legal stuff Impressum Datenschutz kaliber .38 - krimis im internet

 

Kriminalliteratur erkundet neue Wege des Erzählens

Thomas Wörtche zur Realismus-Debatte

 

Die jüngste feuilletonistische "Realismus-Debatte" war alles andere als eine Diskussion. Es ging weder um ein Thema noch um einen Zustand. Es ging darum, wer die (massen-) mediale Macht über "die Wirklichkeit" hat: Kulturredakteure oder Nachrichtenmacher. Auch wenn sich letztere daran nicht öffentlich beteiligt haben, der Verdacht drängt sich auf; das Schweigen über den Kern jeder Realismusdiskussion: mit welchen Realität(en) ist sie eigentlich verbunden, war allzu beredt und lauthals. Wie selbstbezogen und provinziell eng der Blickwinkel der Kombattanten auf Wirklichkeit und auf Literatur ist, zeigt die aggressive Ignoranz zweier evidenter Sachverhalte: Erstens, die Wirklichkeit wird ubiquitär von Gewalt und Verbrechen dominiert. Gewalt und Verbrechen sind konstitutiv für alle modernen Gesellschaften und haben stets öffentliche und private Dimensionen. Sie sind insofern aus keiner ästhetischen Auseinandersetzung mit der Welt wegzudenken. Als wichtiger Kontext und/oder als deren direktes Thema sind sie immer präsent. Zweitens, neben der (noch) offiziellen, kanonisierten Literaturgeschichte gibt es die Kriminalliteratur, die qua Definition mit den kulturellen Dominanten Gewalt und Verbrechen umgeht. Ohne die Kenntnis der ästhetischen Mittel, die Literatur an wichtigen Themen bereits entwickelt hat, ist eine "Realismus"-Diskussion zufällig und von geringer Relevanz.

Seit E.A. Poe hat die Kriminalliteratur verschiedene Perspektiven auf ihr Thema gefunden. Sie reichen vom l'art pour l'art der Denkpuzzles (Agatha Christie und die Folgen) bis zur Zersetzung narrativer Konventionen (Derek Raymond). Die Erfordernisse der jeweiligen Formen diktieren die selektive Darstellung von Wirklichkeitsausschnitten bzw. erfinden Wahrscheinlichkeiten nach ihren literarischen Regeln. Geschichte der Kriminalliteratur (deren systematische Historiographie leider immer noch aussteht) ist auch eine Geschichte aufeinander bezogener Ausdifferenzierungen. Will man kompetent über Literatur reden, muß man auch diese Geschichte kennen, um einschätzen zu können, wo der Kriminalroman spezifisch auf Realitäten reagiert, oder mit seinen eigenen Traditionen dialogisiert.

Solche Kenntnis macht resistent gegen die häufig formulierte These, der Kriminalroman sei die "realistische" Literatur schlechthin, womöglich die einzig heute noch mögliche Form "realistischen Erzählens". Diese Formel treibt mit dem Begriff "Realismus" genau so Schindluder wie die Gegenposition der "hohen" Literatur, die "Realismus" für erledigt erklärt, weil es keine erzählbaren (oder erzählwürdigen?) Wirklichkeiten mehr gebe. Unbestreitbar jedoch ist, daß das Sujet wesentlich zum Bedeutungsaufbau eines jeden literarischen Werks gehört. Für die Dialektik von Fiktion und Wirklichkeit ist der Kriminalroman von höchst relevanter Aussagekraft, weil er in beiden Bereichen sozusagen "geerdet" und ästhetisch autonom ist.

