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Eric Ambler und die Poetik des Pragmatischen

Von Thomas Wörtche

 

Willkommen in der vieldeutigen Welt von Eric Ambler!
Den ersten seiner 18 Romane, die allesamt Schubladendenken über Polit-Thriller, Spionageromane und andere Kategorien ins definitorische Delirium treiben, hat er 1936 veröffentlicht. Den bisher letzten 1981 - und ich wage nicht zu hoffen, daß er mit nunmehr 87 Jahren noch einen neuen schaffen wird, obwohl gerade zu lesen war, ein neues Werk "stünde" zur Hälfte. Wie dem auch sei, diese 18 Romane reichen aus, um ihn zu einer zentralen Gestalt des 20. Jahrhunderts zu machen.

Das ist er nicht nur, weil er den sogenannten Polit-Thriller nach den eher rustikalen Anfängen von Erskine Childers, William LeQueux oder John Buchan (der übrigens raffinierter ist, als man heutzutage anzunehmen geneigt ist ) zu einer wichtigen Form der Gegenwartsliteratur gemacht hat. Ohne Ambler kein John Le Carré, kein Freddie Forsyth, kein Robert Ludlum und letztlich kein Tom Clancy. Diese absteigende Linie nur, um darauf aufmerksam zu machen, daß sich die Wirkmächtigkeit einer Schlüsselfigur auch (und gerade) an ihren trivialsten Nachfolgern bemißt. Mit anderen Worten: Ein großer Teil der heutigen Bestsellerei müßte eigentlich Copyright-Tantiemen für eine Idee an Ambler überweisen.

"Ambler und immer wieder Ambler" pflegte nicht ohne Grund Ross Thomas in Interviews auf die unvermeidliche Frage nach seinen literarischen Einflüssen zu predigen. Er meinte damit auch, man solle immer mal wieder bei Ambler nachlesen, bevor man irgendwas als innovativ oder kühn oder originell feiert, was gerade die feuilletonistische oder zeitgeistjournalistische Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.

Ambler und immer wieder Ambler auch bei einer ganzen Reihe von Debatten, die mittlerweile schon zum hundersten Mal von vorne geführt werden. So, als habe es ihn selbst nie gegeben. Überall, wo es um Realität und Fiktion geht, um Realismus und Realität, um Spiel, Schein und Trug, um das Gerangel, wer über die "Wirklichkeit" verfügt, wer die "Wirklichkeit" macht, wer die Macht hat, sie zu interpretieren - überall da wird man auf Amblersche Spuren stoßen. Und wenn sie noch so verschüttet sein sollten.

Verschüttet (oder zugebuddelt?), weil Amblers Romane Eigenschaften in sich vereinen, die zusammengenommen wohl für eine gewisse Sorte von Lesern und Verächtern so unerträglich sind, daß man sie gleich lieber wieder verdrängt, anstatt sie zu genießen. Sie sind extrem unterhaltsam und vergnüglich, spannend und komisch, wütend engagiert und von ironischer Distanz. Sie erzählen kunstvoll gebaute Geschichten aus manchmal exotischen Gegenden, sie sind von unerhörter gedanklicher Präzision und Schärfe, ihre Sprache ist so klar wie die Gedanken, die sie vermittelt. Ihre ideologische Basis ist die lebenspraktische Vernunft, ein robuster, wenngleich bis ins Letzte reflektierter Pragmatismus.

All diese vorzüglichen Eigenschaften benutzt Ambler allerdings dazu, in den Köpfen seiner Leser Verwirrung zu stiften, Zweifel und Skepsis, ja Desorientierung der sozialen und ethischen Art. Gegenüber einem Denken nämlich, das Gewißheiten und feste Weltbilder durchsetzen möchte oder auf solchen basiert. Also gegen alle Autoritäten und auf allen Gebieten, wozu selbstverständlich auch Ästhetik und Moral gehören. Deswegen ist Amblersches Denken immer präsent, wenn demokratische, also unbequeme Tugenden gefragt sind. Ob wir es gerade wahrnehmen oder nicht. (...)

