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Cream of Crime 5/1996

Jerome Charyn (Hg.): Dunkle Engel

 

Die meisten Anthologien von kriminalliterarischen Texten dienen entweder dazu, den angesammelten Schrott aus den Lektoratsschubladen zu entsorgen, wobei zwei oder drei "große Namen" als Köder dienen; oder es handelt sich um Bücher des Typs "Schere & Klebstoff", bei denen irgendwer besinnungslos irgendwelche Textstellen aneinanderklebt.

Hin und wieder sind Anthologien aber Ausdruck einer Idee, gar eines Programms, einer "Poetik". Die "The New Mystery"-Anthologie, die Jerome Charyn 1993 herausgegeben hat, ist so ein Fall. Nach drei Jahren dürfen sich nun auch deutsche Leser an dieser programmatischen Sammlung erfreuen, die hierzulande "Dunkle Engel" heißt, was fast schon wieder ein Glücksfall ist, denn sie war jahrelang fahrlässig-blöde als "Krimi-Lesebuch III" angekündigt.

"Dunkle Engel" geht davon aus, daß "Kriminalliteratur" etwas ist, das außerhalb der Genrelimitationen von "Krimi" stattfindet, eine "Literatur, die außerhalb jedes Gettos Bestand hat". Deswegen tauchen bei Charyn Autoren und Autorinnen auf, die man, so man in den üblichen Denkschablonen bleibt, bei den "New Mysteries" nicht unbedingt erwarten würde: Isaak Babel, Raymond Carver, Joyce Carol Oates, Clarice Lispector, Nadine Gordimer, Flannery O'Connor, Italo Calvino oder Donald Barthelme. Zusammen mit eher "einschlägig" bekannten Leuten wie Ross Thomas, Lawrence Block, Paco Ignacio Taibo II, Sara Paretsky, Roger L. Simon, Walter Mosley oder Donald E. Westlake lassen sie in der Tat Grenzen platzen. Oder besser: Die Texte aller bisher Genannten (und noch vielen mehr: Graham Greene, Didier Daeninckx, Leonardo Sciascia, Don DeLillo, Laura Grimaldi, Harlan Ellison - nein, es sind immer noch nicht alle aufgezählt aus diesem Thesaurus der düsteren Wunder) demonstrieren, wie hohl, überflüssig und vor allem künstlich "Genre"-Grenzen ab einem gewissen literarischen Niveau werden. Ross Thomas hat genauso Weltliteratur verfaßt wie Graham Greene, wer qualitative Unterschiede etwa zwischen Raymond Carver und Lawrence Block macht, kann sich nicht auf Kriterien berufen.

Jerome Charyn, selbst ein begnadeter Wandler zwischen allen Grenz-Welten von Literatur, von "High & Low" führt diese überflüssigen Wertungsdebatte auch gleich gar nicht mehr. Es geht ihm um eine Literatur, die die "'Gabe' der Sprache, die Fähigkeit zu erschrecken und zu erfreuen und dabei Bilder entstehen zu lassen, die uns die Augäpfel zerkratzen", hat und damit eine "eigene Literatur des Verbrechens präsentiert, eine literarische Richtung, die sich in keine Schublade einordnen läßt".

Das mag ein wenig emphatisch tönen, ist aber angesichts der Implikationen schlicht richtig: Sortiert man "Kriminalliteratur" in Charyns Sinn, ist es nur zu plausibel, zum Beispiel Rimbaud und Baudelaire als Vorläufer Hammetts zu bezeichnen, als "Dichter, die den surrealen Charakter des Lebens in der Stadt erfaßten". So haben auch beinahe alle hier versammelten Texte den Schuß "Surrealismus", den Touch von Wahnsinn, der sie von öder Kolportage, von "Formula Fiction", oder plattem "Realismus" abhebt. "Krimis" sind eben schon lange keine Dinger mehr, wo am Anfang eine Leiche herumliegt und am Ende der Mörder gefaßt und die Welt wieder in Ordnung ist. Charyn hält Kriminalliteratur für eine der "wenigen internationalen 'Sprachen', die quer durch die Kulturen und Stereotypvorstellungen verstanden wird". Das liegt an ihrem Gegenstand: Der Ubiquität von Gewalt und Verbrechen. Ob allerdings wirklich "in der letzten Dekade eines brutalen, mörderischen Jahrhunderts Gott selbst Kriminalschriftsteller ist" wollen wir erst mal abwarten.

© Thomas Wörtche

 

Jerome Charyn (Hg.):
Dunkle Engel.
(The New Mystery, 1993)
München: btb - Goldmann 1996.
504 Seiten, 18.00 DM

Dunkle Engel

 
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