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Crime Fiction in Umbruchgesellschaften

Kriminalliteratur hat sich wesentlich in funktionierenden demokratischen Gesellschaften entwickelt. Thomas Wörtche mit einem kleinen Ausblick auf die sich entwickelnde arabische Kriminalliteratur.

 

Eine blühende kriminalliterarische Landschaft, so lautet eine durchaus konsensfähige These, weist immer auf eine funktionierende demokratische Gesellschaft hin, auf deren Grund und Boden diese Landschaft entstehen kann. Gerne werden in diesem Zusammenhang die historischen Geburtsstätten der Kriminalliteratur als Zeugen aufgerufen - das UK, die USA und Frankreich. Signifikant zumindest ist die Beweisführung ex negativo: Aus Diktaturen und anderen totalitären Veranstaltungen ist noch nie nennenswerte Kriminalliteratur entstanden: Nicht aus der Sowjetunion, nicht aus dem Franco-Spanien, nicht aus der DDR, nicht aus Nazi-Deutschland, nicht aus dem wilheminischen Deutschland. Ausnahmen gibt es natürlich auch immer, aber sie sind Einzelfälle geblieben. Und wenn es doch hin und wieder passierte, dann waren Kriminalromane aus diesen Gegenden eher oppositionelle Literatur: Rubem Fonseca in Brasilien während Militärdiktatur, Leonardo Padura in Kuba heute.

Aber wie weit kommen wir, wenn wir mit diesem Grobraster operieren? Liegt z.B. die deutsche kriminalliterarische Defizienz auch in demokratischen Zeiten daran, dass die Entwicklung der narrativen Literatur schon im 18. und 19. Jahrhundert anders gelaufen ist als zum Beispiel in Großbritannien und Frankreich? Und wie sieht es mit nicht-westlichen Kulturen und Literaturen aus? Zum Beispiel im arabischen Raum?

Spontan (naja, so spontan nun auch nicht) fallen uns dabei höchstens Youcef Kader, Abdelaziz Lamrani, Djamel Dib, Rabah Zeghouda, Mohammad Benayat und natürlich Yasmina Khadra ein, die allesamt aus Algerien kommen; aus Marokko noch Driss Chraïbi, aus Tunesien Kamel Ghattas und aus Ägypten Taufiq al-Hakim.

Das ist, angesichts der Grösse und der grossen narrativen Tradition des Kulturraums, herzlich wenig. Wobei eine narrative Tradition natürlich nicht eine Form-Tradition bedeuten muss. Aber vermutlich wäre eine fehlende Form-Tradition kein Hindernis (wie uns ein Blick nach Schwarzafrika oder auf die Türkei zeigt) für eine Krimi-Kultur. Dito nicht ein wie auch immer unterschiedliches »Rechtsbewusstsein« auf islamischer Basis, denn Kriminalliteratur ist immer auch ein Diskursfeld für Normenkontrolle - und die gibt es beileibe in jedem Kontext.

Auffällig bei unserer kurzen Aufzählung oben war der hohe Anteil an algerischen Autoren - und da kommen wir der Sache viel näher, wie ich glaube. Die algerische Gesellschaft gärt signifikanter als die marokkanische oder die tunesische (von der syrischen oder jordanischen ganz zu schweigen) - demokratische Ansätze westlichen Typs sind zumindest als Optionen stark mit im Spiel. Und Algeriens urbane Zentren liefern die Hefe dieser Gärung. Deswegen sind die profiliertesten Kriminalromane des Landes die von Yasmina Khadra, die genau diese beiden Aspekte akzentuieren. Und ich glaube, dass deswegen auch demnächst aus Kairo Kriminalromane kommen werden und garantiert aus dem Libanon. Crime Fiction braucht Umbruchsgesellschaften. Die Zentren des Umbruchs sind die Städte. Und die sind kriminell.

 

© Thomas Wörtche, 2004
(ZENITH - Zeitschrift für den Orient, Literatur Spezial, Herbst 2004)

 

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