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Frivole Spielereien mit Blut und Tod

Thomas Wörtche über Gewalt als massenmediale Erfolgsformel

 

In dem Moment, wo man zugibt,
daß in einer Kontroverse beide Seiten recht haben könnten,
hat man seine ganze Argumentation weggeworfen.

Raymond Chandler.

 

Gewalt hat keinen Anfang und kein Ende. Gewalt tritt in allen Bereichen der menschlichen Gesellschaft auf; für alle Gesellschaften ist sie konstitutiv. "Gewalt schafft Chaos, und Ordnung schafft Gewalt", schreibt Wolfgang Sofsky, denn der "Preis des inneren Friedens ist die Repression" und Repression ist immer ein Akt der Gewalt. Reale Gewalt ist im geordneten Alltag unserer Gesellschaft allgegenwärtig. "Where there's culture there's crime and where there's crime there's culture", sagt der amerikanische Romancier Jerome Charyn über den Zusammenhang zwischen funktionierendem städtischen Leben und "Mafia". "Es riecht nicht angenehm in dieser Welt, in der Gangster ganze Nationen regieren können", wußte Raymond Chandler, und setzte hinzu: "Aber es ist die Welt, in der Sie leben".

Das alles ist unbestreitbar richtig - und gleichzeitig stimmt es so nicht. Denn es gibt große Ausschnitte der Gesellschaft, die von unmittelbarer Gewalt (fast) frei sind. Oder, gesetzt man hat ein wenig Glück, in denen man nicht einmal mit Gewalt konfrontiert sein muß. Berlin, zum Beispiel, fühlt sich nicht an wie die von den BoulevardMedien beschrieene "Hauptstadt des Verbrechens", sondern größtenteils wie eine idyllische Kleinstadt.

Aber Bilder von Gewalt und Verbrechen sind überall. Sie werden in die Köpfe der Menschen geprügelt. Zwei Systeme von Bild-Produzenten rangeln dabei untereinander, wer die wirklicheren Bilder der Wirklichkeit liefert: Die "News"-, also die Nonfiction-Produzenten und die Fiction-Produzenten, egal ob mit Film, Fernsehen oder Text. Die individuelle Erfahrung der Menschen, die so vielfältig ist wie die entsprechenden Individuen, wird von den Bildwelten beeinflußt, geformt, manchmal manipuliert. Authentische Erfahrung ist dennoch möglich, trotz aller vorgeprägten Wahrnehmungsraster.

Gewalt ist schon immer Thema von darstellender Kunst. Seit dem späten 19. Jahrhundert beschäftigt sich eine Kunstform per definitionem auschließlich mit ihr: Die Crime Fiction in allen ihren künstlerischen Formen als Literatur, Film, Hörspiel, Comic oder Fernsehserie. Ein mit Curare vergifteter Erbonkel aus einem britischen mystery der 20er Jahre und ein shoot-out zwischen zwei Drogengangs in New York City aus einer cop novel von heute haben bei allen kategorialen Unterschieden ein gemeinsames Thema: Gewalt in ihrer finalen Form als Mord. Geändert haben sich nicht nur die schriftstellerischen Mittel. Von Agatha Christies harmlos-betulicher Plauderprosa bis Jerry Osters raffiniert montierten polyphonen Großstadtromanen liegt einer weiter ästhetischer Weg.

Geändert hat sich die Einläßlich- und Ausführlichkeit, mit der "Gewalt" in Texten dargestellt wird. Früher genügte, daß sich Sir Archibald ans Herz griff und umfiel, heute sind penible Schilderungen der Bahn eines Projektils durch Haut, Muskeln und Knochen bis ins Hirn eher die Regel als die Ausnahme, und besonders den Austrittwunden wird sorgfältige Beachtung geschenkt. Im Wettstreit zwischen Film und Wort hetzt das Wort den tricktechnischen Möglichkeiten des Films hinterher. Maskenbildner können scheußliche Leichen auf die Leinwand zaubern; also tun sie es. Die Literatur kann sogar ins Innere eines Organs gucken, sie kann beschreiben, was im Film nur als anatomisches Präparat zu zeigen wäre; also tut sie es. Beide, Film und Literatur, holen sich das Argument, daß Leute nicht einfach hinfallen und tot sind, wenn sie ermordet werden, aus der Realität. Und das ist richtig. Es kann nichts schaden, wenn die "aufregten alten Damen - beiderlei Geschlechts (oder auch keinerlei Geschlechts)" daran erinnert werden, daß "Mord ein Akt von unendlicher Grausamkeit ist" (Chandler).

