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Kriminalliteratur ist Literatur

Bestandsaufnahme eines Genres

Thomas Wörtche im Interview mit Carlo Bernasconi

 

Carlo Bernasconi: Wie lange dauert Ihre Beschäftigung mit dem Kriminalroman schon?

Thomas Wörtche: Angefangen, intensiv Kriminalliteratur zu lesen, habe ich in den mittleren 1970er Jahren, als Ausgleich zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur jener Zeit. Ab den mittleren 1980ern habe ich mich dann auch beruflich mit Crime Fiction aller Sortierungen beschäftigt.

Carlo Bernasconi: Was kehrt immer wieder zurück - was ist definitiv Vergangenheit, sowohl inhaltlich als auch sprachlich?

Thomas Wörtche: Erstaunlich vieles veraltet dann doch - vor allem die frühen Klassiker sind m. E. nur noch museal, insofern sie wirklich nur "Krimis" sind. Agatha Christie oder Conan Doyle geht heute nicht mehr, weder intellektuell noch ästhetisch. Da bedarfs schon einer energischen Revision (wie z.B. Guy Ritchies Sherlock-Holmes-Verfilmung, um zu zeigen, was in einem Klassiker einst gesteckt hat und was die Rezeption rausgetrieben hat.) Anders sieht's mit Kriminalliteratur aus, die zu einem eigenen point-of-view auf die Welt geworden ist: Glauser, Simenon, Ambler... die sind, weil grandiose Schriftsteller, auch heute noch sehr gut lesbar.

Carlo Bernasconi: Krimi-AutorInnnen sind Serienschreiber, von Maigret über Highsmith bis Donna Leon. Das mag das der Identifikation des Lesers mit AutorIn und ErmittlerIn dienen. Warum kennt - mit Ausnahme von Fantasy (Bis(s)-Romane) - dieses Genre so genannte "Wiederholungstäter"?

Thomas Wörtche: Die Frage kann man auf verschiedenen Ebenen beantworten: Leser möchten Hauptfiguren, die sie schon kennen. Autoren können mit ihren Hauptfiguren durch die Jahrzehnte wandern und beides verändert sich: Figur und Welt. Das kann spannend sein. Wenn "der Markt" diktiert, dann leiden Autoren unter ihren Serienfiguren, lassen sie sterben und müssen sie - notfalls contre cœur - wieder auferstehen lassen.... Das gilt übrigens für Schurken (Tom Ripley) und für Helden.... Grundsätzlich sind Serien noch ein Echo auf den Charakter "serieller Literatur", den Kriminalliteratur schließlich auch hat.

Carlo Bernasconi: Und was ist das Prickelnde daran?

Thomas Wörtche: Im günstigsten Fall beobachtet man Figuren wie gute Bekannte über Jahre hinweg, will mehr über Hintergründe erfahren, oder über das Schicksal der Helden - z.Zt. interessiert mich das eigentlich nur bei der Figur Jack Reacher von Lee Child.... Im ungünstigsten Fall langweilt die Serienfigur, weil sie und ihr Schicksal den ganzen Roman überwölbt und übertäubt, siehe Wallander.

Carlo Bernasconi: Sie haben in Kooperation mit dem Unionsverlag den Krimi aus Ländern "salonfähig" gemacht, die sonst kaum den Weg in den deutschsprachigen Buchhandel gefunden hätte, also aus der südlichen Hälfte der Erde. Welches sind die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale in dem Genre gegegnüber dem nach wie vor angelsächsisch dominierten Krimi?

Thomas Wörtche: Noch: Dass Kriminalliteratur in vielen Ländern Asien, Lateinamerikas, Asiens und Australiens prononcierterer Teil der Gegenwartsliteratur sind als das bei uns der Fall ist, dass sie natürlich auch keine Flucht aus den viel unschöneren Realitäten anbieten wie unsere üblichen Gräuelschlocker und dass sie Diskurse in ihren Gesellschaften anstossen, resp. Teil gesellschaftlicher Diskurse sind - etwas, das es in der europäischen Romania noch eher gibt, sonst aber nur sehr marginal... Aber natürlich sind auch diese Kontinente allmählich "globalisiert" - das sieht man sehr schön am Beispiel Südafrika... da klinken sich Thriller aus dem nationalen Diskurs aus und liefern internationale Standardware mit einfachen, global verständlich Kurzbotschaften: Südafrika = Exzessive Gewalt (Roger Smith) oder Afrika = Magie/Okultismus (Richard Kunzmann)...

Carlo Bernasconi: Welche Trends lassen sich daraus destillieren? Eine andere Form von "Bosheit" etwa?

