Auf Platz 2 der Spiegel-Bestseller-Liste steht ein Buch über einen minderjährigen Axtmörder. Es schildert minutiös, wie der Knabe Menschen mal bei lebendigem Leib die Augen mit Säure ausätzt, dann mal mit dem Kopf voran in den Backofen schiebt und alle - als wären wir bei Karl May - skalpiert. Auf Platz 4 der nämlichen Liste finden wir ein Werk, in dem es um eine Killerin geht, die ihre Opfer auf Bambusstäbe spießt oder ertränkt oder gleich ganz und gar im Backofen brät.
Und nirgends erheben sich die Zeigefinger der üblichen Bedenkenträger, die das deutsche Lesevolk vor soviel exzessiver Grausamkeit warnen wollen. Im Gegenteil, die beiden Romane des Schweden Henning Mankell ("Die Fünfte Frau" und "Die falsche Fährte"), von denen hier die Rede ist, gelten als besonders "anspruchsvoll" (Spiegel). Ein Epitheton, das uns im Zusammenhang mit Mankell auf Schritt und Tritt begegnet, angesichts seiner Texte aber ein recht zwiespältiges Kompliment zu sein scheint. Denn die euphemistische Werbe-Rhetorik hat ja "anspruchsvoll" in die Nähe von "prätentiös, angestrengt, peinlich" gerückt: Der "anspruchsvolle deutsche Schlager" ist etwas ungefähr genauso Grauenhaftes wie der "anspruchsvolle Söldnerfilm". "Anspruchsvoll" meint eine Art Talmiveredelung von Dingen, die sich ihrer Trivialität schämen zu müssen glauben und etwas "Besseres" sein wollen. Wie Henning Mankell, dem man es nur schwer als intellektuelles Niveau auslegen kann, daß er Simenon oder Chandler als Bezugsgrößen für sein Schaffen nicht gelten läßt, sondern gleich Shakespeares "Macbeth" für den "besten Thriller aller Zeiten" erklärt. Das ist erstens dichtungslogischer Unfug ("Macbeth" ist ein Drama, Mankells Bücher sind Romane, beide haben unterschiedliche meanings of structure, und deswegen tertium non datur). Zweitens historischer Quatsch (die geistes- und literaturgeschichtlich bedingten Fragen: "Wer war's?" und "Wie wird er gefaßt?" generieren Mankells Romane, aber keineswegs Shakespeares Dramen). Und hat drittens keinerlei Explikationswert. Denn daß "Mord als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse" dargestellt werden kann, - diese fürchterliche Banalität repetieren seit Jahrzehnten Zehntausende von "Grimmis" jeder Provenienz bis zur Verblödung.
Bleibt also der strategische Wert des Shakespeare-Arguments: Es zielt auf Nobilitierung. Wenn schon nicht ernsthafterweise auf die von Mankells Werk, so doch auf die des pp Publikums, das sich an den blutropfenden Schlachteplatten im Geiste Shakespeares leichteren Gewissens ergetzen kann als an solchen im Geiste Mickey Spillanes.
Aber diese erschlichene Dignität erklärt das Phänomen Mankell noch keineswegs. Eine zweite Komponente ist das Schüren von "moral panic". Das meint das mediale Aufplustern normaler oder wenig signifikanter Tatbestände zur "öffentlichen Gefahr". Ein Paradebeispiel für "moral panic" waren die Pressekampagnen anläßlich der Herren Haarmann und Kürten zwecks Flankierung von Gesetzesänderungen. Mankells Hauptfigur in allen Büchern ist der Kommissar Kurt Wallander von der Polizei im schonischen Landstädtchen Ystad. Der grübelt dauernd darüber, warum so grauenhafte Verbrechen nunmehr auf dem Lande geschehen und nicht nur in den großen Städten, wo sie seiner Meinung nach offensichtlich hingehören. In allen acht Wallander-Romanen, die es bis jetzt gibt (fünf davon auf deutsch), gehört dieses Problem zum Nucleus der inneren Spannungsdramaturgie des Helden. Pausenlos bebrütet Wallander die zunehmende Verderbnis des Landes, konfrontiert den bukolischen schwedischen Sommer mit dem Blut, dem Modder und dem Elend, die er bearbeiten muß, wünscht sich ehrbare Schurken und einfach strukturierte Gauner, an denen die Polizeiarbeit am Menschen schön und befriedigend ist. Allein, der locus amoenus ist perdu, die Schrecken lauern überall. Wenn ein Bauer nachts seltsame Geräusche hört, würgt nicht der Marder Hühner, sondern der Mörder Nachbarn.