Beim Film kommt noch ein anderer Umstand hinzu: Der Horror, den breit ausgewalzte Metzelszenen auf der Leinwand beim Publikum auslösen können, leitet sich oft nicht nur von den Bildern ab, sondern vermutlich eher von der Kombination der Bilder mit der Tonspur. Schon der berühmte Dusch-Mord in "Psycho" verliert ohne die peitschende Musik von Bernard Herrmann viel von seiner Gewalttätigkeit. Neueste, mit Dolby-Sensorround aufgerüstete Produkte können Geräusche jeder Art zum schieren Terror hochfahren. Die Literatur muß sich auf das Geschick der sprachlichen Inszenierung verlassen, wenn sie ihre Leser terrorisieren will.

Über die Funktion von Gewalt in den jeweiligen Werken sagt das alles zunächst noch nichts. Gewalt in all ihrer Scheußlichkeit zu zeigen, ist per se noch nichts Verwerfliches. Falls man sich einig ist, daß Gewalt etwas Scheußliches ist. "Gewalt ist nicht sexy", sagt die britische Schriftstellerin Liza Cody, aber Sex & Gewalt ist eine massenmediale Erfolgsformel. Mit Gewalt-Darstellungen läßt sich viel Geld verdienen, das gilt auch für die Literatur.

Die zur Zeit bestbezahlte Autorin von Kriminalromanen ist die Amerikanerin Patricia Cornwell, man munkelt von zweistelligen Dollarmillionen Vorschuß pro Buch. Cornwells Serien-Heldin ist die Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta, die von Buch zu Buch in aufsehenerregende Mordfälle gerät und diese löst. Das ist nicht ihres Amtes, aber die Masche ist altbekannt. Nach demselben Prinzip funktioniert der mittlerweile über fünfundzwanzig Jahre alte Fernsehdauerbrenner "Quincy". Zwei Dinge hat Patricia Cornwell an diesem Konzept geändert: Ihre Heldin ist eine Frau (mit lesbischen Untertönen) und insofern voll im Zeitgeist. Neu ist auch die Akuratesse, mit der seitenlang Sektionen geschildert, liebevoll jede Hautschicht abgehoben, sorgfältig mit dem Skalpell jede Fettschicht zerteilt und penibel die Verfärbungen der inneren Organe mitgeteilt werden.

Im Fernsehen der frühen 70er Jahre hat man das nicht gekonnt. Ansonsten ist die Prosa von Frau Cornwell stilistisch nicht weiter bemerkenswert, die Themen ihrer Romane unoriginelle Durchschnittsware: Vergewaltiger, serial killer, militante Sekten, und die Plots schließlich sind weder überraschend noch irgendwie plausibel. Durch das ausgebreitete know how mit Knochensäge und Wundsonde (ein know how, das die wenigsten Leser kontrollieren können) entsteht allerdings ein gewisser Eindruck des "Realistischen". Dieser limitierte Detailrealismus überwölbt den hanebüchenen Unfug aller anderen Teilkomponenten, sofern sie diesen Realismus-Bonus ebenfalls für sich beanspruchen. Im richtigen Leben wäre Kay Scarpetta längst aus dem öffentlichen Dienst entfernt worden. Sie kann nur als literarische Märchenfigur existieren. Die geschilderten gerichtsmedizinischen Vorgänge, die keinen Arzt erschüttern können, sind als Sensation inszeniert. Sie sollen den Lesern die Folgen von physischer Gewalt vor Augen führen und sind selbst gewalttätig. Sie machen gruseln. So wird "realistisch" dargestellte "Gewalt" an toten Körpern zum Verkaufsgag für eine märchenhafte Formel. "Gewalt" ist bei Cornwell semantisch "leer", bedeutungslos.

