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Nach bestem Wissen und Gewissen schreiben, was in der Imagination passiert

Thomas Wörtche im Gespräch mit Jerry Oster

 

Thomas Wörtche: Mister Oster, Sie waren lange Jahre Journalist. Was hat Sie bewogen, Fiction zu schreiben? Wo liegt der Unterschied, möglicherweise dieselben Dinge aus zwei unterschiedlichen Perspektiven zu beschreiben?

Jerry Oster: Ich habe zur Zeit ein Lieblingszitat. Es stammt von Janet Malcolm aus dem Buch über Slyvia Plath - The Silent Woman. Sylvia Plath war mit dem britischen Lyriker Ted Hughes verheiratet, und das Buch von Janet Malcolm ist ein Versuch, die "Tatsachen" - in fetten Anführungszeichen - über ihre Beziehung herauszufinden. Janet Malcolm kommt zu dem Schluß, daß das unmöglich ist und sagt: "In einem nichtfiktionalen Werk erfahren wir selten die Wahrheit darüber, was geschehen ist. Das Ideal der unvermittelten Berichterstattung stellt sich regelmäßig nur in der Fiktion her, wo ein Autor nach bestem Wissen und Gewissen das berichtet, was in seiner Imagination passiert. Wir müssen den Romancier, den Stückeschreiber, den Dichter immer beim Wort nehmen, genauso wie wir meistens so frei sein müssen, das Wort des Biographen oder Autobiographen, des Historikers oder des Journalisten anzuzweifeln. Bei imaginativer Literatur sind wir nicht von alternativen Szenarios eingeengt - es gibt dort keine. Es ist so, wie es dort ist. Nur bei der Non-Fiction bleibt die Frage offen, was geschehen ist und was die Figuren gedacht und gefühlt haben."
Das ist scharfsinnig, profund und erklärt diese unbestimmte Unzufriedenheiten, die ich in meinen 12 Jahren als Journalist immer gespürt habe. Ich habe nie geschrieben, was passiert ist, immer nur Versionen davon - normalerweise die offizielle Version, die von jemandem ausgegeben worden ist, der oder die den Titel "Sprecher" oder "Sprecherin" hatte; nur sehr gelegentlich die alternative, die Rebellenversion - die Version der Studenten, die die Universitätsverwaltung besetzt haben, die Version der Anti-Kriegsdemonstranten, die die Polizei angegriffen haben oder von der Polizei angegriffen worden sind; und nur sehr, sehr gelegentlich die Version des Mannes-auf-der-Straße, des Augenzeugen oder des Zuschauers. Also, wenn der Staatsanwalt sagt, O. J. Simpson hat seine Frau umgebracht, dann sagt sein Verteidiger, daß er es nicht getan hat - die Jury kann sich für eine Version entscheiden, die Reporter suchen sich ihre Version aus, aber die Wahrheit werden wir nie wissen - und sei's aus keinem anderen Grund, als weil die Opfer - die waren schließlich mit dem Täter zusammen - tot sind, und der Täter nicht in einer Position ist, in der er die Wahrheit sagen kann. Ein Romancier aber, der könnte uns ganz genau sagen, was geschehen ist. Alles. Bis hin zu dem, was die Menschen gedacht haben. Ein Romancier könnte uns sagen, wie es sich anfühlt, so zu sterben, wie Nicole Simpson und ihr Freund Ron Goldman gestorben sind.

Thomas Wörtche: Sie haben gleich vom ersten Buch an eine sehr elaborierte Prosa entwickelt...

Jerry Oster: Ich habe für zwei Nachrichten-Agenturen - Reuters und UPI - gearbeitet, für ein Boulevardblatt, die New York Daily News, und für einen Radiosender - WOR. Alle meine Arbeitgeber haben mich dazu angehalten, vor allem schnell und knapp zu schreiben. Für elaborierte Prosa gibts keinen Platz in einer 250-Wort-Agentur-Meldung oder einer 5-Minuten-Sendung im Radio mit 8 oder 10 Themen. Wenn ich mich in meinem Romanen der elaborierten Prosa schuldig gemacht habe, dann ist das vielleicht eine Reaktion auf solche Zwänge...

Thomas Wörtche: ... die man nach zwei Sätzen als Jerry-Oster-Prosa identifiziert, wie man einen guten Saxophonisten nach 4 Takten erkennt...

