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Verbrechensdichtung

Thomas Wörtche über Theodor Fontane

 

Wenn man auch sonst mit "Kriminalliteratur" nicht viel zu tun haben will, als "Verkaufshilfe" scheint das Etikett allemal zu taugen. Denn ein Konzept von "Kriminalliteratur" kann nicht dahinter stecken, wenn man fünf Texte von Theodor Fontane unter dem Titel "Kriminal- und andere Fälle" unters Volk bringen will. Es handelt sich dabei um "Grete Minde", "Ellernklipp", "Graf Petöfy", "Unterm Birnbaum" und "Quitt" - in der Reihenfolge ihres Auftretens, die der Aufbau-Verlag zu einer wohlfeilen Taschenbuchkassette zusammengestellt hat.

Auf dem Hintergrund der Erfahrung, die wir heute mit "Kriminalliteratur" haben, und mit dem problematischen Verhältnis im Hinterkopf, das die deutsche Literatur mit diesem Typus der Fiktion traditionellerweise hatte und derzeit akuter denn je hat, ist das immerhin Anlaß genug, am Beispiel Fontane nach möglichen Gründen für diese Probleme zu suchen.

Theodor Fontane steht dabei im Spannungsfeld einer merkwürdigen Dialektik: Im Kontext des englischen, französischen, amerikanischen oder russischen Realismus des 19. Jahrhunderts ist er einerseits der einzige deutschsprachige Autor, der in der Spielklasse der Dickens, Flaubert, Maupassant, Melville oder Turgenjew einigermaßen mithalten kann. Er hat es zudem, wie vor ihm nur E.T.A. Hoffmann, fertiggebracht, die einzige deutsche Großstadt zum Stoff und Thema erzählender Literatur zu machen: Berlin. Das "Element of Crime" dagegen, das sich von Dickens bis Zola, von Charles Baudelaire bis Robert Louis Stevensons ("Arabian Nights") fast überall in die europäische Großstadtliteratur hineinmengte, ist ausgerechnet bei Fontane im Landleben 'exotisiert'. "Ellernklipp" im Harz, "Unterm Birnbaum" im öden Oderbruch, "Quitt" irgendwo in Schlesien, "Grete Minde" bekanntlich in Tangermünde - die Novellen und ihre Bluttaten sind ausgelagert: Aus dem Zentrum in die Provinz. Dort sind sie das unerhörte Skandalon, die große Tragödie. Lediglich "Graf Petöfy" (aus diesem 5er-Pack) spielt im städtischen Wien, und ausgerechnet dieser Text hat nur einen ganz, ganz schwachen 'kriminellen' Aspekt. Das Verbrechen hat bei Fontane, so stellt es sich dar, seinen Ort in der Literatur nur als singulärer, tragisch erhöhter Einzelfall, als "Verbrechensdichtung", ausgelagert aus seinen tatsächlichen Brennpunkten und also entsorgt. Womit freilich nicht gesagt sein soll, die deutsche Provinz sei nicht mindestens genauso mörderisch gewesen wie die französische von Guy de Maupassant. Aber um die Einsicht, daß dies so sei, geht es Fontane nicht. Seine Provinz, literarisch vorgeprägt als 'locus amoenus' schafft für die "grausige Bluttat" lediglich die nötige Fallhöhe, vor der aus sie besonders abscheulich, eben: tragisch erscheint.

Das mag verwickelt anmuten, hängt aber eng mit einer zweiten Inkongruenz zusammen. Fontane war, seine Briefe zeigen es immer wieder, zeitlebens mit Reflexionen über sein schriftstellerisches Tun befaßt. Gerade die theoretische Reibung an seinen Kollegen Zola und Turgenjew bringt ihm Erkenntnisse, die später für eine "Poetik der Kriminalliteratur" - sofern sie, wie Gilbert Keith Chesterton postulieren wird, literarische Artikulation der "Mysterien" der Großstadt geworden ist - unendlich relevant werden. In der Geschichte der Kriminalliteratur markiert dieses Postulat, das Chesterton später in seinen oft verniedlichten, oft mißverstandenen "Father-Brown"-Stories umgesetzt hat, einen wichtigen Punkt: Mit ihm konnten die "Schlichtmodelle" von Kriminalliteratur (Agatha Christie und die Folgen) leicht konterkariert werden, und wurden dies de facto auch, von Hammett über Chester Himes bis zu Jerome Charyn, Joseph Wambaugh oder Jerry Oster.