Andrew Vachss und James Ellroy, beide Lieblinge des ZeitgeistFeuilletons hierzulande, qualifizieren sich angeblich als besonders "realitätstüchtig". Ihre Qualifikation ist die Exaltation von Gewalt. Vachss' Held Burke, ein mit Schußwaffen behangener Paranoiker, setzt in den Romanen Ultrabrutalität gegen "Das Böse" ein. Daß man das darf, ja muß, begründet die Privatperson Andrew Vachss außerliterarisch. Vachss führt auch im wirklichen Leben einen Kreuzzug gegen "Das Böse". Das sind für ihn "Kinderschänder", die - entgegen allen Tatsachen - verantwortlich seien für das Elend der Welt. Burke und seine Kampfgefährten, jeder eine veritable Tötungsmaschine, streifen durch ein New York, das von Gewalt durchtränkt ist. Diese ubiquitäre Gewalt kann nur durch noch extremere Gewalt bekämpft werden. Und nur Vachss weiß - in literaricis wie auch realiter - wie die Wirklichkeit wirklich ist: Gewalttätiger, als wir sie uns je vorstellen können. Selbst wenn wir uns auf genau denselben Straßen in New York bewegen, unbehelligt von Kinderschändern und durch Kinderschänderei böse gemachte Menschen. Die in den Büchern von Vachss endlos aneinandergereihten Gewaltszenen, gerne interpunktiert von sado-masochistischen Sexszenen, suggerieren eine Welt hinter der Welt. Und die ist gaaanz schlimm. So schlimm, daß Vachss' literarische Gewaltinszenierungen als außerliterarischer Beweis für die Macht des Bösen auf Erden dienen müssen.

Ein angesehener Soziologe wie Claus Leggewie ist blauäugig dieser Doppelstrategie aufgesessen und hat mit Vachss zusammen ein Gesprächsbändchen mit dem Titel "Über das Böse" veröffentlicht. Vachss tritt gerne mit Augenklappe und Dreitagesbart auf. Deswegen sind viele vermutlich auch bereit, an seine Inszenierungen zu glauben, und fragen lieber nicht, warum eine solch böse Welt mit denselben literarischen Mitteln zu erzählen ist, wie sie auch Konsalik für seine Heile-Welt-Romane benutzt. Realistisch sind die Gewaltdarstellungen bei Vachss keinesfalls, auch wenn sie so tun. Sie sind - breit ausgemalt - böse, wenn von den Bösen begangen, gut, wenn von den Guten. Die Figur Burke soll der Anti-Bürger sein, aber nur, weil er konsequent und radikal gegen das Böse operiert. Die Politik tut nichts gegen das Böse, also muß es der Outcast selber tun. Burkes Paranoia stellt sich als die "realistische" Interpretation der Wirklichkeit dar. Am Ende ist alles wieder gut. Aber das ist eine Lüge. Und die beginnt damit, daß die Welt nie so kaputt war, wie Vachss uns glauben machen will.

Der andere böse Bube ist James Ellroy. Er ist der Profiteur des serial killer-booms, der in den 80er Jahren die literarische Parallelaktion zu den Verheerungen der Reaganomics war. Jonathan Demmes Film "Das Schweigen der Lämmer" war das Nachspiel in den 90ern. Serial killer wurden als Romanstoff in den USA in dem Moment interessant, als die gute, alte Gattung der Verbrechensreportage (auch true crime genannt) endlich kommerziell interessant zu werden versprach. Reduziert auf die schrillen und sensationellen Details das kannibalistische Süppchen in der Tupperdose, Menschenteile mündchensmaß in der Tiefkühltruhe. Unter solchen Verbrechen können wir uns alle etwas vorstellen. Das "Böse" heißt jetzt: Monster, Ungeheuer, Bestie, Sozio- oder Psychopath. Für den Gewalt-Voyeur echt in allen ekligen Details aufbereitet, als true crime.