Jerry Oster: Welchen Saxophonisten haben Sie im Kopf? Ich mag Charlie Parkers Balladen, aber vielleicht meinen Sie ja jemanden ganz anderen. Meine Prosa ist nicht sehr balladesk.

Thomas Wörtche: Ich habe mir für Sie keinen bestimmten Saxophonisten vorgestellt. Ich meine nur die indivuelle, ganz eigene Stimme...

Jerry Oster: Wie auch immer, die Analogie zur Musik schmeichelt mir. Musik steckt überall in meinen Büchern, Musik ist ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich höre nahezu immer Musik der verschiedensten Machart. Gerade gestern war ich in einem Club in Chapel Hill, Cat's Cradle heißt er, um mir einen Country/Rock/Folk/Blues-Sänger und Songwriter namens Jimmie Dale Gilmore anzuhören. Es war ein außergewöhnlicher Auftritt und ich fühle mich davon belebt und inspiriert, obwohl ich aufstehen und zur Arbeit gehen mußte, nach vier Stunden Schlaf.

Thomas Wörtche: Sie benutzen eine Art Leitmotivtechnik. Sätze, Satzfragmente tauchen immer wieder in Ihren Romane auf. Man hat den Eindruck, sie seien das einzig Stabile in einer sehr unstabilen Welt...

Jerry Oster: Darüber habe ich nie bewußt nachgedacht, aber ich glaube, Sie haben recht - Musik schafft Stabilität. Wir spielen unsere Lieblingsmusik immer und immer wieder, und wir kriegen sie nicht nur nicht satt, sondern sie erfrischt und belebt uns immer wieder.

Thomas Wörtche: Ihre Leitmotive sind nicht nur einzelne Sätze, sondern manchmal ganze Perioden, die sich identisch oder beinahe identisch im ganzen Buch wiederholen.

Jerry Oster: Glauben Sie's oder nicht, aber den Gebrauch von Repetitionen hab ich von Homer geklaut. 1977 oder so, als ich gerade ernsthaft angefangen habe, Fiktion zu schreiben, habe ich Alt-Griechisch gelernt, nicht in einem Kurs oder so, sondern ganz für mich, nur mit einem Tutor. Ich bin soweit gekommen, daß ich das erste Buch der Ilias lesen konnte. Homer benutzt außerordentlich viele Wiederholungen. Eine Person gibt einer anderen eine Nachricht für eine dritte. Die zweite Person wiederholt die Nachricht identisch, genauso die dritte, wenn sie sie an eine vierte weitergibt. Ich vermute, das ist ein Reflex darauf, daß die Ilias dazu gedacht war, laut vorgelesen zu werden. Ich fand das sehr kraftvoll und habe angefangen wegen dieser Power diese Technik bei meinem eigenen Schreiben einzusetzen. Und während ich das getan habe, glaube ich, habe ich angefangen zu bemerken, daß Wiederholungen etwas sind, was wir jeden Tag hören. Die Leute wiederholen andauernd beinahe wörtlich Informationen, Anekdoten, Witze, Klagen, Beobachtungen, Liebesgeflüster. Musik hat auch mit Wiederholung zu tun, und wieder glaube ich, so wie Sie vorgeschlagen haben, daß sie Stabilität, Balance, Berechenbarkeit, etwas, an das man sich halten kann, herstellt. Einen bekannten Song im Radio hören, mitzusingen - das ist eine Art, Kontinuität in einer chaotischen Welt zu finden.

Thomas Wörtche: Sie spielen auch mit ganzen Metaphern-Feldern. Zum Beispiel die ganze Mittelalter- und Rittermetaphorik in Saint Mike...

Jerry Oster: Die Ritter in Saint Mike sind buchstäblich Ritter. Oder besser: Moderne Leute, die so tun, als ob sie Ritter seien. Irgendjemand hat mal gesagt, daß "Genie die Begabung zum cleveren Diebstahl" ist, und wieder habe ich die Idee geklaut - aus einem Buch mit dem Titel Return to Camelot: Chivalry and the English Gentleman. Dieses Buch von Mark Girouard ist eine Sozialgeschichte, zu Teilen über eine Gruppe von Engländern, die am Anfang des 20. Jahrhunderts anfingen, Turniere abzuhalten, richtig mit Rüstungen, zu Pferde, Schwertkämpfen und so weiter. Das waren natürlich reiche Engländer, die nicht wußten, was sie mit ihrem Geld und ihrer Zeit anfangen sollten. Ihre sterilen, ziellosen Aktivitäten scheinen mir dieselben zu sein, denen eine Herde von heutigen "Rockstars, Playboys, Ex-Tenniscracks, Babymoguln, Nachkommen und Weicheier" frönen, wie in Saint Mike beschrieben. In dem Sinne sind die Ritter bloß eine Metapher für sich selbst, für Nachtschwärmer - die Art Leute, die ich in Violent Love als "David Byrne-Epigonen" beschrieben habe, als "SoHoEuroTrash, East Village RetroNeo."