 

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Man kann das 20. Jahrhundert, zumindest die zweite Hälfte (und Ausschnitte der ersten) mit den Augen Eric Amblers betrachten. Es spricht vieles dafür, daß wir das auch tun. Das heißt nicht, daß das Jahrhundert Punkt für Punkt so abgelaufen ist, wie Ambler uns das an sorgfältig und maliziös ausgewählten Fallbeispielen angeboten hat. Man hat schon oft darauf hingewiesen, daß Amblers Romane ihre Brisanz aus den hellsichtigen, vorurteilsfreien und illusionslosen Analysen seiner Themen (z.B. Politik und Wirtschaft, deren Zusammenhang er zum extrem spannenden Romanstoff gemacht hat) beziehen. Das ist völlig richtig, andererseits eine typisch Amblersche Falle.

Wenn wir uns über nichts mehr wundern, wenn uns kein noch so übler Trick, keine noch so ungeheuerliche Abgreife in Politik und Wirtschaft der offiziellen und eher inoffiziellen Art mehr wirklich verblüffen kann, dann hat daran nicht nur die Realität, die uns ständig neue, staunende "Ahas" abfordert, ihren Anteil, sondern eben auch die Bücher von Eric Ambler, aus denen wir gelernt haben, daß derlei vermutlich normal ist.

Es geht dabei natürlich nicht um die offen zutageliegenden Greuel und Greulichkeiten. Um an die - gerade in ihrer exzessivsten Widerwärtigkeit- zu glauben, müssen gerade wir Deutschen nur einmal kurz das Gedächtnis anschalten.

Nein, die Romane von Eric Ambler und gewisse Ausschnitte aus der Wirklichkeit stehen in einem durchaus verzwickten Verhältnis. Seine Kunst besteht darin, aus all dem Literatur zu machen, was der wohlverstanden kritische Geist über diese gewissen Ausschnitte der Wirklichkeit wissen könnte, wenn er nur wollte.

Ich möchte nicht wissen, wie viele Erfinder schräger Anlagemodelle mit deutlich einbahnartig definiertem Cash-Flow ihre Geschäftsidee dem Konzept der "Fiktiven Werte" verdanken, das Eric Ambler 1969 in "The Intercom Conspiracy" (dt: "Das Intercom-Komplott") entfaltet hat; und ob die Sandinistas in Nicaragua ihre Revolution von 1978/79 nicht bis ins letzte Detail noch des Castings aus "Doctor Frigo" (1974) abgeschrieben haben, erscheint zumindest einer näheren Überlegung wert. Dann ist dort allerdings etwas schiefgegangen, die Sache ist aus dem Ruder gelaufen, wovor die Lektüre von "Dirty Story" ("Schmutzige Geschichte") von 1967 die Mittelamerikaner und ihre Freunde im Pentagon hätte bewahren können, wenn sie denn das afrikanische Modell von Amblers Roman ernstgenommen hätten. Wer weiß? Den sich daran anschließenden schmutzigen Krieg zwischen Sandinistas, Contras und interessierten Großmächten hätte Ambler mit den Worten "betrüblich" oder "bedauerlich" bezeichnet. Denn betrüblich und bedauerlich verläuft die Realität immer dann, wenn sich ein entscheidender Faktor einmischt, den die Amblerschen Figuren zwar immer einkalkulieren, vor dem sie aber einen Heidenrespekt resp. kreischende Angst haben: Die menschliche Dummheit in ihren diversen Manifestationen des "Zu-": Zu gierig, zu rachsüchtig, zu boshaft, zu machtgeil.