Das Schönste am Sozio/Psychopathen ist, daß man ihn jagen und am Ende zur Strecke bringen kann. Die fiction zog schnell nach. Sie wollte den Wettlauf um die Realität gewinnen. Ellroy hat eine Hagiographie des serial killers als road movie abgeliefert, ihn als American hero gefeiert und aus der spannenden Jagd auf ähnliche Mordbuben gleich eine ganze Roman-Trilogie gemacht. Jäger und Gejagter werden zu gleichwertigen Spielern, die Leichen fallen am Rande an und erhöhen ob ihrer Scheußlichkeit den Einsatz. John Sandford und andere mehr oder minder begabte Autoren spielen mit diesem Prinzip wie mit Klötzchen. Bret Easton Ellis bediente mit "American Psycho" den Yuppie, der schon alles hat, mit dem gewünschten Surplus und dem Markennamen drauf. Die Unterschiede verschwimmen, hat man zehn oder zwanzig dieser romanartigen Dinger gelesen. Was in Erinnerung bleibt, ist ein dampfender Haufen Eingeweide und die Gewißheit, daß es überhaupt keinen Sinn macht, nach Grund und Ursprung von solchen Bestialitäten zu fragen.

Das mag sogar richtig sein. Alle Zeiten hatten ihre irren Mörder. Sie waren aber nicht immer gleich interessant. Aber in Krisenzeiten (dem Spätviktorianismus, der Weimarer Republik und den Post-Vietnam-USA der Reagan-Zeit) läßt sich "das Böse" gern zur Ikone simplifizieren. Und wenn es gar in Fiktion und Nicht-Fiktion gleichzeitig beschworen wird, dann nennt man diesen vereinten medialen Angriff aufs Publikum "moral panic". Mit "moral panic" anhand von Haarmann und Kürten wurden in der Weimarer Republik Polizeigesetze durchgepowert, die bruchlos in die Zeit ab 1933 mündeten. "Moral panic" pumpte in den 80ern Riesensummen in das serial killer-profiling-Projekt des FBI in Quantico, Va., während sich gleichzeitig die Polizei aus den von Schwarzen und Hispanics bevölkerten inner cities davonmachte. "Moral panic" erreicht man am besten durch die Reduktion von "Verbrechen" auf sinnenfällige Akte des Schlachtens. Die Bücher von James Ellroy feiern diese Akte des Schlachtens. Kein Wunder, wäre er doch "Beethoven, Hitler, Gott", wenn er "Komponist, Politiker, Religionsgründer" wäre. Als Schriftsteller bleibt ihm die Herstellung von Schlachteplatten. Dafür ist ihm jedenfalls die Medienlandschaft dankbar. Jedes neue Buch von Ellroy wird und sei's nur als gedankenfreie Nacherzählung als Sensation rezensiert. In den USA greifen allmählich neue Polizeikonzepte (wie CAPS in Chicago), und analog ist der serial killer dort kein Thema mehr. Nur die deutsche Verspätung erhebt ihn zur "Zeitgemäßen Physiologie" (SZ).

Was bleibt? In der Literatur ein deutliches Plus an exzessiver Brutalität. Im richtigen Leben immerhin eine zarte Diskussion, wie Gesellschaften mit diesem Tätertyp umgehen sollten. Irrelevant bleibt er weiterhin als "Bedrohung für die Gesellschaft" und als Inspirator wichtiger Literatur.

Ausgerechnet ein Buch, in dem es möglicherweise gar keinen serial killer gibt, ist der literarisch gelungenste Roman zum Thema: "Die Stadt, das Messer und der Tod" des Katalanen Andreu Martín. Dauernd passieren irgendwo in Barcelona grauenhafte Bluttaten, aber was ist wirklich passiert? Im Radio wird pausenlos geplappert über den serial killer aus psychoanalytischer, marxistischer, wirtschaftssoziologischer Sicht, serial-killer-Azubis unternehmen ihre ersten ungelenken Mordversuche, aber das Monster selbst verschwindet hinter dem Nebel seiner sekundären Bearbeitung. Dieser serial killer ist ein Ergebnis der Geschichte der Kriminalliteratur. Die Pointe ist bemerkenswert für Andreu Martín. 1982 hatte er mit seinem Roman "Prótesis" die nach oben offene Brutalitätsskala des Genres mit einem neuen, fast unerreichten Spitzenwert versehen. Später ließ er ab, weil ihm - gegen seinen Willen - Gewaltexzesse zum Zwecke einer erzählerischen Analyse der postfranquistischen Gesellschaft zum Selbstwert gerieten. Dahinter steckt das Problem, daß die einzelne, losgelöst zitable Gewaltszene gar nichts sagt. An "Stellen" kann sich, wer will und wie er will, ergetzen oder entsetzen. Das gilt für Erotika wie für "Krimis".