Thomas Wörtche: Die meisten Ihrer Bücher spielen in New York und sind Bücher über New York. Ist die Stadt Ihr heimlicher Held?

Jerry Oster: Seit meinem zehnten Lebensjahr habe ich in New York gelebt, sechsunddreißig Jahre lang. New York ist meine Heimatstadt (im Orig.dt.) Egal, wo ich für den Rest meines Lebens wohnen werde, ich werde dort nie Bürger auf die Art sein, wie ich immer ein New Yorker Bürger sein werde. Das ist gleichzeitig gut und schlecht. New York ist eine lebendige Bibliothek, ein Labor, um die Welt zu lernen. Was ich über Bücher weiß, über Gemälde, über Plastiken, über Musik, Tanzen, Kino, Theater, über Sex und Liebe, über Zigaretten und Essen und Alkohol, das hab ich in New York gelernt. Ich habe gelernt, wie man kocht, wie man sich anzieht, wie man einen Film liest und ein Kunstwerk hört. New York hat mir beigebracht, wie man alleine lebt, von niemand abhängig ist, wie man sich vor Freunden und Familie versteckt, verbarrikadiert hinter Sprechanlagen und Anrufbeantwortern. Die ganze Zeit, die ich in New York gelebt habe, war ich Alkoholiker. Ich würde nicht so weit gehen und sagen, daß mich New York zum Alkoholiker gemacht hat, aber es ist ein guter Ort, um einer zu sein. Man kann in New York Karriere machen, in dem man nichts anderes macht als Trinken und Rauchen und schwarze Klamotten tragen. Aktiver Alkoholiker bin ich jetzt nicht mehr. Ich bin, im Jargon der Anonymen Alkoholiker "in recovery". Ich weiß nicht, ob ich es in New York geschafft hätte, mit dem Trinken aufzuhören, weil ich es nie versucht habe. Ich habe aufgehört, nachdem ich dort weggezogen bin, nicht gleich, aber schließlich doch. Was war die Frage?

Thomas Wörtche: Was bedeutet also New York für Sie persönlich?

Jerry Oster: Es ist ich persönlich. Ich bin es. Es ist nicht der heimliche Held meiner Bücher. Es ist die Hauptfigur (Orig.dt.)

Thomas Wörtche: Und warum haben Sie sich dann von New York nach North Carolina zurückgezogen? Haben Sie Distanz gebraucht?

Jerry Oster: Ich bin aus New York weggezogen, weil eine Frau vergewaltigt und zusammengeschlagen und liegengelassen worden ist von einer Truppe von etlichen zwanzig jungen Männern - im Central Park, nicht weit von der Stelle, wo meine Tochter und ich Schlittschuh gelaufen sind. Die Frau war einfach joggen, hat sich nur um sich selbst gekümmert, sie war nicht dort, wo sie nicht hätte sein sollen, und sie hat auf keine Art Ärger gesucht. Ich war der Meinung, daß Leute wie sie, Leute, die wissen, was um sie herum vorgeht, in New York nicht in Gefahr sind. Diese jungen Herrschaften haben mir gezeigt, daß das nicht stimmt. Sie waren bösartig, rücksichtslos und wild und ich habe gespürt, daß es unverantwortlich ist, ein Kind weiterhin in einer Umgebung aufzuziehen, die diese Herrschaften produziert hat.

Thomas Wörtche: Ihre Romane zeichnen sich durch akribischen circumstantial realism aus. Trotzdem sind es eher Visionen, Höllentrips. Der Bürgermeister von New York zündet nächstens Obdachlose im Park an, eine Staatsanwältin hat Lepra - Sie drehen die berühmte Schraube einen Millimeter weiter. Ihre Methode, realistisch zu schreiben?