Woran man sieht, daß Gier, Rachsucht, Bosheit und Trieb zur Macht in richtig dosierter Form durchaus kreative Energien sein können. Arthur Abdel Simpson, Amblers kleiner, fetter, schwitziger Gauner aus "The Light Of Day" (dt: "Topkapi") und "Dirty Story" ist ja durchaus nicht dumm oder unbegabt. Er scheitert, weil er den Hals nicht voll kriegen kann. Und er überlebt, weil er im richtigen Moment ein paar Gänge zurückschalten kann. Gierig ist er schon und rachsüchtig auch. Erfolgreich ist er dann, wenn er diese Kräfte seinen Möglichkeiten gemäß richtig einsetzt. Diese Eigenschaft teilt Simpson mit Charles Latimer, der uns in "The Mask of Dimitrios" (dt: "Die Maske des Dimitrios") 1939 zum ersten Mal begegnet war und damals seine etwas großsprecherische Naivität und bratzende Eitelkeit im Duell mit einem alles in allem doch leicht überschätzten Gauner, eben dem ominösen Dimitrios, durchaus vernünftig einzusetzen wußte. Als er 1969, die Welt ist ein schönes Stück rauher geworden, dieselbe bauernschlaue Nummer an Leuten durchzuziehen versucht, die schon die deutsche Vernichtunsgmaschinerie der Kriegsjahre überlebt haben, kann man dito von ihm nicht sagen: Er kommt dann weg, endgültig.

Wirklich? Zweifel sind angesagt. Zweifel ist eine der zentralen Kategorien bei Ambler (und nicht zufällig auch bei dem Rationalisten Descartes). Man muß und man soll an allem zweifeln. Vor allem an dem, was Ambler uns in seinen Romanen über die Wirklichkeit zu erzählen versucht. Er will, daß wir ihm glauben. Und wenn wir das festgestellt haben, werden wir nicht umhinkommen, festzustellen, daß er vielleicht etwas ganz anderes im Schilde führt. Wer Ambler-Romane für bare Münze hält, wer stur davon ausgeht, daß er uns allen Ernstes erzählen will, wie es "zugeht auf der Welt", ist möglicherweise schon auf der falschen Spur.

"Nur ein Idiot glaubt, daß er über sich die Wahrheit schreiben kann", ist einer der Schlüsselsätze Amblers im ersten Band seiner 'Autobiographie', der im Original nicht umsonst "Here Lies" heißt (wobei sich zu dem Doppelsinn noch ein dritter gesellt: "Here Lies" hieß auch ein berühmter Erzählungsband von Dorothy Parker, die ihrerseits eine der Schlüsselfiguren des Jahrhunderts ist).

Um ein wieviel größerer Idiot müßte also der sein, der glaubt, Ambler wolle dem Leser allerlei Geschlechts erklären, wie die Wahrheit über die Welt aussieht? Amblers Einübung in Skepsis und Zweifel als Grundeigenschaften des mündigen Bürgers darf schon gar nicht vor ihrem Medium haltmachen: Seinen Romanen.

Insofern könnte es sich, siehe oben, als durchaus fatal erweisen, ein schräges Anlagemodell oder eine Strategie der "Steuervermeidung" nach dem Muster des Carlos Lech aus "Send No More Roses" (dt. "Bitte keine Rosen mehr") zu basteln, einen Staatsstreich nach "Doctor Frigo" oder nach "The Night-Comers" (dt.: "Besuch bei Nacht") oder eine internationale Konfliktlösung nach "Dirty Story".