Die Erkenntnis von der Ubiquität des Verbrechens, die eine kriminologische Trivialität ist und die gerade Kriminalromane seit alters her beschwören - in putzigen Pfarrhäusern à la Lady Agatha und in ländlichen Metzeleien à la Jean-Patrick Manchette -, bindet Mankell in einen schon lange obsolet gewordenen moralistischen, modernitätskritischen Diskurs ein. Demzufolge stehen die Städte fürs Sündige, das Land fürs Reine, und wenn das Verbrechen aufs Land wandert, vergiftet der perverse Wertekanon der Städte das Idyll. Das ist pures 19. Jahrhundert, genauer gesagt: Katholische Romantik à la Eichendorff. Ich glaube nicht, daß Mankell das weiß und in all seiner Regression bemerkt. Aber mit solchen Denkfiguren bedient er durchaus ein Bedürfnis nach Surrogat-Weltbildern mit happy ending. Denn so sehr der in seinem kranken Herzen urbane serial killer beiderlei Geschlechts in der Provinz wütet und so sehr er deswegen Anlaß zu tiefen zeit- und sozialkritischen Überlegungen unseres Polizisten gibt, am Ende wird er gefaßt und ausgeschaltet. Und davor gibt es keine Ambivalenzen. Die märchenhafte Bestialität der Taten übertäubt - anders als in der Realität - jedes Motiv, obwohl Mankell sogar "ehrenhafte" Motive konstruiert. Rache, z.B. Er sortiert, wie sich das kaum noch ein ernstzunehmender Autor der internationalen Kriminalliteratur trauen würde, strikt nach Gut und Böse, nach Schwarz und Weiß. Das mag ein verständlicher Reflex auf den moralischen Relativismus einer falsch verstandenen juristischen Liberalität der letzten Jahrzehnte sein (der Täter als Opfer), ist aber in seiner krassen Polarisierung schiere Ideologie. Eben weil Mankell fast überhaupt keine brechenden und ambiguisierenden Erzählverfahren einsetzt. Milde Scherze in manchen Dialogen sind das Äußerste, ansonsten sind die Romane als plane Abbildung von Handlung und als plane Abbildung der psychischen Dispositionen von Polizist und Scheusal angelegt. Weiße Flächen, nicht aufgelöste Widersprüche, moralische Ambivalenzen, die Kollision öffentlicher und privater Moralitäten (außer der üblichen Bigotterie, die vor allem Politiker und öffentliche Personen definieren), all das eben, was das Leben in unseren Zeiten so kompliziert und - wo es in Kriminalromanen exaltiert und pointiert wird, das Genre so verstörend und unbequem - macht: Bei Mankell findet es schlich nicht statt. Schon gar nicht auf der Ebene der Ästhetik. Mankells Wallander-Romane sind, paradoxerweise, je gruslig verstörender sie sich aufführen, umso evasiver.
Evasivität ist sicher eine gewichtige Komponente für Bestseller-Lorbeer. Das wirklich Erstaunliche bei Mankell aber ist, daß all diese aufgezählten Implikationen auf den ersten Blick unter der extremen Spannung der Bücher verborgen bleiben. Wallander-Romane sind nämlich auch gute, stellenweise sehr gute Kriminalromane. Und zwar weil sie "vollständige" Romane sind. Mit einem generierenden Konzept (so problematisch das ist), mit sorgfältig ausgefüllten Figuren - bis auf die Killer sind das plausible Menschen, die sich auch so benehmen. Außerdem hat Mankell für ein paar Aspekte der Polizeiarbeit ein gutes Händchen Für die kleinteilige Schilderung von Ermittlungsbürokratie, für all den Frust, die Langeweile, die Sackgassen, die Enttäuschungen und Rückschläge, die inneren Dynamiken eines Teams, die politischen und medialen Nebenstränge und so weiter.
In diesen Passagen hat auch sein langsames, episch mäanderndes Erzählen seinen Sinn. Es feiert das Detail, es präpariert die verschlungenen Wege logischen Ermittlungsdenkens heraus und gibt auch Intuition und Zufall den gebührenden Raum. Zudem hat es den Vorteil, durch Retardieren die Spannung hochzukochen. Die allerdings dann doch wieder die klassische Schein-Spannung des "klassischen Thrillers" ist: Wie wird der Täter zur Strecke gebracht?
Mankell gehört damit, technisch gesehen, deutlich ins obere Mittelfeld der internationalen Liga, das er mit vielleicht drei oder vier Dutzend anderer Autorinnen und Autoren aus aller Welt teilt. Sein Bestseller-Status verdankt sich nicht der unerträglichen Leichtigkeit einer Donna Leon oder eines Tom Clancy oder wirklicher Qualität wie John le Carré (um nur drei aktuelle Listen-Plätze zu nennen), sondern, zumindest in Deutschland, einem ganz banalen Umstand: dem Verlagsort. Zsolnay, die U-Abteilung des feinen Hauses Hanser, bei dem einfach 'Qualität' unterstellt werden muß. Die oben genannten Nobilitierungsstrategien passen haargenau in das Umfeld, für das ein Buch mindestens "anspruchsvoll" zu sein hat. Hätte, durch Zufall, Mankell zum Beispiel das Schicksal seines britischen Kollegen John Harvey ereilt, wäre er in einer der großen Taschenbuchreihen gelandet, dann wäre er dort sicher ein anständiger, mittlerer Erfolg geworden und damit basta. Harvey (ich könnte ein Dutzend anderer Namen nennen, Ian Rankin etwa) ist literarisch gleichwertig, wenn nicht höher einzuschätzen als Mankell. Harveys Romane um Charlie Resnick aus Nottingham haben viele Parallelen zu Mankell (seine Serie ist älter, by the way) - Polizeiarbeit in einer Kleinstadt, kontinuierliche innere Weiterentwicklung der Hauptfigur etc. Aber eines verkneifen sie sich: Den aufgesetzten Dauer-Thrill des greulichen serial killers, der letztlich aus den realistisch gemeinten Wallander-Romanen doch nur Geisterbahn-Szenarios macht.
Damit aber läßt sich Kriminalität als Romansujet am besten entschärfen. Und somit verkaufen.
© Thomas Wörtche, 1999
(Freitag, 20.08.1999)
Henning Mankell: Die falsche Fährte. (Villospår, 1995). Roman. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2001 (1. Aufl. - Wien: Zsolnay, 1999), 506 Seiten, 10.00 Euro (D)
Henning Mankell: Die fünfte Frau. (Den femte kvinnan, 1996). Thriller. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2000 (1. Aufl. - Wien: Zsolnay, 1998), 10.00 Euro (D)