Als besonders erschröcklich und "frauenfeindlich" mißverstand man das erste Kapitel des Romans "Ich war Dora Suarez" von Derek Raymond (d.i. Robin Cook). Es ist tatsächlich das entsetzlichste, ekelhafteste und unerträglichste Stück Kriminalliteratur, das ich kenne. Ein Axtmord an einer Frau und ein eher beiläufiger Mord an einer Augenzeugin, ausgeübt als Auftragsmord von einem veritablen Irren. Soweit wie hier ist in der Literatur wohl niemand gegangen. Dennoch kann man die Szene nicht wirklich mißverstehen. Sie soll unerträglich, ekelhaft und abstoßend sein. Grausamkeit funktioniert hier als "Choque" im Benjaminschen Sinn. Die Szene ist bei allem blutspritzenden Detailrealismus literarisch nicht als "Realismus" getarnt, sondern eingebunden in ein ganzes Konzert anderer literarischer Formen - Gesänge und Gedichte, Reflexionen und Introspektionen, die eines völlig unmöglich machen: Irgendwo Sympathien oder Einvernehmlichkeiten zu vermuten. "A novel of mourning", ein Roman des Wehklagens, nannte Raymond sein Buch. "Ich war Dora Suarez" ist ein radikales Einzelstück, ein literarischer Amoklauf, ein rohes Pöbeln und Wüten gegen eine Welt, an der der Romancier und Mensch Robin Cook bis zum Exzeß gelitten hat. Am Exzeß ist er auch wenige Jahre später gestorben. Sein Werk kann kein Vorbild sein, taugt nie und nimmer als Formel, bleibt problematisch und ist womöglich gescheitert. Es ist allerdings bei aller quälenden Exaltation des Gewalttätigen künstlerisch wie moralisch Welten entfernt von den flinken und frivolen Spielereien mit Blut und Tod.

Blut und Tod sind zu beliebigem Spielgeld geworden. Sie sind einfach und jederzeit zu haben. Sie sind beliebig einzusetzen, ihr Schockwert hat sich abgeschliffen. Als Mickey Spillanes Mike Hammer 1947 eine Frau mit den Worten "Es war ganz einfach" erschoß, tobte die ästhetische Sittenwacht allerlei Geschlechts. Gegen Cook/Raymond tobte der organisierte Feminismus. Derselbe, der Beifall klatschte, als Bella Block, die Serien-Heldin von Doris Gercke in dem Roman "Nachsaison" zwei Männer erschießt, und mit dem Eindruck, da lägen "zwei riesige Scheißhaufen", den Tatort verläßt.

Beifall auch für Sabine Deitmers Story-Sammlung "Bye-bye, Bruno", in der Frauen Männer phantasie- und liebevoll ausgedacht ermorden. Deitmers Formel ist zwar von Mr. Roald Dahl abgekupfert, aber das stört den Applaus nicht. Hauptsache, die "Gewalt" trifft den Richtigen. Sowas traut sich kein Kerl je. Noch der schundigste Machokrimi, frauenfeindlich bis ins Mark, führt am Ende den Frauenmörder seinem verdienten Schicksal zu. Mit der Misogynie von Spillane &. Co. sollte sich ein ganzes Konglomerat von "Frauenkrimis" legitimieren: Gewalt, wenn sie sich gegen Männer richtet, ist voll toll. Gercke und Deitmer sind nur in Deutschland Namen. International wird mit diesem "Frauenkrimi"-Rezept schon zehn Jahre länger abgezockt. Die "Ur-Mütter" des Trends, Sara Paretsky zum Beispiel oder Liza Cody, hatten jedoch Anfang der 80er Jahre lediglich beobachtet, wie Erfolge auf dem Buchmarkt "gemacht" werden. Von Männern, mit bestimmten Formeln und viel Werbegeld und -platz. Sie wollten die Entscheidungstrukturen des business verändern und den weiblichen point-of-view in der Produktformel aufgenommen wissen. Beides ist ihnen gelungen. Beide haben sich vom Rezept verabschiedet.