Jerry Oster: Die Dinge sind für gewöhnlich so, wie sie scheinen. Es scheint so, daß O.J. Simpson seine Frau und ihren Freund umgebracht hat, und es würde mich sehr überraschen, wenn er es nicht getan hätte, egal, was die Jury entscheiden mag. Ich interessiere mich für Dinge, die nicht das sind, als was sie erscheinen. In Dschungelkampf habe ich über einen Mann geschrieben, der eine Vergewaltigung in der U-Bahn verhindert hat, indem er den Angreifer umbringt. Den Leuten in der Stadt kommt er wie der gute Samariter vor, wie der Lone Ranger, der nur seine Anonymität bewahren will. Das ist er aber nicht: Er ist ein Mörder, ein Killer auf Rachefeldzug, der sich nicht dafür gratifizieren lassen kann, daß er der Frau in ihrer Bedrängnis geholfen hat, weil ihm das Probleme machen würde. In Kältesturz scheinen die fehlenden Jahre in der Biographie der Staatsanwältin auf eine Entziehungskur wegen Alkoholismus oder Drogen hinzuweisen. Ich habe mich gefragt, was wäre, wenn die Dinge nicht das wären, was sie scheinen. Was wäre, wenn sie eine Krankheit hätte, deren Enthüllung für ihre Karriere absolut fatal wäre. Alkoholismus und Drogenabhängigkeit werden heutzutage eher leicht vergeben. Aber Lepra - Lepra wäre eine Krankheit, die man absolut nicht enthüllen könnte. Die uralten Stereotypen sind einfach viel zu stark. In Dirty Cops bringt ein Sträflig zwei Cops um, in deren Obhut er auf dem Weg zu einer Gerichtsverhandlung ist. So sieht es aus. Aber ich habe mich gefragt: Was wäre, wenn jemand die beiden Cops tot sehen will, weil sie etwas wissen und ihre Ermordung auf eine Art arrangiert, die keinen weiteren Verdacht aufkommen läßt.

Thomas Wörtche: Ihre Texte sind Montagen, Patchworks aus Stimmen, Geräuschen, Erzählungen, Gerede, Musik, Jingles, Werbesprüchen und so weiter. Welche Kompositionsprinzipien gibt es da? Musikalische?

Jerry Oster: Wie gesagt, Musik ist fürchterlich wichtig für mich. Wir definieren uns sehr präzise über unseren musikalischen Geschmack, über unsere Wahl, welchen Sender wir hören. Wenn ich bei Ihnen zu Hause zu Gast bin oder wenn ich Ihr Auto ausleihe, dann besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, daß ich andere Sender einstelle als Sie. Jeder Mensch ist wie eine Antennne, die sehr spezifische Signale anzieht.

Thomas Wörtche: Und was ist Ihre Lieblingsmusik?

Jerry Oster: Meine Frau und ich mögen eine Menge Arten von Musik gemeinsam. Als wir geheiratet haben, haben wir auch unsere jeweiligen LP, Kassetten und CD-Sammlungen geheiratet, und es gab unter hunderten und hunderten nur drei Doubletten - es waren übrigens Aretha Franklin, Arlo Guthrie und "Missa Luba". Es ist übertrieben, aber manchmal glaube ich, wenn ich den Ghetto Blaster von einem Afroamerikaner hätte, der meistens Rap hört, würde ich es nicht schaffen, ihn auf Sender einzustellen, die meine Art von Musik spielen. Und wenn er irgendwo meinen Walkman finden würde, würde der keinen HipHop für ihn spielen.

Thomas Wörtche: Wenn Sie für New York einen Soundtrack entwerfen sollten...

Jerry Oster: In Filmen gäb's so wunderbare Möglichkeiten, aber die werden nie ausgenutzt. Film arbeitet mit Musik, aber es ist immer die Musik des Filmemachers, nie die Musik der Figuren. Man sieht eine Figur, wie sie die Straße entlang fährt und man hört einen Song, aber man hat nicht das Gefühl, daß die Figur den Song hört. Nur sehr selten sieht man, daß eine Figur ein Radio einschaltet oder eine CD einlegt, die wir dann hören, wie er sie hört. In Body Heat singt Mickey Rourke bei Bob Segers "Feel like a Number" mit, und in Barcelona singt und tanzt der Held zu der Aufnahme "Pennsylvania 6-5000" - beide Szenen sind sehr effektiv und sehr rar. Ich möchte, daß meine Leser bei jeder möglichen Gelegenheit wissen, was meine Figuren hören.