Das Unbequeme an der Wirklichkeit ist, daß alle Erfahrungen, die man mit der Welt machen kann, subjektiv sind, es aber sehr wohl eine faktische Realität gibt. Diese wiederum hat die ebenfalls unbequeme Eigenschaft, nicht einfach präformiert in der Gegend herumzulungern und darauf zu warten, daß irgend jemand sie abbildet. Im Gegenteil: Sie wird wesentlich konstituiert, indem sie be-, besser: geschrieben wird. Entscheidend ist jedoch, ob sich narrative Literatur überhaupt auf Realitäten einlassen will. Das wenig trennscharfe Etikett "Kriminalroman" ist da trügerisch und führt schnell zu Mißverständnissen: Agatha Christies Puzzles etwa sind absichtlich wirklichkeitsabstinent, während man in den als realistisch bezeichneten Romanen von Chandler und Hammett (als heilige Zweifaltigkeit: Chandmett) zu gerne die realen Zustände im Kalifornien der 30er und 40er Jahre abgebildet finden möchte. Aber was findet man wirklich? Ein blütenweißes Land zum Beispiel, wo Schwarze, Latinos und Frauen nur als abgeleitete dramaturgische Funktion des weißen, männlichen Blicks vorkommen. Chandmett bilden nicht ab, Chandmett bieten Bilder von und Perspektiven auf Wirklichkeit, die ihrem literarischen Konzept von Kriminalromanen adäquat und somit für die Genre-Regel von Mordtat und Auflösung entworfen und angewendet sind. Chandmett und Christie (die Namen stehen für Positionen) unterscheiden sich lediglich in ihren Strategien der Plausibilisierung, nicht in ihrem basalen Konzept. Genau betrachtet funktionalisieren beide ihre "Realitäten" so, daß Verbrechen aufklärbar, die Welt durchsichtig und die Ordnung der Dinge garantiert erscheinen. Der Keim zur Ideologiebildung hängt eng mit der Formelhaftigkeit einer solchen Kriminalliteratur zusammen, wenn literarische Schablonen als realistischer Blick auf die Welt ausgegeben werden.

"Realistischer" in einem gewissen Sinn waren da schon die Autoren des "Noir", die die exotischen, dunklen Seiten der Wirklichkeit und mentalen Verfaßtheit thematisierten, die ansonsten gesamtgesellschaftlich eher ausgeklammert waren. Die Romane der Jim Thompson, David Goodis, Cornell Woolrich und anderer Autoren der "Schwarzen Serie" haben so immerhin eine (von vielen denkbaren) "andere" Geschichte des amerikanischen Traums geschrieben; ihre Literatur der Außenseiter, der Randexistenzen, der düsteren Obsessionen bietet dennoch nur Ausschnitte aus der weißen, männlichen Perspektive. Das allerdings ist (auch quantitativ) weit mehr, als die europäische Literatur zu bieten hatte, wo ein solcher Blick höchstens als monumentale Einzelposition (wie bei Genet) denkbar war. Angesichts der Reduktion auf eine weiße männliche Perspektive jedoch wäre es mehr als fahrlässig, in diesem Zusammenhang von "realistisch" zu reden, wenn damit die Reflexion gesellschaftlicher Zustände im Ganzen gemeint sein sollte. Obwohl besonders Jim Thompson die Heuchelei und Bigotterie der amerikanischen Provinz immer wieder seziert, sind bei ihm das Verbrechen, der Verbrecher stets außerhalb der Gesellschaft angesiedelt; deswegen konnte er romantisiert und pathetisiert werden. Der Outlaw wurde gegen jede blutige und schäbige Erfahrung aus der Wirklichkeit zum besseren, weil "echteren" Menschen.

Einen radikalen Bruch mit jedem "ideologischen" und formelhaften Schreiben vollzog der konstitutive Außenseiter Chester Himes. In den 60er Jahren fing er (natürlich nicht voraussetzungslos: von Ed McBain z.B. hat er einiges adaptiert) mit seinen Harlem-Romanen an, der Kriminalliteratur die Freiräume zu schaffen, die sie erst heute voll auszunützen beginnt. Himes verzichtet auf eine wie auch immer geartete Formel von Kriminalliteratur (einzelne Verbrechen und ihre Aufklärung interessieren ihn nicht) und damit auf die Sicherheit kausaler Abläufe: Er ersetzt sie durch Zufall und Irrwitz. Anfang und Ende einer Geschichte werden irrelevant, die narration unvoraussagbar. Zudem rückt Himes von einem Erzählen ab, das bisher, so kunstvoll arrangiert es auch immer gewesen sein mag, die grundsätzliche Nacherzählbarkeit der Welt vorausgesetzt hatte. Chester Himes benutzt vor allem Verfahren der Brechung, der Ambiguisierung, und die alle Ordnungen und Sicherheiten vernichtende Komik. Allerdings nicht primär, um einen hohen Fiktionalisierungsgrad anzuzeigen, was meistens die Funktion literarischer Komik ist, sondern um via Slapstick, Groteske und bizarrem, "schwarzem" Humor überhaupt noch erzählerische Möglichkeiten zu finden, die die Komplexität von Harlem nicht mehr eindeutig einem Sinn zuordnen, sondern sie in verstörender Polyvalenz belassen können. Daß angesichts einer solchen Komplexität das Erzählen keinesfalls unmöglich geworden ist, sondern sich spannende Möglichkeiten erschließen kann, hatten Himes' Romane nachhaltig belegt. Mit Chester Himes war auch unübersehbar geworden, daß die Kriminalliteratur sich von ihren diversen Formeln weg zu freien Formen bewegte. Autoren wie John Le Carré und Ross Thomas schrieben Romane, an denen jeder Versuch einer Kategorisierung abprallen mußte, während gleichzeitig die freien Formen der "hohen" Literatur in Europa vor der Wirklichkeit kapitulierten und immer deutlicher nur noch um das Dichtersubjekt selbst kreisten. Lateinamerika und die USA pflegten die Traditionen des Erzählens auf vielfältige Arten weiter, in Europa kam es zum Schisma: Erzählende Literatur verlor bei ihren Produzenten und professionellen Rezipienten an Prestige. Deren Ignoranz gegenüber entscheidenden ästhetischen Veränderungen ließ erzählende Literatur nur noch als populistisch, bzw. trivial vorstellbar erscheinen.