Gewalt ist zur binären Funktion geworden - "gute" Gewalt und "schlechte" Gewalt entscheiden über die Sympathieverteilung. Die Legitimität von Gewaltanwendung muß lebensweltlich von Fall zu Fall entschieden werden. Rechtsstaatlich ist sie illegitim, aber das muß fiction nicht unbedingt interessieren. Sie bleibt trotzdem in jedem Fall prekär. Dieses humane Prinzip setzen einvernehmlich mit Gewalt agierende Romane gerne außer Kraft. Aber selbst mit einem Thema wie Selbstjustiz kann man unterschiedlich umgehen. Wenn die Helden von Joe R. Lansdales Roman "Cold in July" zur Waffe greifen, dann müssen sie kotzen, sind weiß wie die Wand und zittern. Das zeigt eine Kenntnis der Realität, die man bei vielen AutorInnen schmerzlich vermißt. Und selbst den hartleibigsten Gewaltbeschwörern allerlei Geschlechts sollte es zu denken geben, daß der britische Thriller-Autor Eric Ambler ab einem gewissen Zeitpunkt Gewaltszenen so dezent wie möglich gestaltete. Nachdem er im Zweiten Weltkrieg persönlich Geschossen ausgesetzt war, und mit eigenen Augen gesehen hatte, was Geschosse Körpern antun.

Man muß Gewalt nicht selbst erlebt haben, um über sie zu schreiben. Dennoch schreibt, wer Gewalt erlebt hat, anders über sie. Das ist kein Qualitätsurteil, nur eine Beobachtung. Joseph Wambaugh, lange Zeit Polizist im Los Angeles Police Department, hat in seinen cop novels berühmt-berüchtigt "harte" Szenen geschrieben, wie zur "Therapie" eigener Erfahrung. Er hat bemerkenswerterweise Gewalt immer durch den Filter der literarischen Groteske geschildert. Anders schien sie ihm nicht mitteilbar. Literatur ist nicht die Wirklichkeit. Deswegen können literarische Gewaltdarstellungen nie so echt sein wie das "Leben".

Deswegen gibt es vermutlich auch keinen vernünftigen Grund, "Mord" als literarisches Spiel (wie im Märchenkrimi von Agatha Christie bis Ingrid Noll) übel zu nehmen - wenn die Spielregeln eingehalten werden.

Übel nehme ich all die jämmerlichen Machwerke, die die Räuberpistolen von Mord und Totschlag, Blut und Elend als ernstzunehmende Literatur verkaufen wollen. Niedlich sind in diesem Zusammenhang noch Elizabeth George und Martha Grimes, die beiden US-Ladies, die "britische Krimis" schreiben wollen und todernst quiekkomische Albernheiten über die Inseln verbreiten. Weniger niedlich schon P.D. James, die den unteren Klassen keine moralische Entscheidungsfähigkeit zubilligen möchte. Deswegen legt sie der Ober- und Mittelschicht zum Beweis ihrer moralischen Überlegenheit pausenlos Leichen so hin, daß das "wertfreie" Spiel der Detektion sich nicht von irgendwelchen Realien beirren lassen muß. Oberschicht-Gewalt muß feinsinnig bearbeitet werden, Unterschicht-Gewalt, nun ja, damit beschäftigen sich gebildete Leute nicht. Natürlich soll das England der P.D. James - das ohne störendes Gelichter - das authentische England sein. Aber immerhin ist diese knochenharte politische Reaktion - für die Ms. Phyllis auf Mrs. Thatchers Betreiben prompt zur Baroness geadelt wurde, weshalb sie fürderhin in der National Gallery als scheußliches Porträt hängen muß - noch irgendwie konsequent.