Thomas Wörtche: Wir sind ja ständig von Musik, bzw. Musiksplittern umgeben...

Jerry Oster: Nummer Eins der Top Ten hat immer einen Effekt auf uns, ob wir wissen, was für ein Song das ist oder nicht. Er beeinflußt andere Songs, er beeinflußt Werbe-Jingles, er bahnt sich seinen Weg in unser Bewußtsein aus den Radios anderer Leute, aus den Lautsprechern in Supermärkten und Einkaufszentren. Als meine Tochter Lily zweieinhalb Jahre alt war, war gerade Bonnie Tylers Total Eclipse of the Heart Nummer Eins. Wir hatten weder die Platte noch die CD, wir haben es nur im Radio gehört. Eines Tages im Drugstore dudelte der Song. Lily, die auf meiner Schulter saß, hat mich an den Haaren gezogen und gesagt: "Radio Tylor".
      Die Musik der nächsten Zukunft wird übrigens Rap und HipHop sein, wie immer man das nennen mag. Meine Lieblings-CD im Moment ist von den Digible Planets. Die Rapper fangen an, Blues und Jazz zu samplen. Ziemlich bald werden sie anfangen, klassische Musik zu samplen. Gleichzeitig fangen Jazz- und Bluesmusiker an, ihre Formen zu sprengen. Passen Sie mal auf. Wenn er lange genugt lebt, macht auch Frank Sinatra noch einen Rap-Song. Tony Bennett wird's auf jeden Fall tun.

Thomas Wörtche: Nochmal nach New York. In einigen Büchern benutzen Sie die Internal Affairs Unit des New York Police Department als Perspektive auf die Stadt. Cops die hinter Cops her sind. Paranoia als Prinzip?

Jerry Oster: Ich bewundere Polizisten. Wir rufen sie an, wenn unsere Katze auf dem Baum sitzt und nicht runterkann, wenn das Klo verstopft ist, wenn die Lichter ausgehen, wenn unser Nachbar umgebracht worden ist. Wir erwarten, daß sie sofort kommen und was machen mit unseren Problemen. Außerdem erwarten wir, daß sie ehrlich sind und gerecht und vernünftig und daß sie natürlich auch die Rechte unserer gewalttätigsten, unsozialsten Mitbürger respektieren. Wir wollen nicht, daß sie irgendwo essen gehen, ohne zu bezahlen, oder eine Flasche Schnaps als "Dankeschön" annehmen. Ganz sicher wollen wir nicht, daß sie Drogen von einem Dealer klauen und sie selbst mit Riesengewinn verkaufen. Wir wollen nicht, daß sie lügen und andere dazu zwingen zu lügen, um solche Aktivitäten zu decken. Wir wollen nicht, daß sie Leute umbringen, die ihnen zufällig bei ihren illegalen Unternehmungen im Wege sind. Aber all solche Sachen passieren und irgendwie glaube ich, daß wir uns noch hilfloser fühlen, wenn die Polizei korrupt und unehrlich ist als wenn normale Kriminelle so sind. Die Internal Affairs Unit - meine Internal Affairs Unit, ist wie ein Gewissen, eine Stimme der Vernunft, eine Kontrolle. Und sie ist wahrscheinlich eine Phantasie darüber, wie ich meine, daß ein Police Department sein soll. Ich habe kein Zweifel daran, daß die Arbeit einer echten IAU ganz und gar so ist, wie bei meiner. Aber ich habe mich nie dafür interessiert, komplett akurat zu sein. Wichtig ist, daß die Details glaubwürdig sind.

Thomas Wörtche: Obwohl Sie zweifelsohne Crime Fiction schreiben, haben Ihre Bücher immer weniger mit formula fiction zu tun. Sie bewegen sich immer weiter weg. Wohin?