Fontane hat wichtige Reflexionsarbeit vorgeleistet, die man ohne zu zögern für eine solche eben skizzierte Entwicklung geltend machen könnte. Von "rätselhafter Modelung" ist da zum Beispiel die Rede, die den Unterschied zwischen einfacher Nachbildung der Wirklichkeit und Kunst ausmache. Er geißelt den nur "photographischen Apparat in Aug und Seele" und das "grenzenlos prosaische" - kurz, das "Unverklärte". Nun darf man sich freilich an dem Terminus "unverklärt", bzw. "verklärt" nicht stoßen - gemeint ist nicht etwa ein talmihafter Überzug über den dargestellten Wirklichkeiten, sondern ein artistisches Surplus (eine sprachlich verfaßte Vision oder Halluzination oder was immer), das zu den genauen und präzisen Beobachtungen der Wirklichkeit hinzutreten muß, um überhaupt ein ästhetisches Produkt zu schaffen. Man sieht: Die Distanz von Fontanes Überlegungen zu der lapidaren Feststellung von Jerome Charyn "Realismus hat keine Chance gegen New York", ist nicht allzu groß.

Hinter Fontanes An-Denken gegen eine Poetik der bloßen Abbildung und Verdoppelung der (schlechten) Realitäten, sein Bestehen auf einer eigenen poetischen Leistung von Literatur im Umgang mit der Wirklichkeit hängt, so gesehen, seine eigene schriftstellerische Praxis zurück. Die Verbannung des Verbrechens, die den Metropolen des 19. Jahrhunderts endemisch sind, aufs flache (oder bergige) Land einerseits, andererseits in die erdenferne Höhe der Tragödie bewirken eine neue deutsche Verzögerung: Es mag nicht nur an den alten Chroniken liegen, aus denen, anstatt aus der Realität, Fontane seine Bluttaten bezieht - von einem poetischen Surplus, von einem Vorschein der Ahnung, daß Verbrechen ubiquitär und konstitutiv für heranbrechende Zeiten oder aktuelle Zeitläufte sein könnten und daß auch daran kreative Phantasie sich entzünden könnte - davon findet sich bei Fontane kein Schimmer. Man hat uns in der Schule mit "Unterm Birnbaum" gequält - und das Gefühl der Qual ist auch heute nicht verschwunden. Die minutiösen Schilderungen von Beet, Nachbarin und Leiche bleiben im Niedlichen, Idyllischen, das Verbrechen bricht dort ein und vermag dennoch nicht Spannung, Neugier oder Interesse zu erregen, weil die Methoden, mit denen es verhandelt wird, die alten zopfigen der Dorfgeschichte sind. Inklusive transzendentaler Absicherung, möge die auch "Schicksal" heißen oder determiniert sein.

Fontanes "Kriminalfälle" - so gelungen sie im Rahmen staubiger Novellentheorien sein mögen - formulieren ein notorisches Elend der deutschen Literatur im Umgang mit "Verbrechen": Skandalisieren und pädagogisieren, egal mit welcher Teleologie. Also verdrängen und in Reservate verweisen.

Daran ist natürlich nicht Theodor Fontane schuld, bewahre. Aber es ist faszinierend zu beobachten wie ex post und quasi von außen betrachtet ein an einzelnen Punkten durchaus avancierter Autor sich in ein historisch gewachsenes Dilemma seiner "Branche" fügt. Das Dilemma ist dabei nicht etwa, daß Deutschland keine "Krimi-Tradition" im angelsächischen Sinn hat, sondern daß deutsche Literatur immer noch mit zentralen Aspekten der Realität künstlerisch lieber nicht, bzw. flau umgehen mag.

Immerhin hat der Aufbau-Verlag mit seiner flinken verkaufstechnischen Rubrizierung Fontane einer solchen Diskussion - wider Willen ? - geöffnet. Ihn zu lesen, kann auf keinen Fall schaden. Theodor Fontane: Kriminal- und andere Fälle. Mit einem Kommentar zur Stoff- und Entstehungsgeschichte. Berlin: Aufbau Verlag 1996. 5 Bände in Kassette, 890 Seiten, DM 39,90 Thomas Wörtche

© Thomas Wörtche, 1996
(Freitag)

 

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