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Kriminalliteratur und Dritte Welt

Von Thomas Wörtche

 

Drei Autoren, dreimal Kriminalroman - Yasmina Khadra aus Algerien: »Der Kriminalroman ist eine schlichte, ja demütige Gattung. Nicht ich habe den Kriminalroman gewählt, es sind vielmehr meine Figuren, die mir die Gattung aufzwingen, in der sie sich entwickeln wollen. Ich mag diese Form. Man kann sie trotz ihrer Vorgaben unendlich variieren und sie erlaubt mir, unsere Gesellschaft darzustellen, wie ich sie sehe.«

Leonardo Padura aus Kuba: »Ich glaube, dass ich das Genre Kriminalroman eher benutze als dass ich es schreibe. Der Kriminalroman hat für mich eine große Tugend. Sie besteht darin, dass das Genre ein sehr dankbares ist, wenn man es mit einer literarischen Perspektive und Struktur schreibt. Das Genre versetzt einen direkt hinein in die Realität und die Gesellschaft, wo sie am dunkelsten sind.«

Pepetela aus Angola: »Ich halte das Genre für eine weniger ernste, leichtere Form, die neue Leser anlocken kann. Das Genre ist ein Vorwand dafür, die Gesellschaft zu analysieren. Das sind aber Kriminalromane im Prinzip immer. Die Werke der amerikanischen Schule der 30er und 40er Jahre haben das auch schon gemacht.«

Drei Statements von drei kapitalen Autoren aus verschiedenen Gegenden der Welt, aus verschiedenen Sprachräumen, mit verschiedenen kulturellen Prägungen. Die Ähnlichkeit der Aussagen ist bemerkenswert; der Bezug auf eine gemeinsame Tradition erst recht. Yasmina Khadra aus Algerien benutzt für seine bizarr-sarkastische Trilogie um den Kommissar Llob den französischen roman noir, der sich selbst als Weiterentwicklung des amerikanischen hardboilers seit Dashiell Hammett versteht. Leonardo Paduras »Havanna-Quartett« bezieht sich explizit auf Hammett als Gewährsmann für kritische literarische Gesellschaftsanalyse. Und Pepetela schließt mit seinen Jaime-Bunda-Romanen ganz offen an die amerikanischen hardboiler an. Eine hübsche Ironie ist dabei, dass alle drei Autoren, deren politischer Standpunkt sicher nicht als Amerika-freundlich zu bezeichnen wäre, sich damit in einer sehr amerikanischen Tradition sehen. Für alle drei hat der Kriminalroman eine eindeutige Funktion: Er ist Gesellschaftsanalyse. Im heutigen »westlichen« Diskurs ist diese Funktion zunehmend in die Kritik geraten. Das Unterhaltende, das bloß Spannende, ja das Tröstende und Evasive von Kriminalliteratur wird zumindest auf dem Buchmarkt bevorzugt. Wenn wir also von Kriminalliteratur der Dritten Welt reden, begeben wir uns auf ein Feld, das von Unklarheiten, Ungeklärtheiten und Dialektiken nur so wimmelt.

Manche können wir hier nicht auflösen. So fehlt es schon schlicht an der Grundlage. Es gibt keinen konsensfähigen Begriff von »Kriminalroman« oder »Kriminalliteratur«, der nicht wesentliche Teile des Gegenstandsbereichs ausklammern würde. Was es dagegen gibt, ist ein quasi vorbegriffliches Verständnis davon, was ein »Krimi« ist. Dieses Vorverständnis ist aber keineswegs unabhängig. Es hängt ab von Konjunkturen, Moden, Wellen - kurz dem Zeitgeist in allen seinen medialen, politischen und psychosozialen Manifestationen.

Dieser Zeitgeist wiederum ist ein hochdialektischer Gesell. Er ist kulturell verschieden, notfalls bis zur Unvereinbarkeit, aber gleichzeitig durch die »Globalisierung« der Buch-Märkte international vernetzt. In Deutschland etwa betrachtet das Lesepublikum seit einiger Zeit die Romane von Donna Leon beinahe als Norm für Krimis. Genregeschichtlich sind diese Romane regressiv, dennoch gilt alles, was nicht ähnliche Merkmale aufweist als gar kein Krimi, als mißlungener Krimi oder als einfach zu komplex.