Man sieht das Problem schon, wenn man sich die gute alte Germanisten-Frage vorlegt: Wer erzählt eigentlich Amblers Romane? Würden Sie solchen Typen auch nur ein Wort glauben? Arthur Abdel Simpson, Paul Firman, von dem wir nur weitere Decknamen, aber keinen wirklichen kennenlernen, Piet Maas aus "A Kind Of Anger" (Dt.: "Eine Art Zorn"), ein suizidgefährdeten Zwangsneurotiker oder Michael Howell, dem titelgebenden Protagonisten und Schwafelkopp aus "The Levanter" (dt.: "Der Levantiner")? Das allererste Kapitel des allerersten Romans von Eric Ambler handelt schon davon, daß der Held keine Ahnung davon hat, was wirklich passiert ist, daß er seine eigene Biographie von fremder Feder fixiert lesen muß, ja, daß sogar ein notorisch unzuverlässiger Journalist eine Quelle ist, auf die der Held, Henry Barstow, Esq. sich über sich selbst verlassen soll. Der Roman "Dark Frontier" ist das Produkt einer Amnesie. Und dann tauscht Barstow seine Identität auch noch mit einem Serien-Helden von Schundromanen. Ein gigantischer Scherz, mit dem ein schriftstellerisches Lebenswerk beginnt, ein leuchtendes Neonschild auf dem "Achtung!" steht. Wie soll man so einem erzählerischen Entwurf auch nur ein Wort glauben?

"Woher" fragt denn auch einundvierzig Jahre später der abgebrühteste aller Amblerschen Lügner, Mr. Paul Firman, der "kompetente Kriminelle", auch Sie, liebe Leser, "beziehen Sie eigentlich diese absonderliche Idee, Sie hätten ein zwingendes Anrecht darauf, nichts als die Wahrheit erzählt zu bekommen?"

Aber auch so einfach liegen die Dinge nicht. Sogar mit der Wahrheit muß man rechnen. Vorausgesetzt, sie ist nützlicher als eine Lüge. Ambler liebt es, seine Romane aus zwei oder drei oder mehr Perspektiven zu inszenieren, einen Erzähler von einem anderen glatt dementieren zu lassen. Selbst wenn er, im womöglich vertracktesten aller seiner vertrackten Bücher, in "Send No More Roses", den notorischen Lügner Paul Firman die ganze Geschichte erzählen läßt und sich damit erzähltechnisch auf die erste Person Singular festgelegt hat, findet er noch eine Möglichkeit, andauernd und systematisch Zweifel zu säen. Diese Möglichkeit ist natürlich auch dramaturgisch hochplausibel: Firman hat die Villa Esmaralda an der Côte Azur, in der beinahe der gesamte Roman spielt, von oben bis unten verwanzen lassen, und Firman hört die Dementis seiner eigenen Geschichten ab. Aus dem Munde derer, die er zu manipulieren versucht. Aber die abgehörten Geschichten dementieren ja auch die Glaubwürdigkeit von Mr. Firman selbst, also die des ganzen Romans. Also sich selbst. Nun gehört zum Plot von "Send No More Roses" wesentlich die Unterstellung, Firman sei ein ganz besonders kompetenter Kompetenter Krimineller, weil seine Geschäftsmethoden mit den Standards jedes Geheimdienstes mithalten können. Dazu gehört zweifelsohne das effektive Verwanzen und Abhören von Räumlichkeiten, wie uns Firman gerade demonstriert, indem er die Gespräche und Bettgespräche andere Leute abhört. Wie nun also: Ein erzähltechnischer Kunstgriff oder ein Hinweis, wie es zugeht in der Wirklichkeit? Oder beides?

 

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Weil wir derlei nun nie so genau wissen, könnte man womöglich die gesamte Kulturgeschichte ganz anders schreiben, als wir das mittlerweile für selbstverständlich halten?

Es spricht viel dafür, daß Einstellungen zur, Wahrnehmungen von und Umgangsformen mit der Wirklichkeit existieren, die sich nur deswegen nicht in den einschlägigen Handbüchern, Lexika und Grundkursen finden, weil man sie für allzu literarisch hält (....)

