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Realistische Romane haben keine Chance gegen New York

Thomas Wörtche im Gespräch mit Jerome Charyn

 

Thomas Wörtche: Mr. Charyn, um das New York des 20. Jahrhunderts zu erzählen, benutzen Sie Literatur des 19. Jahrhunderts als eine Art Subtext. Die Hauptfigur Ihrer Graphic Novel Teufelsmaul nennt sich "Billy Budd", Ihre neue Short-Story heißt Heart of Darkness, ein direktes Joseph Conrad-Zitat, und deren Hauptfigur nennt sich "Herman Melville". Nun sind sowohl Melville als auch Conrad Autoren der See, der exotischen Landschaften, Zivilisationskritiker.

Jerome Charyn: Melville ist der profundeste Kritiker des urbanen Lebens, der großen Städte und der amerikanischen Kultur überhaupt. Er war der erste bedeutende Autor, der den "Amerikanischen Traum" verworfen hat; die Idee des Selfmade-Kapitalisten, die Idee, daß ein Individuum in der Innenwelt der Ökonomie auf Abenteuer aus sein und sich dabei im Sinne von persönlichem Wohlstand als Mensch neu erschaffen könnte. In seiner Zeit hat Melville diese Visionen abgelehnt - die Gesellschaft hat ihn abgelehnt, genauso wie er die Gesellschaft abgelehnt hat. Jetzt, spät im 20. Jahrhundert, kurz bevor die amerikanische Gesellschaft zusammenkracht, ist er plötzlich zu einem Hexenmeister unserer Zeit geworden. Für mich ist er der größte amerikanische Autor überhaupt, weil er die abgrundtiefe Traurigkeit verstanden hat, die über New York gekommen ist. Der Traum von Wohlfahrt und Reichtum hat die Menschen zur Isolation verdammt. Es gibt nur noch eine sehr geringe Chance, daß die Menschen wieder zusammenkommen. Das ist ein Grund, warum ich immer wieder auf Melville zurückkomme. Sein Werk kommt kommt mir vor wie eine Zurückweisung von allem, was Amerika für sich selbst zu reklamieren liebt.

Thomas Wörtche: Wie weit kommt man mit dieser Melville-Metapher? Wie weit kann man sie verlängern? Sie beschreiben New York mit Begriffen wie "Stämme", Sie benutzen exotisierende Termini, exotische Metaphernfelder.

Jerome Charyn: Ich will mich nicht mit Melville gleichsetzen; aber ich fühle mich zu dem Bild und der Idee des Stammes hingezogen, wider traditonelle Gesellschaften. Wenn jemand ein Gangster ist oder ein Musiker oder eine Prostituierte - dann gehört er oder sie zu einem "Stamm" in Opposition zu den traditionellen, protestantischen Amerikanismen, die alles Fremde ablehnen, denen Fremdes etwas Schmutziges ist, etwas Häßliches, etwas Unamerikanisches. An New York fasziniert mich, daß es die erste Stadt auf diesem Planeten ist, die von der Unterseite, von der Unter-Welt total übernommen worden ist. Die hat Scheiße aus den Bürgermeistern rausgeprügelt, die Stadt als ihr Terrain begriffen, und sie in eine Art eigene Phantom-Landschaft verwandelt. Das interessiert mich, nicht weil es pittoresk, sondern weil es abgrundtief traurig ist. New York ist kein sogenannter Schmelztiegel - es war nie ein Schmelztiegel -, New York ist ein explodierender Dampfkochtopf und die Unterseite ist übergekocht und hat sich, ja, wie soll ich sagen, nicht in einen Alptraum verwandelt, sondern... Vielleicht könnte man es eher für Berlin beschreiben. Auch wenn das nicht die selbe Stadt ist, passieren da doch eine ganze Menge analoger Sachen...

Thomas Wörtche: Meinen Sie mit den anderen, den guten Amerikanern, die WASPs?

Jerome Charyn: Das können die WASPs sein, es können aber auch alle anderen sein, die sich selbst als den wahren Kern, als die Oberseite sehen. Die USA wurde bekanntlich auf dem Traum einer demokratischen Verfassung gegründet, aber Demokratie für wen? Für weiße Männer, die Besitz hatten. Das war wichtig, man mußte Besitz haben. Und das Verhältnis von denen, die aus Besitz Gewinn machen und denen, die nichts haben, keinen Besitz, keinen Profit, kein Obdach, das macht den Kampf aus, der seit drei Jahrhunderten andauert.

Thomas Wörtche: Beginnt für Sie die Geschichte von New York erst nach der Unabhängigkeitserklärung?