Gleichzeitig sind Kriminalromane, die in Asien, Afrika oder Lateinamerika spielen, aus Gründen eben dieses Zeitgeists sehr beliebt: Die Erfolge von Leonardo Padura, Nury Vittachi, Qiu Xiaolong, Alexander McCalll Smith, John Burdett oder Eliot Pattison belegen diesen Trend durch ihre Verkaufszahlen. Kuba, Hongkong, Shanghai, Botswana, Thailand und Tibet sind exotische Schauplätze, die so gehäuft erst seit einigen Jahren auftreten.

Ein Blick in die Geschichte der Kriminalliteratur zeigt, wie aus Einzelfällen nur langsam ein Trend entstand: Arthur W. Upfield war in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts mit seinen Romanen um den Aborigines-Cop Napeoleon Bonaparte ziemlich allein. Erst in den 70er Jahren öffneten sich die Fenster zur Welt ein bisschen weiter: H.R.F Keatings Inspector Ghote ermittelte in Bombay, Tom Sharpes Mord-Grotesken und James McClures cop-novels sorgten für Ärger in Südafrika. Singuläre Erscheinungen wie Charlottes Jays Neuguinea-Roman »Beat Not The Bones« oder Robert van Guliks Serie um den Richter Di (angesiedelt im China des 7. Jahrhunderts) müssen wir hier außer Acht lassen. Ebenso die im US-amerikanischen Kontext bemerkenswerte Welle des ethnic sleuth im Gefolge von Tony Hillerman. Einzelne Romane von Eric Ambler, Graham Greene oder Ross Thomas blieben weitgehend folgenlos. Blockbuster-Bücher wie Frederick Forsyth's »The Dogs Of War« oder fragwürdige Safari-Schwarten wie die von Wilbur Smith konnten kaum das unvoreingenommene Interesse an ihren Schauplätzen wecken.

»Drittweltistische« Schauplätze also liegen erst seit ein paar Jahren im Trend. Von Alaska bis Manila ist alles im Angebot. Und da lauert schon die nächste Dialektik. Lesen wir zum Beispiel einen in der Türkei spielenden Roman von Barbara Nadel, lesen wir einen herkömmlichen Krimi mit einem netten Polizisten, der eher zufällig in der Türkei spielt. Die Form »Krimi« modelliert sich einen Schauplatz nach ihrem Gusto. Denn mit irgendeiner realen Türkei hier und heute hat ein solches Designer-Produkt sowenig zu tun wie ein irgendwie reales Italien mit den Märchen einer Donna Leon. Lesen wir einen Bangkok-Roman von John Burdett, lesen wir einen netten (naja, auch wenn's rauer zugeht) Polizei-Roman, der in einem Disneyland-Bangkok spielt, das sämtliche oberflächlichsten Assoziationen des TUI-Westlers gefällig bedient. Auf den Beifall des Publikums stoßen bei diesen Texten die Rätselhaftigkeit des Falles, der Action- und Spannungsquotient, die Sympathiewerte der Hauptfigur. Der ausgefallene Schauplatz bietet die bunte Kulisse. Und diese Kulisse dient als Differenz zu den klassischen Schauplätzen des Genres. Das neblige London, das gewalttätige Los Angeles oder das melancholische Schweden sind langweilig geworden. Solche Texte zielen auf den westlichen Markt, für ihn sind sie von westlichen Marktstrategen entworfen, das Dazwischenschalten des exotischen Settings ist der taste of the month, mit dem sich Produkte verkaufen lassen. (Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das schließt nicht aus, dass dabei gute Texte herauskommen können. Es geht hier um Strukturen).

Anders liegt der Fall zum Beispiel bei Leonardo Padura: Auch dort haben wir ein in unseren Augen exotisches Setting: Kuba. Die vier Teile des »Havanna-Quartetts« sind durchweg klassische cop-novels, deren Formsprache global verständlich ist. Nur ist das Kuba, das uns Padura erzählt, kein zufälliger Hintergrund, sondern ein konstitutiver. Der Beifall hierzulande gilt aber weniger der Erfüllung der angeblichen Genre-Regeln; Paduras Romane werden für eher schlichte Kriminalromane gehalten. Aber ihnen wird ein »authentischer« Surplus zugesprochen. Dieser Surplus macht vermutlich ihren internationalen Erfolg aus. Die Exotik ist also nicht auf der Produzenten-Seite, sondern nur auf der Rezipienten-Seite zu orten. Auf der Produzenten-Seite schon deshalb nicht, weil für einen Kubaner die Schilderung kubanischer Zustände keinesfalls exotisch ist. Padura wird auch auf Kuba gelesen, und zwar heftig und gierig, weil er mit kritischer Offenheit über Zustände schreibt, die jeder Kubaner kennt, die aber aus Gründen der Staatsform nicht als literatur-fähig gelten und es eigentlich nicht sein dürfen.