Thomas Wörtche: Mit Trends muss man vorsichtig sein - aber ich denke, der weltweite Boom generiert zunehmend Bücher, die global einsetzbar sind und demenstprechend immer mehr zum restringierten Code greifen müssen, um wirklich erfolgreich zu sein. Wenn Sie sich z.B. die unglaubliche Schlichtheit und Simplizität eines Patterson-Projektes anschauen oder ein Buch des im deutschsprachigen Raum erfolgreichsten Autors Andreas Franz, da muß man schon staunen. Die Schere wird weiter aufgehen, zwischen blendend verkäuflichem Lesestoff für ein erfolgreich auf der Couch sediertes Publikum auf der einen Seite und qualitativ immer besser werdender Crime Fiction für eine durchaus sehr, sehr beachtliche Minderheit auf der anderen Seite, die aber dennoch ein mehr als auskömmliches Marktsegment bedienen kann...

Carlo Bernasconi: Mittlerweile ist klar, dass der Krimi lediglich eine Transportschiene für ganz andere Botschaften dient: Sozialkritik ist nur noch im Krimi denkbar und konsumierbar, mindestens für den deutschsprachigen Leser. Teilen Sie den Eindruck, dass diese Kritik an den herrschenden Verhältnissen in der Teflonumgebung einer spannenden Geschichte nie beim Leser ankommt?

Thomas Wörtche: Kriminalliteratur ist Literatur. Als solche kann sie, was Literatur und nur Literatur kann. Sozialkritik ist eine Option von Literatur, aber wenn Sozialkritik ihren einzigen populären Ort in der Literatur, in der Kriminalliteratur hätte, dürfte sie sich wahrlich nicht wundern, dass sie nicht wahrgenommen wird.
      Und wenn Sozialkritik einfach - und da haben Sie völlig recht - konsumierbar wird, dann ist sie vermutlich nicht mehr sehr kritisch... Ich denke, Kriminalliteratur kann sehr schmerzhaft sein - aber nicht wegen kritischer Thesen, sondern weil sie immer darauf bestehen kann, dass man die Welt anschauen kann und soll als wie uns das offiziell immer wieder nahegelegt wird.

Carlo Bernasconi: Dann geben Sie mir doch bitte ein Beispiel dafür, wie ein Krimi die Wahrnehmung beeinflussen kann?

Thomas Wörtche: Nehmen Sie den Tabor-Süden-Dekalog von Friedrich Ani. Höchst erfolgreich, ästhetisch eigenständig. Eines der allerwichtigsten kriminalliterarischen Projekte der letzten Dekaden, u.a. weil es nicht um Mordfälle geht, sondern um vermisste Menschen. Und weil der Dekalog all dies ist, sehen wir manche der Marginalisierten, Vereinsamten, Isolierten unserer Gesellschaft schon anders - nicht dramatisch, sondern schleichend, subkutan. Und kein Mensch, der Leonardo Paduras Kuba-Romane kennt, wird die Insel und den Castrismus nach der Lektüre noch genau so sehen wie vorher.

Carlo Bernasconi: Krimis funktionieren in aller Regel nach einem einfachen Schema: Erst die Tat, dann die Ermittlung - also eine retrospektivische Aufarbeitung eines Hergangs, der zu einer Lösung - meist natürlich überraschend - führt. Gibt es Beispiele, die dieses Schem sprengen und andere Zeitraster verwenden?

Thomas Wörtche: Naja, ich denke, diese einfache Form ist inzwischen auch historisch tot. Ein grosses Mißverständnis steckt, glaube ich, in der Vermutung, Kriminalliteratur sei einfach über eine Form zu definieren. Nach allem, was wir aber heute wissen, stimmt das nicht: Ein Roman wie »Red Harvest« von Dashiell Hammett passte schon damals nicht in Form-Formeln und tut es heute auch nicht. Wo, wie Sie richtig sagen, das von Ihnen skizzierte Schema noch stattfindet, muss ein Autor ein erkleckliches Mass an Surplus liefern, damit so etwas noch interessieren kann. Aber in den meisten sinnvollen und spannenden Kriminalromanen unserer Tage sind Gewalt und Verbrechen eher als Kontinuum zu verstehen - unendlich, immer wiederkehrend.... Andere Zeitraster, by the way, sind schwierig, weil Kriminalliteratur erzählen muss, und nicht dominant selbstreflexiv sein darf. Chester Himes z.B. hat mit »Blind, with a pistol« eines der wenigen, nicht zeitlogisch "korrekt" erzählen Beispiele geliefert; Robert Littell mit »Die kalte Legende« ein anderes....

 

© Carlo Bernasconi, 2010
(Schweizer Buchhandel
Heft 08/2010
)

 

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