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Cream of Crime 12/1994

Jerry Oster: Wenn die Nacht kommt

 

Romane von Jerry Oster sind bis zum Platzen vollgepackte Texte, die dennoch wundersam ausbalanciert sind. Sie erzählen eine Geschichte und während sie das tun, erzählen sie tausend andere Geschichten. Eingelagerte Geschichten, Geschichten, die aus Abschweifungen herauswuchern, Geschichten von "damals", Geschichten, von Menschen, die Jerry Osters Universum auch in anderen Romanen bevölkern, alte Geschichten und Geschichten, die um Haaresbreite so nicht passieren, aber passieren könnten. Und alle diese Geschichten münden in die Hauptgeschichte, die ihrerseits wieder in tausend Nebengeschichten zerfällt. Romane von Jerry Oster sind auch Texte, die von Stimmen zusammengesetzt werden. Diese Stimmen reden in tausend Zungen, in verschiedenen Sprachen. Sie gehören zu Menschen aus Fleisch und Blut, sie dringen aus Radios und Fernsehern, sie sind Soundbits unbestimmbarer Herkunft, aber ubiquitär, sie kommen von CDs und Kassetten, von den Tonspuren der Filme, die die Menschen sehen oder gesehen haben. Es wird geplappert und geschwatzt, laut gedacht und leise bramabarsiert. Der Erzähler springt in den Redefluß seiner Personen hinein und aus ihnen hinaus. Die sicheren Eckpfosten in diesem Dauerstrom bilden Leitmotive, identische oder fast identische Wiederholungen von Phrasen, Sätzen, Sequenzen und Passagen, die mit- und gegeneinander gesetzt sind, sich kommentieren, kommunizieren oder deutlich nicht kommunizieren.

Das Kompositionsprinzip der Texte arrangiert das Chaos, das der Schriftsteller Oster vorfindet, wenn er sich auf das Sujet einläßt, das sein Thema ist: New York City. Die Realität der Stadt liegt nicht nur präformiert herum und wartet darauf, abgebildet und als ein Stück "Literatur" konsumierbar, zum Erfahrungssurrogat zu werden, sondern sie ist von tausend anderen Blicken, Stimmen, medialen Formen "gemacht", sie entzieht sich der unmittelbaren, der naiven Wahrnehmung und erst recht der künstlerischen Verdoppelung.

Das ist die eine Ebene, auf der Osters Kunst agiert, die Ebene der Sprachspiele, des Umgang mit dem, was Literatur literarisch macht, was ihr Material ist, das sie vor anderen Künsten ausweist. Die andere Ebene ist die Realität, die von ästhetischen Begrifflichkeiten nichts weiß, aber dennoch immer da ist: Die Gewalt, die Menschen, deren Beziehungen untereinander, die Politik, der groteske Aberwitz, der zwangsläugig dort auftritt, wo Geographie und Bevölkerung einen enormen Verdichtungsgrad erreicht haben, wo Interessen aufeinanderknallen, wo sich die Problemlagen der gesamten "Zivilisation" prototypisch kristallisieren. Daraus können nur "Kriminalgeschichten" werden.

Eine aus der unendlichen Anzahl der möglichen Geschichten, die diese Realität bereithält, die diese Realität konstituieren, herauszugreifen, ist die Reduktion, derer sich ein Autor schuldig machen muß. Für diese eine Geschichte klar zu machen, daß sie ohne die tausend anderen, die unendliche Potentialität des Nichterzählten, gar nicht möglich wäre, das zeichnet Osters Kunst des Erzählens auf dieser Ebene aus. Sie hängt auch notwendig mit der dritten Ebene zusammen. Wo Potentialitäten die Wirklichkeit konsitutieren, müssen sie in die literarische Bearbeitung der Wirklichkeit eingehen. Deswegen sind Osters Romane, bei allem Detailrealismus keine Abbildungen, sondern Entwürfe von Wirklichkeiten, und eben deswegen realistische Romane. Und weil alle New York-Romane von Jerry Oster meisterhaft nach dieser Logik gestaltet sind und innerlich zusammengehören, sei der bis dato letzte, "Wenn die Nacht kommt", zum Anlaß genommen, die Lektüre aller dringend zu empfehlen.

© Thomas Wörtche

 

Jerry Oster: Wenn die Nacht kommt
(When the Night Comes, 1993)
Dt. von Jürgen Bürger.
Reinbek: rororo Thriller 3155,
1994; 271 Seiten, DM 12, 90

 

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