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Die Krimiformel als Gleitcreme für Bestseller

Thomas Wörtche über das Aufgießen reihenhauskompatibler Erfolgsrezepte

 

Überm Kanal und überm Teich wächst Unmut. Es sind nicht die geringsten Namen der Kriminalliteratur, die mit Zorn und Frust auf den Niedergang eines einst vielversprechenden Genres reagieren. "Einfältige Mordgeschichten mit einfältigen Figuren, vorgetragen in einfältiger Sprache, ohne sozialen oder ästhetischen Bezug zu irgendeiner Wirklichkeit" verlange "der Markt", wütet der Edgar-Preisträger Thomas Adcock aus New York. Etwas anderes sei dem Lesepublikum nicht zuzumuten, sagen die Verlage. Ähnliche Töne aus dem UK: Buchindustrie und Medien fühlten sich überfordert, sagt die britische Schriftstellerin Liza Cody, wenn "Kriminalromane" etwas anderes sind als Agatha Christie im Zeitgeist-Gewand. Derek Raymond (= Robin Cook), der radikalste Vertreter des noir in den letzten 15 Jahren, hatte kurz vor seinem Tod 1994 etwas vorausgesehen: Kriminalromane werden evasiver Literatur für die Mittelschichten immer ähnlicher, seit "Krimis" als schick gelten. Wer aber den Schriftstellerberuf als gemütlichen Spaziergang in Richtung Lebensstil der Mittelschicht begreift, ätzte Raymond, wird "sowieso nur Scheiße schreiben". Natürlich muß man sich nicht gleich (wie er) zu Tode saufen, um vernünftige Kriminalromane zu schreiben.

Aber es gibt noch mehr Gründe für das Unbehagen an allzu behaglichen Grusel-Schockern mit Leiche(n). "Krimi" ist inzwischen mainstream; die Krimi-Formel (Mord & Aufklärung) Gleitcrème für Bestseller. Liebesromane, "Gesellschaftsromane" à la Harold Robbins, und andere Trivialitäten, ja sogar hochliterarische Ambitionitis treten als "Krimis" verkleidet auf. Ihre Qualität kann man an Stil und Sprache ablesen, besser: An Nicht-Stil und Nicht-Sprache. An ihrer Unliterarizität. Ob Elizabeth George, Martha Grimes oder Patricia Cornwell - ihr Erfolge und deren unzählige Klons leiten sich von den Inhaltselementen Herz & Schmerz und Liebe & Tod ab. Die sprachliche Organisation eines bestimmten Leitmotivs, Verbrechen nämlich, spielt keine Rolle. Sie findet nicht statt. Beim International Writers Festival '97 in Vancouver prahlte Elizabeth George ohne Not, sie mache nichts anderes als die Brontës oder Jane Austen. Realismus des 19. Jahrhunderts also. Schon okay, daran ist nichts Schlimmes, es ist nur keine Kriminalliteratur.

Klon-Möglichkeiten gibt es viele. Wer zählt z.B. all die Privatdektivinnen im Gefolge von Sara Paretskys V.I. Warshawski? Paretsky hatte ein umfassendes literarisches Projekt: Eine Topographie von Chicago vermittels eines dezidiert weiblichen Blicks, dank dessen bestimmte, sonst eher übersehene verbrecherische Dimensionen (Kirche, White-Collar-Kriminalität) sichtbar werden. Die zahllosen Warshawski-Nachbauten brauchen gar kein Konzept. "Privatdetektivin" genügt als Sympathie-Signal, weil markttechnisch eingeführt und "erfolgsträchtig". So steht es mit fast allen erfolgreichen Rezepten der letzten Jahre. Auf unzählige Serial-Killer-Romane folgten unzählige Anwalt-Schmöker, auf die Gerichtsmedizinerin Scarpetta Heerscharen anderer Gerichtsmediziner(innen) und so weiter. Die je nach "Marktlage" produzierten Klons ruinieren nicht nur die positiven Aspekte der Originale (Scarpetta war im ersten Buch eine immerhin interessante Figur, die man sich literarisch weiterentwickelt und nicht regrediert gewünscht hätte), sondern auch - bei Lesern und Schreibern - die Ansprüche. Sie finden oft die gegenüber den Originalen einfältigere Lösung: Das Rezept von Donna Leon z.B. ist eine Simplifizierung von Michael Dibdins Figur Aurelio Zen und Magdalen Nabbs sperrig-genauen Italien-Romanen.