Das verhakt sich aufs Paradoxeste wiederum mit der Rezeption: Wenn bei uns Padura wegen seines »authentischen Sittenbildes« seiner Gesellschaft geschätzt wird, übersieht man leicht die ästhetische und politische Komplexität seiner Romane. Das wiederum hat mit dem hiesigen eingeschränkten Verständnis von »Krimi« zu tun - »als Krimi ist Padura eher schwach«. Ironischerweise hilft ein ähnlich begrenztes Verständnis von Krimi auf Kuba Padura, die Zensur auszutanzen. Indem er die Formel »Krimi« benutzt, wie er sagt, benutzt er auch die Inferiorität von Genre-Literatur im Kanon der ästhetischen Wertigkeiten - derart politischen Sprengstoff vermutet niemand in einem belanglosen Krimilein. Und als man das bemerkte, hatte die globale Verständlichkeit der Formel »Krimi« schon für schützenden Erfolg im Ausland gesorgt, der ein Einschreiten des Staates inopportun machte. Auch wenn dieser Erfolg möglicherweise auf einem Missverständnis beruht.

Schauplätze sind nicht nur geographische Orte. Sie sind auch kulturelle Orte. Sie geben die Kontexte der Romane vor. Und manchmal sogar deren Rezeption. Während Padura auf die subversive Wirkung des angeblich inferioren Krimis in seinem gesellschaftlichen Umfeld setzt, spekuliert der Angolaner Pepetela gerade auf die Popularität resp. auf die leichtere Konsumierbarkeit des Genres in seinem Land. Er kann im Gegensatz zu seinem kubanischen Kollegen unbefangener agieren, denn in Angola gibt es einen Kanon-Streit über höher- und minderwertige Literatur nicht in dem Masse wie auf Kuba. Eine Populärkulturisierung entlang der amerikanischen Pop-Kultur hat aber durchaus stattgefunden. Jaime Bunda = James Bond, diese Assoziation funktioniert. Sie ruft sogar jenseits von Inhalten, ästhetischen und/oder politischen Positionen einfach kommunikatives Potential ab. Dieses Potential kann Pepetela sogar zur Kritik eines in der Tat globalen »Kulturimperialismus« benutzen. Der allgemeinen Popularität des Namens tut das keinen Abbruch. Jaime Bunda ist alles, was Bond ist, nicht: Clever, effektiv, smart. Bunda hat recht eigentlich mit Bond gar nichts zu tun, der aber funktioniert prächtig als Multiplikator. Auf einen Werte-Kanon, gar einen Kanon-Streit muss Pepetela keine Rücksicht nehmen. Der entzündet sich dann höchstens in westlichen Ländern, wo hin und wieder gerügt wird, die beiden Jaime-Bunda-Romane funktionierten aber nicht so, wie Krimis angeblich zu funktionieren haben. Unsere Rezeption akzeptiert also nur partiell, dass Literatur jeweils einen spezifischen Kontext hat, und verwechselt unseren Kontext mit dem der gesamten Welt. (Um auch hier Missverständnissen vorzubeugen: Dies ist ein worst-case-Szenario, Pepetela sammelt kompetentes Rezensenten-Lob zu Hauf, das sich aber in der Breitenrezeption nicht niederschlägt).

Das kommunikative Potential von Kriminalliteratur steckt natürlich nicht nur in den oberflächlichen Grobreizen, wie sie Pepetela geschickt zu mobilisieren weiß. Es steckt auch in den jeweiligen Traditionen der jeweiligen Kultur. Und zwar produktiv und rezeptiv. Wenn auch verschieden. Yasmina Khadra brauchte nicht groß arabische Erzähltraditionen kriminalliterarisch umzumodeln. Dank der kulturellen Frankophonie des Maghreb konnte er für seine sarkastischen Romane aus dem algerischen Bürgerkrieg einfach auf den roman noir zurückgreifen. Der stellte alles bereit, was Khadra benötigte: Den schwarzen Humor, den politischen drive, den erzählerisch adäquaten Umgang mit Gewalt. Khadra konnte sich gleichzeitig darauf verlassen, dass diese frankophone (und angelsächsisch rückgekoppelte) Erzählform auch außerhalb seiner Landes verstanden wird. Das koloniale Erbe Algeriens erwies sich in seinem Fall als doppelt hilfreich.