Ihr Verhältnis zu Fiktionen ist merkwürdig: Werden in Romanen vom Amblerschen Typ nur Einstellungen, Wahrnehmungen und Umgangsformen so dargestellt, wie die Autoren sie bei echten, lebenden und handelnden Menschen vorgefunden haben? Oder erfinden solche Romane und Erzählungen Wege zum Umgang mit der Wirklichkeit, um den pp. Lesern allerlei Geschlechts zu signalisieren, daß es andere Arten der Einstellung zur, Wahrnehmung von und Umgangsformen mit der Wirklichkeit geben könnte als die, die wir alle zu kennen und zu beherrschen glauben?

Also weniger solche, die auf hehren und schönen Begriffen basieren, die sich meistens sowieso nur dadurch auszeichnen, daß kein Mensch weiß, was das letztlich sein soll: Das Gute, das Edle, das Bessere, das Schöne und Wahre, auf das mit ermüdender Zwangsläufigkeit all jene Beschäftigung hinausläuft, die mit Kunst, also auch mit Literatur zu tun hat. Und wenn es die einmal nicht sind, dann muß es gleich das abgrundtief Böse sein. Aber nie das Intelligente, Witzige, Pragmatische, Elegante - im Sinne von Grace under Pressure -, Lebenspraktische.

Es gibt sie ja, all die argen Triebkräfte: Gier, Machtstreben, Rachdurst, Bosheit. Oder schlichten Überlebenswillen oder Willen zum Überleben in weniger schlichtem Ambiente. Die abendländische (Moral-)Philosophie hat Riesengebäude errichtet - Ethik genannt - die solche Affekte bannen sollen. Geholfen hat's wenig, aber Systeme zur Erforschung solcher pragmatischen Kategorien gibt es erstaunlicherweise kaum. So, als sei sie zu bannen, anstrengend genug. "Laßt Pragmatiker um mich sein!" seufzt eine der Amblerschen Protagonisten inbrünstig, als er in Krieghandlungen gerät, die, wie immer, aus Ideologien, Wertvorstellungen, also Dogmen und Dummheit resultieren.

Aber vielleicht lassen sich solche pragmatischen Kategorien gar nicht theoretisieren. Vielleicht lassen sie sich eher immer wieder exemplarisch erzählen.

Das tut Eric Ambler mit seinen Romanen genauso wie mit seinen wenigen Erzählungen und den noch spärlicheren autobiographischen Plaudereien. Das Resultat ist ein Gesamtwerk, das einer Sprengfalle gleicht: Es sieht harmlos & bescheiden aus, ist aber in Wirklichkeit hochbrisant, extrem wirkungsvoll - und tödlich für eine bestimmte Art des Denkens, bzw. des Nicht-Denkens. Gar nicht zufällig hat Ambler eine solche Sprengfalle in "Send No More Roses" beschrieben - der Gag dabei ist, daß die naheliegende Deckung, in die man sich nach Erkennen der Falle begibt, vermint ist. Und der zweite Gag, sozusagen die wirkliche Sprengfalle in der literarischen Sprengfalle, ist, daß in dieser Schilderung - lesen Sie bitte selbst nach - ein kleiner tödlicher Irrtum steckt.

Amblers Wirkungskreis ist nicht zu überschätzen. Eric Ambler hat für die Literatur des Jahrhunderts Maßstäbe gesetzt, und er hat einen Diskurstyp möglich gemacht, der heute noch so virulent ist wie 1936, als sein erster Roman "The Dark Frontier" ("Der dunkle Grenzbezirk") erschienen war: Erzählende Literatur, narration funktioniert als direkter Konkurrent zu journalistischen, politologischen, soziologischen, philosophischen und direkt politischen Versuchen, mit dem Ding umzugehen, was wir für die "Wirklichkeit" halten.

Nun gibt es die ja tatsächlich, allem multimedialen Getöse um virtuelle Realitäten zum Trotz. In den friedlicheren Zonen dieses Planeten schlägt sie sich z.B. im Kontostand nieder oder im Wohnkomfort (Eigenheim oder unter den Brücken). In weniger friedlicheren Gegenden - wozu das gute alte Europa mittlerweile wieder mal nicht mehr durchweg gehört - ist der schlichte, nämlich reale Bauchschuß ein guter Prüfstein für "die Wirklichkeit". Dort, wo das alte Europa traditionellerweise gewütet hat, geht es um Verrecken oder nicht, wenig virtuell.