Völlig unverständlich hingegen ist der Beifall von allen Seiten für Donna Leon. Nicht in Italien, wo ihre Bücher spielen. Ins Italienische will sie nicht übersetzt werden, das hat sie untersagt. Mit guten Gründen. Ihr Erfolg, zumal in Deutschland, basiert auf dem Reiseführereffekt. Sie schildert Venedig so schön, wie es die gehobenen Stände gerne lesen, weil sie es von der Studienreise her zu kennen glauben. Italiener erkennen den Fake. Aber darum geht es nicht. In ihrem letzten Roman "Vendetta" mischt sie sich in böse Realien ein. In Venedig tauchen sogenannte snuff porns auf (Videos oder Filme, bei denen die Opfer echt zu Tod gequält werden). Schlimm genug als Kulisse für morbid-schicke Stadtbilder. Schlimmer - diese Videos läßt sie in Bosnien herstellen, die Täter sind Serben, das Opfer Muslimin. Geschildert wird so ein Video einläßlich über drei Seiten. Im selben Plauderton wie die Ansicht des Markusplatzes. Es gibt keinen Zweifel: Die Szene ist "realistisch" gemeint. Aber es steckt nichts dahinter. Weder will Leon die Kriegsgreuel in Bosnien kommentieren (wie auch, in so einem Kontext?), noch will sie Gewalt von Männern gegen Frauen anprangern (dazu müßte man nicht snuff movies bemühen), noch will sie irgendetwas außer Bücher verkaufen. Und da kommt es schon zupaß, daß Sex plus Gewalt eben "gehen".

Daß man die realen Greuel eines grauenhaftes Bürgerkrieges noch künstlich steigert, um die Seiten einer belanglosen Unterhaltungsschwarte vollzuschmieren, das scheint mir eine neue Qualität von "Gewalt" im Kriminalroman zu sein.

Donna Leon ist kein Einzelfall. Der junge Brite Philip Kerr (*1956) etwa füllt einen Schmöker über das Berlin der Nazi-Zeit mit ein paar schicken so-was-von-brutalen Szenen aus dem KZ Dachau - in einem wohlfeilen, ansonsten dürftig recherchierten "Krimi", weil historische "Krimis" im Moment eben en vogue sind.

Und wo sind prima Folterszenen zu erwarten? Zum Beispiel in den Kellern der "Wächter der Revolution" im Iran. Resultat: Erfolg auf dem Buchmarkt, auch wenn der gleichnamige Roman von Joseph Koenig (der einmal ein guter, aber nicht sehr erfolgreicher Autor war) ein schlapper, dahingerotzter klassischer "Whodunit" ist und ein wirrer Politthriller obendrein. Mit dem "echten" Leid läßt sich echtes Geld verdienen, wenn die Fiktion nur simpel genug ist.

Das ist es, glaube ich, was die durchgehende Brutalisierung von "Krimis" angerichtet hat. Die Formel "Krimi" ist die Erfolgsformel des letzten Jahrzehnts. Weltweit ist Crime Fiction (egal in welchem Aggregatzustand) die am meisten wahrgenommene Kunstform. Ihre Bilder sind mächtig geworden. So mächtig, daß man sie mit der Realität zu verwechseln neigt oder so mächtig, daß die Realität gegen sie allzu friedlich aussieht. Sie suggerieren aber auch zweierlei gefährliche Botschaften: Einerseits, daß man Gewalt und Verbrechen am Ende wegbekommt; andererseits, daß man blöd ist, wenn man selbst sich ihrer nicht bedient. Beide sind politisch. Die Happy-End-Message spielt ordnungspolitischen Vorstellungen in die Hände, die nicht deswegen demokratischer sind, weil inzwischen auch rot-grün eingefärbt. Die andere Message den schamlosesten Sozialdarwinisten.

Beides ist gleich unbehaglich.

© Thomas Wörtche, 1997
(Psychologie heute)

 

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