesammelt.
      »Und wie ernst ist mein Zustand genau?«, fragte ich mit unsicherer Stimme.
      »Rote Blutkörperchen sind für den Prozess der Oxygenierung lebenswichtig«, fing Orenthaler an. »Hämatopoese, die Bildung roter Blutkörperchen im Rückenmark.«
      »Dr. Roy, das hier ist keine medizinische Tagung. Bitte, sagen Sie mir, wie ernst es ist.«
      »Was wollen Sie hören? Diagnose oder Chancen?«
      »Ich möchte die Wahrheit hören.«
      Orenthaler nickte. Er stand auf, kam um den Schreibtisch herum und nahm meine Hand. »Also, dann die Wahrheit, meine Liebe. Was Sie haben, ist lebensbedrohlich.«
      »Lebensbedrohlich?« Mir stockte das Herz. Meine Kehle war so trocken wie Pergament.

 

Aus dem Amerikanischen von Edda Petri.
© Verlagsgruppe Random House, 2003
Alle Rechte vorbehalten!

 

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