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Chronique scandaleuse

Thomas Wörtche über Didier Daeninckx

 

Spätestens seit 1968 sind "Kriminalromane" in Frankreich Teil der literarischen und der politischen Kultur. Der "Polar", "Néo-Polar" oder "Roman noir" - Bezeichnungen für ein erweitertes Konzept von Literatur, die sich den Genrekorsetts nicht unterwirft, das kommunikative Potential von "Krimi" oder "Thriller" aber ausnutzen möchte, griff im Kontext der '68er Bewegung vehement in die politischen Debatte ein. In Westdeutschland etwa herrschte die reduktionistische Vorstellung, man müsse nur ideologisch "richtige" Inhalte in schon bereitstehende, populäre Formen packen, um emanzipatorische Literatur unters Lesevolk zu bringen. Das Ergebnis war bekanntlich der ästhetisch irrelevante, ideologisch spießige Soziokrimi des einfachen Weltbilds: Kapitalisten böse, Polizei repressiv, Prosa schlecht. Frankreich hatte das Glück, daß Innovatoren wie Jean-Patrick Manchette mit Intelligenz und Können dem Kriminalroman neue formale Möglichkeiten gaben, die neue Inhalte auf literarischem Wege kommunizieren konnten.

Der 1949 in Saint-Denis, im Norden von Paris geborene Didier Daeninckx stammt aus der zweiten Generation des "Néo-Polar", die von diesem intellektuellen Klima profitieren konnte. Seit den frühen achtziger Jahren stiften seine Bücher in der französischen Öffentlichkeit Unruhe und Verwirrung. Das liegt daran, daß Daeninckx mit schöner Regelmäßigkeit nationale Heiligtümer bzw. Konsense attackiert und der Grande Nation sorgfältig unter den Teppich gekehrten Dreck um die Ohren bläst. Kollaboration, Deportation jüdischer Franzosen und Algerienkrieg, OAS und französische Biographien, Mythen und Legenden, hinter denen sich Karrieren der unappetitlichen Art verbergen, zurück bis zu den Schlächtereien des Ersten Weltkriegs. Didier Daeninckx' Gesamtwerk fügt sich zu einer Chronique scandaleuse seines Landes, ohne deswegen nur in Fiktion umgegossener Enthüllungsjournalismus zu sein. Im Journalismus liegen zwar Daeninckx' schriftstellerische Anfänge (nach einer Lehre als Drucker arbeitete er einige Jahre als Lokalreporter), seine Methode ist jedoch deutlich literarisch, und deswegen haben seine mittlerweile mehr als zwanzig Romane und Erzählungen über die Grenzen Frankreichs hinaus Relevanz und Schlagkraft.

"Krimis" versuchen oft, Realitäten anscheinend fiktional zu verdoppeln. Verbrechen, wie wir sie in den einschlägigen Medien Tag für Tag zur Kenntnis nehmen, werden sozusagen noch einmal nachgestellt. Deswegen gefallen sich "Krimis" gerne in der Rolle "realistischer" Literatur und sind tatsächlich doch oft nur öde Kolportage ohne ästhetische Komponente.

Daeninckx hingegen läßt seinen Helden, seinen Privatdetektiven, Journalisten oder Polizisten, ob sie nun François Novacek heißen oder Marc Blingel oder Inspektor Cadin, gern ihren Status als artifizielle Figuren. Sie wollen und sollen Kunstfiguren sein. Sie sind, im Sinne des russischen Formalismus, literarische "Verfahren", und sie bekommen es meistens mit literarischen Sedimenten der Vergangenheit zu tun. Mit vergessenen oder verdrängten Manuskripten, mit vergrabenen Schriften, mit in Archiven verstaubten und abgelagerten Akten, mit nicht mehr lieferbaren Büchern und verstreuten Zeitungsmeldungen. In der Welt der Schriften jedoch lauern die Sprengfallen, die in der Realität explodieren. Und die Realität fühlt sich getroffen: Ein Roman von Daeninckx wurde verboten, er wurde als Psychopath und Irrer beschimpft, ein größerer Teil seiner Honorare fließt in Prozesse, und gerade war in "Le Monde" zu lesen, daß ein neuer Kläger der gruseligen Sorte aufgetaucht ist: Ein gewisser Wladimir Schirinowski. Der fühlt sich von einem Gemeinschaftswerk von Daeninckx und Pierre Drachline ungebührlich dargestellt.

Für deutsche Leser ist Daeninckx erst noch zu entdecken. Zwar hatte "Rotbuch" 1987 einen einzelnen Titel aus der Serie um den mittlerweile durch Selbstmord ausgeschiedenen Inspector Cadin herausgebracht. Aber "Karteileichen" war ebenso schlecht übersetzt wie lektoriert und blieb singulär. Es war das Buch, das Daeninckx 1984 in Frankreich schlagartig bekannt gemacht hatte, weil es in unprätentiöser, raffinierter Sprache an ein sorgfältig kollektivverdrängtes Massaker des französischen Staates 1961 an algerischen Demonstranten in Paris erinnerte und personelle Kontinuitäten zum Konzentrationslager Drancy zog, wo eifrige Beamte jüdische Franzosen zum Abtransport nach Deutschland "gesammelt" hatten. In Frankreich hat "Meurtres pour mémoires" einen Eklat ausgelöst, hierzulande wurde es kaum beachtet. Jetzt hat sich der kleine Berliner :transit-Verlag todesmutig der Werke von Daeninckx angenommen - mit feinen Übersetzungen und kenntnisreichen Nachworten von Ronald Voullié. Zwei Titel sind bis jetzt erschienen: "Das Schloß bei Prag" und "Nazis in der Metro". Wieder zwei Bücher, mit denen sich Daeninckx unbeliebt gemacht hat: Das Prag-Buch handelt vom seltsamen Nachleben der alten Strukturen in Tschechien heute und der Kooperationsbereitschaft westlicher Intellektueller mit einem totalitären System; das "Nazi"-Buch von den Schnittmengen extrem linker und extrem rechter Positionen im heutigen Frankreich. Die Anspielung auf Queneaus "Zazi dans le Métro" ist keineswegs zufällig, und das Buch ist auch eine Hommage von Daeninckx an seinen großen Kollegen Jean Meckert alias Jean Amila. Das hat Methode: Literatur entsteht unter anderem aus und gegen Literatur, und wenn sie das konsequent und ernsthaft tut, wirkt sie in die Realität - denn Literatur ist Teil der Realität.

© Thomas Wörtche, 1996
(Frankfurter Rundschau)

 

Didier Daeninckx:
- Karteileichen (Meurtres pour mémoire, 1984). Dt. von Marie Luise Knott. Berlin: Rotbuch 1987. 186 Seiten. Vergriffen.
- Die Stimme der Bianca B. (Play-Back) Dt. von Elke Rappus-Weidemann. Berlin: Aufbau Tb 28. Vergriffen
- Das Schloß bei Prag (Le Chateau Bohême, 1994) Dt. und mit einem Nachwort von Ronald Voullié. Berlin: :transit 1995. 165 Seiten. Vergriffen
- Nazis in der Metro (Nazis dans le Métro, 1996) Dt. und mit einem Nachwort von Ronald Voullié. Berlin: :transit 1996. 158 Seiten. Vergriffen

 

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