Jerome Charyn: Nein, nein, natürlich nicht. Ich sage nur, daß der Amerikanische Traum mit der Idee der Freiheit des Individuums beginnt. Aber was man nie erwähnt, über was man nie redet, ist die Tatsache, daß diese Freiheit nur nach den Bedürfnissen derer definiert ist, die Besitz haben. Niemand anderes konnte wählen, Frauen konnten nicht wählen, Schwarze konnten nicht wählen. Nur Männer, die Besitz hatten und eine feste Adresse. Für mich war eines der interessantesten Dinge, die überhaupt in den 80er Jahren passiert sind, der Fall des Obdachlosen, der vor Gericht ging und sagte: Mein Grund und Boden ist ein Baum im Central Park, und das ist meine Adresse. Und ich habe das Recht zu wählen. Und er hat gewonnen.

Thomas Wörtche: Wenn Sie die psychische Verfassung von New York auf einen Begriff bringen sollten...

Jerome Charyn: Schizophrenie, aber das gilt nicht nur für New York, sondern für alle großen Städte. Große Städte haben irgendetwas an sich, das sie aus ihrer eigenen nationalen Kultur herausholt, herauswirft und sie allgemeinem Mißtrauen aussetzt. Das ist sogar metaphorisch für "die Stadt" im Allgemeinen. Ich würde behaupten, ohne viel über Deutschland und die deutsche Kultur zu wissen, daß das Verhältnis von New York zu den USA das gleiche ist wie das von Berlin zu Deutschland. Keine Großstadt ist wirklich Teil ihres Landes, alle haben ihre eigene Kultur. Sie steht sogar in ständiger Rebellion zu der allgemeinen Kultur des Landes - das definiert sie als Großstadt.

Thomas Wörtche: Berlin und New York sind beide nicht die Hauptstädte ihrer Länder, naja Berlin auf dem Papier, aber nicht wirklich...

Jerome Charyn: Und sie haben eine magnetische Wirkung auf junge Menschen. Ich meine das nicht emblematisch, aber dort haben die Jungen sich selbst zu definieren, auch wenn sie scheitern. Wahrscheinlich werden sie mehr und mehr scheitern, bei dieser unerträglichen ökonomischen Situation. Aber dort müssen sie sich gegen die Stadt definieren. Je weiter ich mich von New York wegbewege, je mehr ich in Paris lebe, desto intensiver wird mein Dialog mit dieser abwesenden Stadt und meiner eigenen Vergangheit in Beziehung zu dieser Stadt. Entkommen kann man New York nicht. Ich schreibe nicht über Paris, ich könnte das gar nicht. Klar, ich könnte eine Figur in Paris leben lassen, aber dann wäre sie nicht ein Teil dieser unbewußten Verrücktheit, mit der man schreibt. Auf eine gewisse Art sind wir alle in Berlin oder New York geboren. Ich zum Beispiel bin in der Bronx geboren, die überhaupt nichts mit New York City zu tun hat. New York ist das Monster, das wir hassen, das wir lieben und das wir brauchen. Das uns erdrosselt und das uns ernährt.

Thomas Wörtche: Was wollte der junge Jerome Charyn von New York? Was wollten Sie erfahren, bevor Sie so ein gigantisches, so obsessives Projekt wie Ihr Gesamtwerk angefangen haben?

Jerome Charyn: Die notwendigste und wichtigste Erfahrung war, daß niemand in der großen Stadt sich als Freak fühlen muß. In der Stadtlandschaft ist jeder immer ein Freak. Die entscheidene Ausstattung, die man braucht, ist die Beziehung zwischen dem, was im Kopf ist und was außerhalb davon ist. Alles ist letztendlich ein Dialog zwischen diesen beiden verrückten, merkwürdigen Gegenden, dem Kopf und dem Außen. Nicht die Wohnung, in der man lebt, nicht das Viertel, in dem man lebt, es ist die Landschaft, die Elektrizität, die Verrücktheit, der Lärm, Frankenstein in einer Stadt der Frankensteins.

Thomas Wörtche: Und man muß nicht unter dem Terror der eigenen "Identität" leben.

