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Das Herbstangebot an "U-Literatur", Abteilung Kriminalromane

Thomas Wörtche über Agatha Christie, James Ellroy, James Sallis, Ulrich Ritzel, Pierre Magnan, James Lee Burke und Sàndor Tar

 

Man könnte die immer wieder aufkommende Diskussion um die Bedrohung der "Literatur" durch den "Unterhaltungsroman" (wie Hanser-Verleger Michael Krüger jüngst klagte) erheblich enthysterisieren, wenn man nur die inkriminierte Unterhaltungsliteratur genauer ansehen wollte. Das Herbstangebot an "U-Literatur", Abteilung Kriminalromane, zeigt nämlich die erhebliche Bandbreite dieses Etiketts. Und damit seine Untauglichkeit als ästhetisches Qualitätskriterium.

So wurde gerade der Genre- Klassiker Agatha Christie neu übersetzt. Der "Mord im Orientexpress" (Scherz; 29,90 Mark / 15,29 ) etwa vermittelt so den Freunden der Old Lady einen feinen Eindruck vom Original. Dadurch wird allerdings erschreckend klar, wie schablonenhaft und simpel die Christie schrieb. Womit der untere Grenzbereich von "Krimi" markiert wäre.

Unbehagen auf höherem Niveau bereitet "Crime Wave" (Ullstein; 39,90 Mark / 20,40), eine Sammlung von James Ellroys Storys und Reportagen für das US-Magazin "GQ". Es ist absolut rätselhaft, wie ein und derselbe Autor brillante Texte - einen Kommentar zum O.-J.-Simpson-Prozess oder präzise Kriminalreportagen wie "Leichenfunde" - und zugleich monströs schlechte Storys verfassen kann. Hilflos irrt Ellroy dort zwischen Burroughs- Imitation und seiner geliebten Pulp-Tradition hin und her. Merke: Der Wille zur Kunst alleine macht noch keine.

Besser ist da James Sallis. "Die langbeinige Fliege" (DuMont; 14,90 Mark / 7,62 ), sein erster Roman um den schwarzen Privatdetektiv Lew Griffin aus New Orleans, ist ein formal faszinierender Episoden-Roman in vier Teilen. Wir folgen dem Auf und Ab von Griffin durch die Jahre 1964 bis 1990 und den Veränderungen der politischen Großwetterlage im Süden der USA. Wenn Sallis den Detektiv sich "wie einen Jazz-Musiker" an die Wahrheit heranimprovisieren lässt, erweist er sich als begnadeter Atmosphäriker. Dabei stehen die Kriminalgeschichten als solche nicht im Vordergrund, Gewalt und Verbrechen sind schlicht ein Kontinuum ohne Anfang und Ende.

Hoffnung für den deutschen Kriminalroman kommt ausgerechnet aus einem Schweizer Kleinverlag. "Der Schatten des Schwans" (Libelle; 39 Mark / 19,94 ) heißt der Erstling von Ulrich Ritzel, der als 59-Jähriger nicht mehr den wilden jungen Mann geben muss. Das tut der ruhigen Prosa gut, die mit klugen Schnitten und souveränen Perspektivwechseln Hochspannung erzeugt und die Geschichte vom Ex-Nazi-Arzt und heutigen Star- Pharmakologen plausibel macht. So kommt es in Ulm und um Ulm herum zu wunderbar grotesken und komischen Szenen von Behördenkrampf und Polizeihysterie. Wenn Ritzel in Zukunft nur etwas weniger auf Pärchen wie Stefan und Harry schielen möchte - denn die gibt's so nur im Fernsehen.

Jede Trennung zwischen Unterhaltung und Literatur überschreiten endgültig die Bücher des provenzalischen Romanciers Pierre Magnan. "Das ermordete Haus" (Fretz & Wasmuth; 39,90 Mark / 20,40 ) ist ein gewaltiger, düsterer Roman aus den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, der das Midi als eine von Naturgewalten geschüttelte und von psychischen Verheerungen heimgesuchte Landschaft zeigt. Ein Haus, in dem einst eine ganze Familie abgeschlachtet wurde, wird von dem einzigen Überlebenden dieses Massakers 20 Jahre später "ermordet": Stein für Stein reißt er es mit nackten Händen ab, um der Bluttat von damals auf die Spur zu kommen. Die böse Wahrheit jedoch, die er dabei aus dem Gemäuer zerrt, wäre besser nie ans Licht des Tages gekommen. Ein schauerliches, ungemein intensives Buch.

Ähnliches gilt für James Lee Burke, der wie die Kollegen James Crumley oder Elmore Leonard eine viel authentischere amerikanische Literatur vertritt als die auf den europäischen Geschmack zugeschnittenen Mainstream-Autoren Updike, Roth & Co. Burkes "Dunkler Strom" (Goldmann; 14,90 Mark / 7,62 ) spielt in einem texanischen Kaff names Deaf Smith, verknüpft mit grandiosen Traumbildern die raue Vergangenheit der Gegend mit der nicht minder unbehaglichen Gegenwart und verkleidet eine zeitgenaue Story um korrupte Geheimdienstler als klassisches Vater-Sohn- Stück. Die Konfrontation kleinstädtischer Aggressivität mit dem Heilsversprechen der Natur ist wahrlich nichts Neues, aber Burkes Variation des Themas ergibt dann doch hohe Kunst.

Rätselhaft ist der Entwurf von Sàndor Tars "Die graue Taube" (Eichborn; 39,80 Mark / 20,35 ). Der Untertitel "Ein Roman über das Verbrechen" weist auf die traktathaften Elemente dieses kafkaesken Stückes hin. In einem ungarischen Provinznest verbluten Menschen. Aus heiterem Himmel. Tauben attackieren, und die Ordnung der Dinge fliegt auseinander. Kommissar Molnàr versucht die Apokalypse zu stoppen. Bis hin zu Showdown und Auflösung ist das ein lupenreiner Krimi, und mehr: eine prophetische Halluzination, eine visionäre Metapher der ungarischen Gesellschaft, ein "offenes Kunstwerk" im besten Sinn. Kein Mensch käme auf die Idee, diesen Kriminalroman als "Unterhaltung" zu bejammern.

 

© Thomas Wörtche, 1999
(Die Woche, 05.11.1999)

 

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