Jerry Oster: In Rancho Maria, die Taschenbuchausgabe heißt California Dead - ich glaube übrigens, daß das Buch in Deutschland nicht erschienen ist - habe ich wohlerwogen offen gelassen, ob eine der Hauptpersonen schuldig ist oder nicht. Leser und Kritiker waren darüber nicht gerade glücklich. Sie haben es für einen Mangel gehalten, für einen Fehler. Um noch einmal auf Ihre Frage nach dem Unterschied von Fiction und Journalismus zurückzukommen, zu der Behauptung, daß der Fiction-Schreiber "nach bestem Wissen und Gewissen berichtet, was in seiner Imagination passiert" - vielleicht habe ich mit dieser Regel in diesem Buch gebrochen, vielleicht habe ich das Vertrauen der Leser verletzt. Ich werde es wieder tun. Tatsache ist nämlich, daß ich einfach nicht gewußt habe, ob sie - in dem Fall war es eine weibliche Person - schuldig war oder nicht; und ich wußte auch nicht, wie ich das rauskriegen sollte. Wenn ich nochmal an so eine Figur gerate und wenn sie mich so fasziniert, wie diese Figur mich fasziniert hat, dann bin ich wohl verpflichtet, über sie zu schreiben - und es wird ziemlich sicher eine "sie" sein.

Thomas Wörtche: Sie rücken dem Elend dieser Welt mit ziemlich viel Witz, Wortspiel, Herumspielen mit verschiedenen Sprachsplittern, auch fremdsprachigen zu Leibe...

Jerry Oster: Schreiben ist für mich nicht so eine bewußte Angelegenheit. Ich setze mich nicht an die Tastatur und sage: "Jetzt benutze ich Wortspiele, Witze, Sprüche und Klischees, um mit dem Elend dieser Welt fertig zu werden." Ich schreibe einfach und rauskommen tun, besser oder schlechter, Wortspiele, Witze, Sprüche und Klischees. Wenn ich versuchen würde, ein Heideröslein zu beschreiben, wenn ich versuchen würde, hoffnungsfroh oder optimistisch oder philosophisch zu sein - ich würde erstarren. Ich würde bewegungslos auf den Bildschirm glotzen und nichts käme dabei raus.

Thomas Wörtche: Den USA fehlt seit geraumer Zeit das Feindbild. Der Kalte Krieg ist vorbei. Hat das etwas im alltäglichen Leben geändert, so wie das Vietnam-Trauma viel verändert hat. Oder: hat das Vietnam-Trauma tatsächlich etwas geändert? Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, den Ethnien, die Gewalt auf den Straßen und in den Familien?

Jerry Oster: Ich bin kein Soziologe, nur ein Beobachter. Die Dinge in den Vereinigten Staaten haben sich geändert. Die Leute sind gewalttätiger, auf den Straßen, zuhause, zu völlig Fremden und zu nahestehenden Familienmitgliedern oder Freunden. Wenn diese Gewalt das Ergebnis der Abwesenheit eines "internationalen" Feindes ist, dann wäre das eine fürchterliche Ironie. Ich glaube, daß die Gewalt einfach von der wachsenden Bewußtwerdung herrührt, daß der "amerikanische Traum" eben das ist, eine Phantasie, und daß ein paar Reiche immer reicher werden, und mehr und mehr Arme immer ärmer.

Thomas Wörtche: Vor was haben Sie wirklich Angst?

Jerry Oster: Vor Apathie. Ich fahre mit dem Bus zur Arbeit oder mit dem Fahrrad oder ich gehe zu Fuß. Um mich herum, auf dem Weg aus und in Wohngegegenden wie meine, aus und in Büros wie meine, fahren die Leute im Auto. Meistens eine Person pro Auto. Wenn es zwei oder mehr Leute sind, dann meistens eine Mutter mit Kind oder Kindern. Sie stehen an den Ampeln und warten passiv. Sie starren stur geradeaus, reden mit niemandem, nehmen nichts von ihrer Umwelt wahr. Vielleicht hören sie Autoradio, aber was immer sie hören, es berührt sie nicht, es läßt sie nicht lachen oder mitsingen.
      Ich gehe an leeren Tennisplätzen vorbei, an leeren Baseball-Feldern, leeren Fußballplätzen. Ich stelle mein Fahrrad in Fahrradständer, in denen keine Fahrräder stehen. Ich fahre Fahrrad oder jogge oder gehe durch Straßen ohne Fahrradfahrer, Jogger oder Fußgänger. Wo sind denn die ganzen Kinder, die ganzen jungen Leute? Die treffe ich noch nicht mal im Kino, das doch zumindest das heißeste Medium ist, das einem aus der Passivität reißen kann, das einem übel werden läßt, das einem eine Erektion verpassen kann oder einem sogar das Leben ändern - Filme wie Jules und Jim, Zabriskie Point, Petulia, Choose Me, The Last Waltz, Lawrence von Arabien, Battle of Algiers, Meine Nacht mit Maud - das sind ein paar Filme, die mein Leben geändert haben. Ich sehe die jungen Leute Computer- und Videospiele spielen und fernsehen, ich höre von ihnen, wenn sie per Internet kommunizieren, wenn sie Nachrichten an Computer-Anzeigen für Waffeln und Pornographie schicken - sie machen Erfahrungen mit virtuellen Welten statt mit realen.