Jerome Charyn: Absolut nicht. In Berlin zum Beispiel fühle ich mich sofort zu Hause. Der Rhthymus, bum, bum, bum. Der Ku'damm tickt wie der Times Square, verrückte ausgebombte Kirchen, das ist mir sehr vertraut. Alle Stadtteile in Berlin sind mir sehr vertraut in ihrer Merkwürdigkeit und Fremdheit. Leute reden immer über ihre Angst in New York, ich habe keine Angst in New York, ich habe Angst in den USA. Sobald ich aus New York raus muß, scheiße ich mir in die Hosen vor Angst. Ich kenne mich nicht aus, ich fühle mich unglaublich fremd. Ich kann mir vorstellen, daß Berlin die große Stadt des 21. Jahrhunderts wird. Da trifft sich nicht nur einfach Ost und West, der Osten wird sich nach Westen bewegen, der Unterbauch wird sozusagen die Macht übernehmen; die Wanderer werden von überall herkommen und ihre Energien mitbringen, möglicherweise eine bestimmte Art von Totheit, die schon ganz Europa ergriffen hat. Berlin ist immerhin schon jetzt eine der internationalen Mafia-Hauptstädte diese Welt. Wo Verbrechen ist, da ist immer was los, da ist immer Geld. Das wird interessant werden. Vielleicht werden die Wolkenkratzerstädte unwichtig, und die zwei Dominanten des 21. Jahrhunderts werden Los Angeles und Berlin. Vielleicht bin ich auch ein Romantiker und spinne nur rum. Berlin ist die Stadt, die Hitler herbeihalluziniert hat, und vielleicht kommt eines Tages irgendein neuer Troglodyt, wer weiß woher, ein Troglodyt vom Himmel diesmal und nicht aus der Hölle. Das wäre mal interessant.

Thomas Wörtche: Paradoxerweise kommt mir New York im Vergleich zu Berlin vor wie eine uralte Stadt - und eine Ihrer Lieblingsmetapher für New York ist sehr mittelalterlich: Camelot.

Jerome Charyn: New York ist sehr alt, zwei Jahrhunderte etabliertes Geld. Und wie Melville es schon vorformuliert hat: Geld tötet Städte, es erdrosselt sie. Für seine Zeit galt die enorme Diskrepanz zwischen den Reichen und den Armen schon genauso. Diese Abgründe zwischen extremem Reichtum ein extremer Armut, das macht New York zu Berlin - die Stadt, die Hitler herbeihalluziniert hat, das Berlin von Brecht, der Ort, wo alles möglich ist, wo das Groteskeste das Normalste ist.

Thomas Wörtche: Das war geradezu eine façon de parler über das Berlin vor '33. Man kann sich mit wenigen Begriffen über dieses Berlin verständigen und jeder weiß, was gemeint ist: Brecht, George Grosz, Otto Dix. Gibt es solche Metaphern auch für New York?

Jerome Charyn: Nein, das fehlt. Ich wünschte, wir hätten sowas. Das New Yorker Theater hat eine strikt naturalistische Tradition. Als Brecht über Hitler geschrieben hat, da hat er auch über New York geschrieben.

Thomas Wörtche: Wenn ich einen Soundtrack für eine Stadt zu entwerfen hätte, dann hätte ich im Fall New York keine Probleme, eine ganze Menge allerdings für Berlin.

Jerome Charyn: Die Sounds einer Stadt charaktisieren die Stadt auf eine Art, der wir uns nie bewußt sind, die aber viel damit zu tun haben, ob wir uns gut oder schlecht fühlen. Geräusche können einen total wahnsinnig machen, oder sie beflügeln einen aufs Wunderbarste. Mit Gerüchen ist das anders. Ich mag den Geruch von Europa, der ist sehr verschieden von dem von Amerika. Ich weiß nicht, was den Geruch ausmacht, aber er ist sehr kraftvoll.

Thomas Wörtche: Sie haben vorhin die Mafia angesprochen, die mehr und mehr nach Berlin kommt - aus allen Richtungen, aus dem Osten, aus dem Süden. Und wohin dann? Sie haben in Ihrem Hollywood-Buch "Movieland" den Weg des Kinos vom Osten nach Hollywood nachgezeichnet. Ist das dieselbe Migration?

Jerome Charyn: Es gibt die zentralen Routen: Moskau - Berlin - Palermo - New York - Mexiko City. Diese wirklich internationale Qualität bewirkt, daß das alles gleichzeitig die Hauptstädte des Verbrechens sind. In der Bronx gab es in den 60ern und 70ern gigantische Brandstiftungen. Da ging es natürlich um Immobiliendeals, aber nicht nur. Anheuern mußte man bald niemand mehr, denn es gab eine Menge Leute, die Freude am Brände legen hatten. Für mich war das eine Art Kreativität, die haben ihre eigene Art von Schauspiel auf ihre eigene Bühne gebracht.

Thomas Wörtche: Code-Switching? Von Graffiti zu Feuer?

Jerome Charyn: Ja, genau...

Thomas Wörtche: Und mitten drin steckt die Polizei, die Sie genau so als Stamm beschreiben oder als verschiedene Stämme. Da gibt es keinen Unterschied mehr zwischen der Welt und der Polizei.