Andererseits nehmen wir "die Wirklichkeit" nicht einfach so wahr, als ob sie gerade von einem fremden Stern heruntergefallen wäre. Politik und Wirtschaft zum Beispiel können wir so sehen, wie sie uns die parteipolitischen Verlautbarungen unserer hauptamtlichen Medienwelt zu präsentieren versuchen. Das funktioniert manchmal sogar: Wer hat den Propagandatrick von den "blühenden Landschaften" geglaubt? Wähler, und zwar viele Wähler. Es funktioniert auf dem Hintergrund einer Wahrnehmungseinübung. Ironisch oder tragisch: Daß es funktioniert hat, war ein letzter Sieg der SED, die ihr Staatsvolk zwar nicht mehr von ihren Inhalten überzeugen konnte, aber immerhin von der unerschütterlichen Erwartung, daß eine Obrigkeit nicht ganz falsch liegen könne.

Ein Antidot dagegen wäre die Einübung in die Überzeugung, daß jede Obrigkeit oder wer auch immer die Machtmittel zu flächendeckender Verlautbarung hat, grundsätzlich mit Zweifel und Skepsis zu betrachten sei. Und zwar nicht nach Maßgabe der eigenen ideologischen Präferenz, sondern immer und jederzeit und unter allen Umständen.

Wobei wir evidenterweise wieder bei Ambler angekommen wären. Natürlich müssen und sollen wir damit rechnen, daß er eigentlich nichts anderes tut, als sich für uns Geschichten auszudenken, für die wir ihn bezahlen. Und natürlich denkt er sich diese Geschichten so gut aus, daß wir sie ihm abkaufen. Natürlich nicht als Geschichten, die Wort für Wort wahr sind. Sondern als Stories, die uns davor warnen sollen, irgendwem irgendwelche Geschichten zu glauben. Denn wenn wir ihm schon die Einzelheiten nicht glauben sollen, warum sollen wir dann glauben, daß er noch etwas anderes möchte, als zu erklären, wie es zugeht auf der Welt.

Das sollen wir glauben, aber nach seinen eigenen Gesetzen sollen wir uns davor hüten. "Judgment on Deltchev", so sagt Ambler in "Here Lies", sei von ihm nicht als antistalinistischer, als antitotalitaristischer Roman gemeint gewesen, sondern als die "erfreuliche" Möglichkeit, nach dem Krieg zum Thriller-Schreiben zurückzukehren. Natürlich ist "Judgement on Deltchev" eine bösartige Attacke auf totalitäre Systeme. Explizit, engagiert, auf den Punkt gebracht. Was denn sonst?

Irgendwann und -wo ist die putzige Idee aufgekommen, Literatur sei eine andere Welt, ein haltbarer Gegenentwurf zur echten, eine utopisches, aber eben darum nicht minder reales Ding. Das stimmt (leider?) nicht. Sie ist ein Produkt, hergestellt und vertrieben in und von der echten Welt, dem Hier & Jetzt. Und deswegen können wir ihrer nicht sicher sein. Nie. Das ist die grundlegende Ambler-Formel, und damit ist er von Anfang an radikaler, origineller und innovativer als alle Baudrillards, Gibsons, H. Müllers und Virilios zusammen. Gerade weil er nie behauptet, es sei egal, was Literatur zu behandeln habe, nur das WIE sei entscheidend.
Bei Ambler ist das WAS extrem wichtig.

© Thomas Wörtche, 1997
Der Text entstand für ein Essay-Band mit dem Arbeitstitel »Schlüsselfiguren des 20. Jahrhunderts«,
das nicht erschienen ist.

 

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