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Cream of Crime 4/1994

Sharyn McCrumb: Am Ufer des Todes

 

Der Kriminalroman ist ein durch und durch großstädtisches Genre - historisch und aktuell. Es waren immer die urbanen Romane, die das Genre verändert haben, und es waren die urbanen Romane, die das Genre schließlich aufgelöst und in "Literatur" überführt haben. Ernstzunehmende Großstadtromane sind heutzutage fast zwangsläufig "Kriminalromane". Ohne Ausnahmen keine Regel: Die Provinz, das Landleben haben dort, wo sie breitenwirksam geworden sind, lediglich Trivialliteratur à la Agatha Christie plus die ermüdenden Folgen und Plagiate à la Martha Grimes hervorgebracht. Die innovativen, guten, weil wirklich beklemmenden Romane über die Neurosen und Gefahren des flachen Landes sind bei uns weniger bekannt: Die von Jim Thompson etwa oder von Pierre Magnan und Jacques Syreigeol.

Und jetzt Sharyn McCrumb, von der drei Bücher auf deutsch vorliegen: "Bis auf die Knochen" (dtv, 1994) - eine noch eher konventionelle, aber sehr unterhaltsame Komödie von 1985, 1990 das erste Buch um Sheriff Spencer Arrowood "Und kehre ich je zurück" (rororo, 1993) und jetzt "Am Ufer des Todes" Der Original-Titel (s.u.) spielt auf Ambrose Bierce an. Alle sind in der Bergwelt der Appalachen in Tennessee angesiedelt, in einer Gegend, in der es den Großstadtmenschen vor Einsamkeit und Dumpfheit schaudert wie in etlichen Stories von Bierce. Sharyn McCrumb versucht auch gar nicht erst, eine nette Naturidylle aufzubauen, um diese dann zu demontieren, und sie will auch nicht, wie ihr Kollege James Lee Burke, der sündigen Stadt die heile Natur moralisch entgegenstellen. Sie schildert die abgelegenen Gebirgstäler, die einsamen Farmen und unendlichen Wälder und die merkwürdigen Hillbillies, die darin wohnen weder unter dem Blickwinkel des Exotismus noch mit der Klebrigkeit von jovialem Wohlwollen, sondern mit kaltem, illusionslosem Blick. Sie nimmt sie ernst, weil sie ihnen keinen Sympathiebonus gibt.

Ernst nimmt sie auch einige Erscheinungen der aktuellen Zeitgeschichte: Umweltzerstörung, religiösen Fundamentalismus, die neue Armut der Nachreaganzeit, das Vietnamtrauma und die Legende vom aufrechten GI, der angeblich von der Politik verraten worden ist, und vor allem die neue Vergötzung des unschuldigen Kindleins (die sich in der Gegenwartsliteratur zunehmend im Topos des geschändeten Kindes artikuliert). Aus den Regenwolken und den deprimierenden Nebeln von East Tennessee, in dem geographisch übersichtlichen Weltausschnitt und dem ganz und gar nicht übersichtlichen Seelenleben ihrer Figuren tritt klar zutage, daß Weltbilder und Ordnungsvorstellungen ausgedient haben, gerade auch da, wo "Mutter Natur" angeblich für Kontinuität und Sinn sorgt. Indianische Legenden und alte Frauen mit dem zweiten Gesicht sind längst von den Weltläuften überrollt - die sind schon da und bringen Leute um, die davon höchstens eine vage Ahnung haben und sich mit hilflosen Mitteln wehren. Sharyn McCrumb schneidet auch den politisch zur Zeit virulenten Rückzug auf die Familie als stabiles und stabilisierendes Element ab: Eine hingemetzelte Familie, inklusive abgeschlachtetes Karnickel beschäftigt Sheriff Arrowood und seinen verzweifelten Deputy LeDonne, und der normale Amoklauf eines der Söhne wäre das beruhigendere Motiv gewesen. Aber Amokläufer sind relativ harmlos gegen den Horror, den Sharyn McCrumb seziert und inszeniert.

Erzählt ist "Am Ufer des Todes" aus einer grandiosen Mischung von auktorialer und personaler Perspektive, aus Totale und Zoom sozusagen, mit der McCrumbs sehr eigenwillige Prosa fast hypnotische Effekte erzielt. Die überzeugende Übersetzung hätte eine sorgfältigere Redaktion verdient gehabt.

© Thomas Wörtche

Sharyn McCrumb:
Am Ufer des Todes.
(The Hangman's Beautiful Daughter, 1992)
Roman. Deutsch von Gisela Kirberg Mamone.
Reinbek 1993: rororo thriller 1090.
248 Seiten, DM 10, 90

 

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