Jerome Charyn: Warum sollte da ein Unterschied sein? Polizisten kommen aus genau den selben Milieus wie alle anderen Menschen. Das eine ist strukturierte Körperverletzung, das andere unstrukturierte - das sind parallele Leben.

Thomas Wörtche: Polizei kann nichts in Ordnung bringen...

Jerome Charyn: Nein, Polizei ist ein ganz normaler Teil der Chaos-Fabrik. Sie sorgt für exakt das minimale Level an Ordnung, das nötig ist, damit das System funktioniert. Warum sollte sie mehr machen? Warum sollte sie weiter gehen?

Thomas Wörtche: Was will denn ein ganz normaler Straßen-Cop in seinem Viertel erreichen?

Jerome Charyn: Das ist ja das Problem. Der Cop gehört heute nicht mehr zu seinem Viertel. Er wohnt in irgendeiner Suburb und die Stadt ist der Ort, wo er sein Geld verdient. Alles andere interessiert ihn nicht, er gehört nicht dazu. Früher war das anders, da wohnte der Cop im selben Viertel, die Leute haben ihn gekannt, er war eine Art örtliche Majestät. Heute kommen mir Cops vor wie Sozialarbeiter, sie bewirken gar nichts, sie können nicht mal Leute daran hindern, sich gegenseitig umzubringen.

Thomas Wörtche: Wenn die Polizei eine Stadt nicht mehr strukturieren kann, von der Verwaltung ganz zu schweigen, wer kann das dann, auch wenn Chaos herrscht?

Jerome Charyn: Darauf gibt's verschiedene Antworten. Bevor die Bundespolizei versucht hat, mit ihrer persönlichen Vendetta die Mafia-Bosse los zu werden, da gab's eine 'andere' Polizei, eine Verbrechens-Polizei, die dafür sorgte, daß das Geschäft lief, daß sie ihre Prozente bekamen, daß die Viertel sicher waren, weil sie selbst darin lebten. Ich fürchte, daß wir bald Soldaten haben werden, die die Polizeiarbeit in den Städten machen müssen.

Thomas Wörtche: Das heißt Krieg.

Jerome Charyn: Das ist nur die logische Verlängerung dessen, was in Berlin schon ist. Die Polizei dort ist jetzt schon bewaffnet wie Soldaten, sie haben Maschinengewehre, Panzer...

Thomas Wörtche: Spezielle Einheiten...

Jerome Charyn: Aber die Tendenz ist klar...

Thomas Wörtche: In Ihren Romanen über New York erzeugen Sie magische Effekte. Wie herum funktioniert das? Schreiben Sie New York Magie zu oder entkleiden Sie New York der Magie?

Jerome Charyn: Das ist sehr schwierig zu beantworten. Ich erfinde gar nichts, ich habe nur einen bestimmten Blick auf die Stadt. Ich sehe sie so. Es gibt dort sehr ernstgemeinte freundliche Gesten von Leuten, die alles andere als freundlich sind und sehr ernstgemeinte Gesten des Verrats von nahestehenden und eigentlich freundschaftlichen Menschen - solche Oppositionen, solche Gegensätze explodieren. Menschen strömen hinein und hinaus, Irre töten und küssen, wie auch immer, da ist ein ständiger Fluß, und Leute driften rein und raus, und das ist die wirkliche Kontinuität. Deswegen habe ich die Idee der Stadt als Fluß, als Bewegung, als verstreute, düstere Bewegung - das macht New York aus. Die meisten Romane über New York, und seien sie noch so unterschiedlich, haben den gemeinsamen Nachteil, daß sie sich darum nicht scheren. Ich meine das nicht als Kritik, aber realistische Romane haben keine Chance gegen New York. Ich porträtiere die Stadt, wie ich sie in meinem Kopf sehe. Die Stadt ist so grotesk, daß ich das alles gar nicht erfinden kann. Ich will nichts übertreiben, aber alles ist viel, viel übertriebener als ich es je präsentieren kann. Zu jeder Struktur gibt es immer alternative Strukturen, unter New York gibt es Katakomben alter U-Bahnlinien, die ein Substruktur bilden. Unter den Schächten, wo die heiße Luft rauskommt, darunter liegt eine andere, komplette Landschaft, noch eine Stadt, die vielleicht wirklicher ist als die Stadt der Wolkenkratzer.

 

© Thomas Wörtche, 1994

 

 

Jerome Charyn, geb. 1937 in der Bronx, hat als Romancier, Szenarist von Graphic Novels, Essayist und Reporter zwei globale Themen: Metropolis New York und Mythomanie. Über New York und Berlin hat sich Thomas Wörtche mit ihm in Paris unterhalten.

Eine Bibliographie seiner Bücher finden Sie in unseren Autoren-Infos.

 

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