Aber - das hat Derek Raymond gemeint - Donna Leon bietet das nettere Unterhaltungs-Programm für die (konsumorientierte) Mittelschicht. Ihre Bücher tun nicht weh, sie konfrontieren nicht mit surrealen, beklemmenden Szenen wie Dibdins oder der rätselhaften Fremdheit, die Nabbs Italien ausmacht.

Noch einmal Liza Cody: "Es geht in Kriminalromanen darum, eine Sprache für neue Realitäten zu finden." Aber wo nur Erfolgsrezepte aufgegossen werden, kommen keine neuen Realitäten in den Blick, geschweige denn irgendwelche "Sprache". Und wenn noch so viele neumodische Gadgets im Spiel sind. Ein bißchen Computertechnik, ein bißchen neue Forensik, ein bißchen Mafia mit und ohne Russen machen noch keine neue Kriminalliteratur. Das HighTech-Getue in Philip Kerrs Bestseller "Game Over" kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß er Lady Agathas "Zehn kleine Negerlein" noch mal geschrieben hat. Und bei Etiketten wie "Katzen-", "Allergiker-" oder "Koch-" steht -Krimi nicht zufällig ganz hinten. Sie alle bedienen Nischen oder sind allgemein unverbindlich. "Krimis" sind populär und konsensfähig geworden. Und damit gleichzeitig irrelevant. Man kann sie noch nicht mal mehr kulturkämpferisch als "Schmutz und Schund" diffamieren. Sie sind schließlich schicke, teure Hardcover, keine schäbigen Paperbacks mehr.

Der US-amerikanische und britische Unmut zeigt aber auch eine Gegenbewegung an. Ein starkes Argument für Optimismus liegt in der Geschichte der Kriminalliteratur selbst: Sowohl die "klassische" britische als auch die "hartgesottene" amerikanische Kriminalliteratur haben genügend kommunikative Potentiale entwickelt, um sinnvolle Anknüpfungspunkte bereitzustellen. Britische Exzentriker wie G.K. Chesterton, Michael Innes oder Edmund Crispin haben das Rätsel-Muster stets auf solche Spitzen getrieben, daß es sich selbst transzendiert hat; die american noirs haben seit Hammett exzellente Krimis produziert, weil sie mehr waren als Krimis, aber dabei stets im Genre blieben. Das hat mit Sprache zu tun. Chestertons verblüffende Paradoxe, Innes' byzantinische Gelehrsamkeit oder Crispins satirischer Esprit sind nicht zufällige Manierismen, mit denen die Autoren ihre Geschichten von Mord und Totschlag vortragen, sondern konstitutiv für die Literarizität der Texte. Ähnlich bei den Amerikanern. Hammetts blutrünstige Verknappungen, Himes' monströs-karnevaleske Inszenierungen, Wambaughs virtuose Grotesken (in den frühen Cop-Novels) oder die politisch-analytischen Lakonismen von Ross Thomas - bei allen ist "Sprache" Bedeutungsträger und gleichberechtigt gegenüber Plots und Figuren. Alle Genannten (und viele mehr) haben mit ihren "pragmatischen" Sujets (Korruption, Straßengewalt und all die Schmutzigkeiten des Alltags) Subversion nicht nur gegen den Themenkanon der "Hochliteratur" getrieben, sondern mit der höchst kunstvollen Benutzung "un"-literarischer Sprache solche Sujets auch überhaupt erst sichtbar und literaturfähig gemacht. Das war und ist nicht reihenhauskompatibel, weil Dinge verhandelt werden, die nicht immer schön, nicht immer gut sind, aber wahr sein könnten. Gute Kriminalliteratur erkennt man auch an ihrem Anteil von "Gosse". Darin liegt ihre Stärke. Und immer hat diese (manchmal rohe, manchmal ungeschlachte, manchmal irre) Literatur offizielle Sichtweisen und Ideologeme angegriffen: Chestertons verschrobenes, mit dem Irrationalen im Bunde stehendes Pfäfflein Father Brown ist ganz bewußt gegen den rationalen Zeitgeist des Spätviktorianismus gesetzt. Und der american noir ist (historisch) wütende Sabotage am Utopia von La Merica, Kalifornien.