Thomas Wörtche: Ihre Romane haben eine gewisse apokalyptische Grundstimmung. Ist das Ihre Diagnose für die Welt? Oder hat das mit New York zu tun? Gibt es Hoffung? Für die Stadt? Überhaupt?

Jerry Oster: Eine Apokalypse erwarte ich nicht, aber ich mache mir schon ziemliche Sorgen, daß die Leute aufhören, aus dem Haus zu gehen. Im Sommer gab's viel Getöse um den 25. Jahrestag von Woodstock. Ich will gleich dazu sagen, daß ich weder beim ersten noch beim zweiten Woodstock-Festival war. Aber was auch für solche Leute aufregend war an Woodstock, die nicht dort waren, war, daß dort soviele Menschen an einem Ort zusammengekommen sind - nicht weil das ein wichtiger "Event" war, zu dessen Angedenken man T-Shirts bedruckt. Woodstock war das, was man in den 6oern ein Happening nannte, und damit ein Happening stattfinden kann, müssen die Menschen ihre Behausungen verlassen. Ich habe neulich irgendwo gelesen, daß man jetzt sogar von einer virtual community spricht, die im Cyberspace existiert und die man via Shut-Ins besuchen kann. Das ist nicht gerade ein anziehendes Konzept.
      Was mir noch Sorgen macht, ist, daß es immer mehr junge Männer, meistens arme Afroamerikaner und Hispanos aus den Städten gibt, für die es ein akzeptiertes Ritual des Erwachsenwerdens ist, ins Gefängis zu gehen, so wie man vor dem Vietnam Krieg zum Militär gegangen ist. Es ist eine Art von getting props, so heißt das im Straßenslang, eine Art, Respektabilität, eine Art, Erfahrungen zu gewinnen. Wenn ein Teil der Gesellschaft ins Gefängnis geht, um etwas über das Leben zu lernen, und ein anderer Teil in den Cyberspace, dann bin ich sehr pessimistisch, was für eine Welt daraus resultieren wird.

Thomas Wörtche: Sie verweigern ihren Lesern langatmige Erklärungen dessen, was in Ihren Büchern passiert. Das heißt, Sie nehmen Ihre Leser sehr ernst und respektieren Ihren Intellekt. Dankt Ihnen das Ihr Publikum? Kollegen von Ihnen beklagen sich sonst immer über die Dummheit der amerikanischen Leser.

Jerry Oster: Es gibt nichts blöderes als ein Buch, das mehr erzählt, als man wissen muß. In den Büchern von Tom Clancy kann eine Figur nicht in ein Taxi steigen, ohne daß Sie sich die Leser die Lebensgeschichte des Taxifahrers anhören müssen. Ich kann solche Bücher nicht schreiben. Ich werde es auch nicht tun. Ich hätte keine Ahnung, wie man das macht. Ich bin sehr zögerlich, die amerikanische Leserschaft als blöde zu bezeichnen. Ich möchte sie als nichtexistent bezeichnen. Ich habe Schätzungen gelesen, daß nur ungefähr 20.000 von 220 Millionen Einwohnern dieses Landes regelmäßig Bücher kaufen. Nicht Katzen-Bücher oder Diät-Bücher oder Ratgeber, sondern richtige Bücher. So wie meine.

Thomas Wörtche: Sie benutzen Markennamen, Designer-Namen, zitieren die Ästhetik von Video-Clips und deren Nachfolger wie Miami Vice. Manchmal hat man den Eindruck, Sie türmen Pyramiden aus Zivilisationsmüll auf...