Die Kriminalliteratur hingegen erkundete inzwischen neue Wege des Erzählens: In Frankreich zerhackte JeanPatrick Manchette unappetitliche Aspekte der Innenpolitik seines Landes in maliziöse Minimalismen, Leonardo Sciascia transponierte die Hilflosigkeit angesichts des Mafiaterrors in literarische Katatonie, Joseph Wambaugh erschloß die destruktiven Potentiale der mittelalterlichen Groteske neu für seine karnevalesken Cop-Romane (nach dem Prinzip der auf den Kopf gestellten Welt) und legte so einen literarischen Zugang zum Chaos von L.A frei. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen...

Die "Realitäten" wurden immer bedrohlicher - sie widersetzten sich immer hartnäckiger und bösartiger jeder wertenden und versichernden Perpektive. Die Fronten wurden paradox. Während die einen, anscheinend apolitisch, nach neuen literarischen Formen suchten, beschränkte sich der politische Aplomb der Sozialkritiker auf die Mittel des Realismus des 19. Jahrhunderts. Das Schreiben aus einer gesicherten Perspektive, mit gesicherten Wertordnungen im Hinterkopf, gar noch mit epischem Ehrgeiz, hat eine Ideologieproduktion der Kriminalliteratur initiiert, gegen die vereinzelte Ideologen wie Mickey Spillane sich harmlos ausnehmen. Die panpolitische Brille der europäischen 68er hat sie für ästhetische Entwicklungen blind gemacht. Sie entdeckten das "Triviale", das sie flugs mit dem "Populären" gleichsetzten, und wähnten, es mit den richtigen Inhalten "instandbesetzen" zu können. Das schwedische Ehepaar Sjöwall/Wahlöö gab fatale Standards vor: Ihr mißverstandener McBain-Abklatsch diente primär dazu, ein sozialdemokratisch-gesellschaftkritisches Modell zu transportieren. Ästhetische Autonomie war gekündigt zugunsten des Gutgemeinten. Erst in den beiden letzten Bänden der Martin-Beck-Serie kamen wohl auch ihnen Zweifel. Sie retteten sich halbherzig und nicht zufällig in Slapstick und Klamauk. So "besetzt", geriet der Terminus "Realismus" zunehmend ins Läppische. Die Gesinnungspamphlete der Soziokrimis, ob deutscher oder mittlerweile auch internationaler Bauart, beanspruchten ihn genauso für sich wie die Romane des Privatdetektiv-Revivals in den USA. Autoren wie Robert B. Parker, Loren D. Estleman oder Arthus Lyons haben lediglich die Weltsicht von Chandmett & Co. den neuen Umwelten, den neuen Verbrechen, kurzum: den zeitgenössischen Dekors angepaßt. Formale Konsequenzen hatte das keine, es spielte sich auf der Ebene der Erzählinhalte ab und erstarrte nach ein paar Jahren entweder zu stur monolithischen Gebilden (Estleman), Nostalgie (Parker) oder ebenso makel- wie leblosen Purismen (Lyons). "Realistisch" war daran lediglich, daß Verbrechen verbrecherisch, Dreck dreckig, Verkommenheit verkommen dargestellt wurden. Das Erzählen selbst blieb weiterhin monokausal, monologisch und monoperspektivisch. Mit allen ideologischen Implikationen, die auch von den neuen Autorinnen nicht aufgebrochen werden konnten, die ausgerechnet alle Beschränkungen dieser Erzählform brav und bieder übernahmen. Marcia Muller, Sara Paretsky, Sue Grafton, Linda Barnes und ihre Sisters in Crime ersetzen einfach den männlichen durch den weiblichen Blick, eine Reduktion durch die andere. Qualitäten, die das Wesen, das Eigentliche von Literatur ausmachen wie Magie, Rätsel, Geheimnis, Überraschung und Chock (im Benjaminschen Sinne) hatten da nichts zu suchen. Die/der "politisch korrekte" Autorin/Autor hätte sie angesichts der harten Realitäten als unmoralisch, als zynischen Luxus empfunden. Merkwürdige EinzelgängerInnen wie J.W. Rider, Teri White oder Robert Campbell wurden mißtrauisch beäugt. Eine so konzipierte Literatur, die sich ohne Not eines Großteils ihrer genuinen Möglichkeiten begibt, ist in einem sehr ironischen Sinne "realistisch": Sie verdoppelt lediglich die offensichtlichen und allseits bekannten Scheußlichkeiten dieser Welt, und hat, ganz wie die Realpolitik, nur einfache Lösungen anzubieten: Die einfach falschen.