Mit dieser Beobachtung läßt sich auch das alte Dogma erledigen, Kriminalliteratur sei die einzige Literatur, die noch "die Wirklichkeit" widerspiegelt. Ideologischen Vekrustungen kommen fast immer daher, daß man zu wissen glaubt, was "die Wirklichkeit" sei. Kriminalliteratur von Rang hat dagegen immer mögliche Bilder von Wirklichkeit entworfen. Jerome Charyns New York ist "realistisch", weil es eine sinistre Halluzination von New York ist, und für William Marshalls Hongkong gilt dasselbe, nur unter dem Vorzeichen der bizarren Komik. Beide aber schreiben deutlich und willentlich genre-gebundene Kriminalromane. Marshall lupenreine "Whodunnits", Charyn Mafia- & Polizeiromane. Daß beider Bücher nicht in bekannte Schemata passen (sie sehen ihre Gegenstände nicht, wie man gewohnt ist, sie zu sehen und sie verletzen die Genreregeln, indem sie eigene festlegen), macht sie zu guter Kriminalliteratur und nicht zu omninöser Irgendwas-Literatur. Sie sind alles, nur nicht bescheiden und bequem.

In dieser (oft programmatischen) Widerborstigkeit von Kriminalliteratur, in ihrem permanenten Dementi des mainstream, liegen auch weiterhin ihre Potentiale. Wie die sich realisieren lassen, kann man nicht definieren. Vermutlich auf unendlich viele Arten. Wie diese Potentiale erstarren und verkümmern, das läßt sich sagen: Durch Reproduktion, Schema F inkl. Weltbild und schlechte Prosa.

Nach all dem Gesagten ist klar: Das Schisma zwischen "cosy" (britisch) und "hardboiled" (amerikanisch) ist ein Scheinproblem. Genauso die Gefahr, daß Kriminalliteratur nicht mehr unterhaltsam ist, wenn man sie mit gewichtigen Philosophien belastet. Hammett, Chandler, Himes, Simenon oder Ambler sind erkleckliche Erfolge auf dem Markt und sie haben mit all ihren skeptischen Perspektiven auf die Welt zweifellos einen hohen Unterhaltungswert. Es behauptet auch niemand, gute Kriminalliteratur sei nur, die mit rabenschwarzem Pathos der Welt ins Gesicht speit. Aber aus genau diesen Gründen muß sie ihren Platz nicht kampflos all den belanglosen Light-Varianten räumen.

Es gibt von Kenneth Abel bis Helen Zahavi eine ganze Riege von Autoren allerlei Geschlechts und Staatsbürgerschaft, die nur darauf warten, von einer breiteren Öffentlichkeit entdeckt zu werden. Der Schotte Ian Rankin gehört dazu, der in Prag lebende Kalifornier Robert M. Eversz, die Engländerin Denise Danks, die Brasilianerin Patrícia Melo und und und. Man kann sie alle nicht auf eine Formel festlegen, sie alle nutzen das Genre Kriminalliteratur aber, um mit eigenen sprachlichen Mitteln Literatur aus dieser Welt zu machen. Genauso wie eine bis eine halbe Generation vor ihnen Jerome Charyn, William Marshall, Jerry Oster, George V. Higgins und eine ganze Reihe anderer das getan haben.

Riesige Publikumsknaller sind alle - zumal in Deutschland - nicht geworden. Das hat nur partiell mit deutschen Verlagen (und Versäumnissen) zu tun, die nicht immer gerade sorgfältig mit Autoren dieser Art umgehen. Es liegt, weltweit, auch an einem galoppierenden Verlust von Qualitätskriterien und der bereitwilligen Kollaboration der Multiplikatoren bei der Durchsetzung des Glatten und Gefälligen.

Aber das wird nur eine zeitlang funktionieren. Dann ist der Flitter welk, und die Stunde schlägt wieder für eine Kriminalliteratur, die sich mit Zähnen und Klauen mit der Wirklichkeit herumprügelt.

© Thomas Wörtche, 1998
(Süddeutsche Zeitung)

 

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