Jerry Oster: Mann! Markennamen, Werbeästhetik, Musik-Videos - das ist kein Müll. Das sind Werke der Gebrauchskunst, eine Kunst, die ich sehr hochschätze, weil sie sehr erfolgreich Ideen kommuniziert. Wenn ich mich in meinem Büro umsehe, dann hängen an den Wänden: Ein Plakat des Cat's Cradle - den Club, den ich vorhin erwähnt habe -, eine Reproduktion eines Plakats der belgischen Eisenbahn aus den 30er Jahren, ein Foto einer Kinomarkise aus den 30er Jahren, eine Plakat, das eine Karnevalsveranstaltung auf dem Lande in Louisiana ankündigt, ein Plakat für eine Ballettaufführung in Durham, North Carolina und zwei Werbefotos für leichte Rennboote. Das alles sind Objekte, die ich besonders schön finde. Ich habe auch einen Van-Gogh-Druck, eine Dorfstraße in Frankreich, aber der interessiert mich weniger als Werke der Gebrauchskunst.

Thomas Wörtche: Die Struktur Ihrer Cop-Novels erlaubt Ihnen viele Point-of-Views. Was hat das für einen Effekt auf Wahrheiten, bzw. Wahrheit?

Jerry Oster: Es gibt absolut keine einzige Wahrheit, es gibt nur verschiedene Wahrheiten, so viele, wie es Point-Of-Views gibt. Wenn Leser, meistens Kritiker, rumprahlen, daß sie rausgekriegt haben, "wer's war", dann ist meine Reaktion: "Das will ich hoffen, ich habe Ihnen doch gesagt, wer's war, ich habe Ihnen doch die Perspektive von ihm oder ihr präsentiert." Einer meiner Lieblingsfilme, eines meiner Lieblingswerke der Einbildungskraft überhaupt, ist Blood Simple von den Coen-Brüdern. Das Publikum weiß alles, die Figuren wissen nur ein bißchen. Es ist unendlich spannend und aufregend, den Figuren dabei zuzusehen, wie sie agieren, je nachdem, was sie glauben, was der Fall ist.

Thomas Wörtche: Drogen sind ein wichtiges Thema Ihrer Bücher. Warum? Weil sie ein ganz normaler Teil des heutigen Lebens sind, sowie Autos, Waffen, Gewalt und Mr. Limbaugh?

Jerry Oster: Kurzum, ja. (Orig.dt.)

Thomas Wörtche: Und was würde passieren, wenn Drogen plötzlich legalisiert würden?

Jerry Oster: Da kann ich nur raten. Wenn Drogen legalisiert würden, würden dann nicht die Firmen, die legale Drogen herstellen, solche Drogen herstellen, die heute illegal sind? Und würden dann nicht die ehemals illegalen, jetzt legalen Drogen zum Big Business? Würden sie nicht beworben und vermarktet wie Coca Cola und Pepsie? Würden nicht Rockstars und Ex-Tenniscracks Vertreter und Vertreterinnen? Funktioniert das nicht so?

Thomas Wörtche: Nochmal zur Gewalt. Wie kann ein Autor mit Gewalt umgehen? Die großen Bucherfolge von Ellroy, Vachss und Harris kokettierten extrem mit Gewaltdarstellungen. Meiner Meinung nach, weil sie damit sympathisieren. Wie sehen Sie das?

Jerry Oster: Ich mag nicht über Gewalt lesen, ich mag im Kino oder Fernsehen keine Gewalt sehen. Autoren, die beschreiben, was in einem Hirn passiert, durch das eine Kugel geht, die verschwenden meine Zeit, und ich glaube, auch ihre eigene. Gerade heute morgen im Bus auf dem Weg zur Arbeit, habe ich in The Crossing, dem neuen Roman von Cormac McCarthy gelesen, wie ein Mann erschossen wird: "Boyd drehte sich herum. Er hob eine Hand hoch, als wollte er das erste Pferd anfassen, das unter den Bäumen hervorkam und dann blähte sich sein Hemd rot auf seinem Rücken und er fiel zu Boden." Schreiben kann nicht besser sein als das. Ich schreibe keine bildliche Darstellungen von Gewalt. Wenn Leute behaupten, daß sie meine Bücher als gewalttätig empfinden, dann kann ich nur den Schluß ziehen, daß das so ist, weil die Welt ein gewalttätiger Ort ist und meine Bücher von der Welt handeln.

 

Jerry Oster, geboren 1947 in New Mexico, verwebt in seinen raffiniert-artistischen Romanen über New York virtuose Sprachspiele, grimmigen Detailrealismus und surreale Elemente. New York Babylon (so der Titel eines Romans) ist so ein Patchwork aus Stimmen, Geräuschen, Musik, Sprachen und der allgegenwärtigen Gewalt.

 

© Thomas Wörtche, 1994
(Sirene)

 

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