Gottseidank ist inzwischen die Realität den einfachen Erzählformen uneinholbar davongelaufen, was hauptsächlich damit zu tun hat, daß sich sämtliche Interpretations, Wahrnehmungs und Wertungsparameter, mittels denen eine künstlerische Weltaneignung überhaupt erst passieren kann, aufgelöst haben. Realismus ist, angesichts einer mehr und mehr unbestimmten und unbestimmbaren Realität, angesichts einer hochgradig fragmentalisierten Wirklichkeit ein Begriff von der traurigen Gestalt. Die Aufklärung hat sich nicht nur im Sinne eines philosophischen Konzepts als limitiert erwiesen, als telos von Kriminalliteratur ist sie völlig sinnlos geworden. Es gibt nur noch zwei Kategorien von Verbrechen: Sie sind entweder von profaner Brutalität und deshalb evident, oder gesamtgesellschaftlich konstitutiv und deshalb nicht aufklärbar, weil es keine moralischen und institutionalisierten Instanzen mehr dafür gibt. Ernstzunehmende Kriminalliteratur hat aufgegeben, die Welt abbilden zu wollen. Sie hat sich verabschiedet vom aufklärbaren einzelnen Verbrechen. Sie geht von dessen Ubiquität aus und macht sie zum Thema. Sie konstruiert, erschreibt, halluziniert und visioniert Weltpartikel. Sie läßt ohne heimlichen "imperialistischen" Anspruch auf Die Realität, in ihren Bruchstücken die Welt erahnen. In diesen Bruchstücken leuchtet der poetische Kern des Besonderen um so intensiver, je detailgenauer er von einem Mantel aus circumstantial realism umgeben ist. Das ist, bei aller formalen Differenz, der gemeinsame Nenner von AutorenInnen wie Paco Ignacio Taibo, Jerome Charyn, Joyce Thompson, Derek Raymond, Andreu Martín, William Marshall, Carl Hiaasen, neuerdings Liza Cody, auch Edna Buchanan und anderen. Sie alle haben für die Erzählbarkeit von Weltfraktalen neue Mittel gefunden. Wenn sich erzählende Literatur auf Realitäten einläßt, gerät sie meist nolens volens zur Kriminal-Literatur. Die überkommene Vorstellung vom "Krimi" ist obsolet geworden; ästhetisch obsolet geworden ist auch Literatur, die nichts mehr zu kommunizieren hat außer sich selbst. Die Fronten des literarischen Diskurses haben sich längst radikal verändert.

© Thomas Wörtche, 1993
(Freitag)

 

Thomas Wörtche Neuerscheinungen Vorschau Krimi-Navigator Hörbücher Krimi-Auslese
Features Preisträger Autoren-Infos Asservatenkammer Forum Registrieren Links & Adressen