Ein paar tausend Kilometer südöstlicher sieht das schon anders aus: Zwar konnte sich Meja Mwangi bei der Produktion seiner Thriller aus Kenia felsenfest auf die lange angelsächsische Tradition des genre-crossing von Thriller und Abenteuerroman (seit Kipling und Rider Haggard) verlassen; rezeptiv aber funktioniert das Prinzip nicht unbedingt.

Man kann nun spekulieren, warum das so ist. Wenn wir uns »Schwarzafrika« genauer anschauen, stoßen wir auf eine erschreckende Inkongruenz zwischen der Qualität der Kriminalliteratur und dem Erfolg bwz. Misserfolg auf unserem Buchmarkt. Meja Mwangi ist ein schwarzer Autor, ebenso wie Mongo Beti aus Kamerun. Eine ganze Reihe vorzüglicher schwarzer Kriminalautoren aus diversen Ländern sind überhaupt nicht übersetzt. Erfolge auf unserem Markt erzielen höchstens niedliche Bücher über weiße Massai oder Heia-Safari-Romane. Das riecht schon nach mehr oder weniger offenem Rassismus.

Dennoch, so einfach ist es nicht. Denn alles, was das »unbequeme Afrika« zum Thema hat, findet hierzulande wenig Sympathie. Die bösartigen, scharfkantigen Anti-Apartheid-Krimis von James McClure, böse Satiren wie »Dirty Story« von Eric Ambler, »The Seersucker Whipsaw« von Ross Thomas, »White Man's Grave« von Richard Dooling - sie alle haben dieses unbequeme Afrika zum Thema - und sie sind allesamt Romane von weißen Autoren, die - bis auf den Südafrikaner McClure - zudem mit dem »fremden Blick« von außerhalb schreiben. Und sie waren alle Markt-Flops, obwohl sie alle durchweg exzellente Romane sind. »Water Music« von T.C. Boyle ist lediglich die berühmte Ausnahme von der Regel. Es scheint da eher eine kontinentale Rezeptionsbarriere zu geben, die nichts mit der Hautfarbe und der Nationalität der Autoren zu tun hat. Wollen wir von Afrika nichts wissen? Oder wollen wir von einem Afrika nichts wissen, wenn es uns im Gewand eines Kriminalromans oder Thrillers präsentiert wird, der alle diese unbehaglichen Themen auch noch als ästhetisches Programm hat? Verquickt sich da die reduzierte stereotype (und multimedial eingeübte) Wahrnehmung eines Kontinents als Ort der Katastrophen, Seuchen und Kriege, mit der eines Genres, das diese Themen per definitionem zu behandeln verspricht?

Blickwechsel nach Lateinamerika, das ja ein gleichermassen »geschundener« Kontinent ist. Dennoch ist die Aufmerksamkeit für lateinamerikanische Kriminalromane (und solche, die dort spielen) graduell größer. Das hat einmal sicher mit der weltweiten Rezeption von Jorge Luis Borges zu tun. Dessen kriminalliterarische Vorlieben Gilbert Keith Chesterton und Agatha Christie sind einerseits in die eigene Produktion eingeflossen; andererseits hat Borges eine Reihe von Nachfolgern hervorgebracht, die seit Jahrzehnten bis heute (darunter so unterschiedlichen Autoren wie Pablo de Santis, Juan José Saer, Ricardo Piglia) an dieser Tradition weiterschreiben. Das hat dem lateinamerikanischen Kriminalroman den Vorwurf eingebracht, lediglich vom rewriting europäischer Muster zu leben. Ein ungerechter Vorwurf, denn alle Kriminalliteratur basiert irgendwo auf europäischen Mustern, weil sie literarhistorisch gesehen eine »abendländische« Veranstaltung ist.

Immerhin, mit Borges und den Folgen, konnte sich in Lateinamerika die Spielart des Krimis etablieren, die das Genre als rein intellektuelles Spiel, als raffiniert konstruiertes Mordrätsel versteht und mit dem gesellschaftskritischen und gesellschaftsanalytischen Kriminalroman konkurriert. Dagegen mobilisierte der Mexikaner Paco Ignacio Taibo II sämtliche kommunikativen Potentiale der internationalen Pop-Kultur und verschmolz sie mit Komponenten des »magischen Realismus« spezifisch südamerikanischer Provenienz, um seine gesellschaftskritischen und politischen Intentionen sowohl attraktiv als auch global verständlich zu machen.

Rubem Fonseca in Brasilien ging einen anderen Weg: Er machte das gesprochene, das alltägliche Brasilianisch zur probaten Sprache für Kriminalliteratur, die diesen Alltag erzählt. Kritisch und polemisch. Auch Fonseca begründete damit ein Art Schule, die den Kriminalroman für kritische Intentionen funktionalisiert.

Der lateinamerikanische Kriminalroman hat sich auf jeden Fall ästhetisch und politisch differenziert. Er hat eine Diskussionskultur und intertextuelle Beziehungen entwickelt. Er hat inzwischen einen Stammplatz auf dem literarischen Feld, egal, wie man ihn im einzelnen bewerten will. Im Falle Schwarzafrika ist dies (noch?) nicht gelungen. Das sagt nichts Abträgliches über die einzelnen Texte. Im Gegenteil - vielleicht kann der schwarzafrikanische Kriminalroman ohne festgefahrene Traditionen und Rückzugsgefechte mit Traditionen sich freier entwickeln. Und sei es um den Preis einer geringeren Aufmerksamkeit.

Was uns zu einem kriminalliterarisch womöglich noch »unvorbelasteteren« Kontinent führt: Asien. Dort standen überhaupt keine kulturellen Anknüpfungspunkte bereit. Weder in der japanischen, noch in der chinesischen, noch in der indonesischen, noch in der pazifischen Kultur gibt es krimi-analoge Formen. Es gibt allerdings eine für die weltweite Produktion von Kriminalliteratur signifikante Bedingung: Die auf engem Raum verdichtete Gesellschaft: die Großstadt, oder besser Megastadt. Edogawa Rampo hat auf diesem »steinernen Humus« die japanische Krimi-Tradition aufgebaut. William Marshall hat in seinen Hongkong- und Manila-Romanen eine seinen Schauplätzen adäquate Erzähltechnik entwickelt; Nury Vittachi aus Sri Lanka modifiziert bewusst europäische Erzählmuster für pan-asiatische Gegebenheiten. Christopher G. Moore funktionalisiert sein Bangkok eben nicht als touristische Kulisse, sondern macht es zum Protagonisten. Und der im Exil lebende Qiu Xioalong analysiert die chinesische Umbruchsgesellschaft anhand des Personals von Kriminalliteratur. Formal autochthon ist hier noch gar nichts, thematisch allerdings erscheint der Kriminalroman als Analyse-Instrument urbaner Gesellschaften unverzichtbar.

Wenn ich bei all den unterschiedlichen Kontexten und Verhältnissen überhaupt eine These über den Status der Kriminalliteratur außerhalb Europas und der angelsächsischen Welt wagen wollte, dann höchstens die: Das Verständnis von Kriminalliteratur als unverbindlichem, lediglich unterhaltendem oder rein intellektuell-spielerischem Genre, scheint ein Phänomen saturierter Gesellschaften zu sein. In weniger saturierten, im Umbruch befindlichen Gesellschaften dagegen scheint Kriminalliteratur als literarisch-ästhetisch verfahrendes Analyse-Instrument notwendig zu sein. Weil über ihr globales Vokabular Diskurse nicht nur in den Gesellschaften selbst zu führen, sondern diese Diskurse auch global kommunizierbar zu machen sind. Das relative Verschwinden der Saturiertheit westlicher Gesellschaften kann auch für die westliche Kriminalliteratur ein Umkippen ihrer derzeitigen Schein-Normativitäten bedeuten. Wir hätten uns dann bei der Dritten Welt zu bedanken, dass sie schon einen globalen Diskurs bereitgestellt hat, in den wir uns mit unseren Texten einklinken könnten.

 

© Thomas Wörtche, 2005

Der Text ist als Einleitung einer Sonderausgabe der Zeitschrift iz3w erschienen,
die sich mit Kriminalliteratur in der Dritten Welt beschäftigt.
Weitere Beiträge und Rezensionen sind zu finden unter
http://www.iz3w.org/rezensionen/

 

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