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Willkommen in der Realität

Nach dem Prinzip des Outsourcings hat die Politik viele Kompetenzen an die Wirtschaft abgegeben und konzentriert sich auf das Thema Innere Sicherheit. Die Wirtschaft zeigt sich geistig-moralisch gewendet - Mitnahmementalität und Korrupiton bestimmen das Bild.

Von Thomas Wörtche

 

Die gute Nachricht zuerst: Seit dem 1. August 2005 ist es verboten, die Innenstadt von Berlin aus der Luft anzugreifen. Dass die Republik auf solche und ähnliche Vorschläge zur Vorbeugung schlimmer Taten nicht in brüllendes Gelächter ausbricht, dass irgendwelche Politiker kalkulieren, mit sinnlosen Verordnungen, dumpfen Drohungen, grenzwertigen Gesetzesänderungen und blanken Verfassungsbrüchen wahlkampfpolitisch Punkte sammeln zu können, ist peinlich genug. Eine schier ausweglose Lage: Flakbatterien um den Reichstag, präventiv weggesperrte Menschen, weil sie vielleicht unter Terrorismus-Verdacht stehen oder auch nicht, wiederkehrende Forderungen nach Strafverschärfung für jede Delikt-Gruppe, die den Medien erhöhte Quoten und Auflagen beschert, ordnungspolitische Raserei allenthalben, die den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hat auf der einen Seite - Verunsicherung, gefühlte Bedrohung, desinformierte, verängstigte Bürger auf der anderen. Öffentliche Empörung über korrupte Manager, gierige Vorstände, schmutzpfotige Fernsehmanager, Sozialbetrüger, untreue Gewerkschafter und Staatssekretäre on the run auf der einen - harte Fakten auf der anderen Seite: Obwohl VW, BMW und jüngst auch Mercedes ihre jeweiligen "Skandale" am Halse kleben, sind die Aktienkurse gestiegen. Bei den öffentlichen Fernsehanstalten ist es ein offenes Geheimnis, dass sie ohne "Drittmitteleinwerbung" vulgo Schleichwerbung, vornehmer ausgedrückt: product placement, gar nicht existieren können. Die Angeklagten im Berliner Bankenskandal können beruhigt selbstgefällig aus der Wäsche schauen: Verantwortlichkeit wird man ihnen bei der mageren Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden nicht nachweisen können; und die politischen Schutznetze werden genauso gut funktionieren wie im Fall Helmut Kohl. Der Schiedsrichterskandal, der uns am Jahresanfang die Zeit bis zum nächsten Großereignis vertrieben hätte, wäre nicht der Tsunami dazwischengekommen, konnte seine potentiell zerstörerische Kraft im Vorfeld der WM gar nicht richtig entfalten, und von signifikantem Zuschauerrückgang ist nichts bekannt.

Laut beschwiegen wird in den Medien jedoch, dass die Kriminalität "im Kernbereich" sinkt: Das Delikt Mord ist seit 1993 fast um die Hälfte, Autodiebstahl um drei Viertel, Bankraub um die Hälfte, Wohnungseinbruch um 45 Prozent zurückgegangen. In einem offenen Brief protestiert der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, kürzlich in der Zeit vehement gegen diese "Irreführung der Öffentlichkeit". Die, wie er belegt, beängstigende Konsequenzen hat: Das Delikt Sexualmord hat de facto seit 1993 um vierundvierzig Prozent abgenommen. Umfragen aber ergeben, dass die Bevölkerung glaubt, dieses Delikt sei um das 3,6fache gestiegen. So etwas nennt man erfolgreiche moral panic. Sie eröffnet politische Spielräume, in die mit möglichst fulminant inszenierter "Dramatisierung des Bösen" Politiker gar nicht anders können, als populistisch hinein zu stoßen. Vermutlich eher aus Gründen der eigenen Panik denn der finsteren Ranküne.

Der Soziologe Zygmunt Bauman hat schon vor etlichen Jahren die Rolle der Staaten in Zeiten der "globalen Finanzwirtschaft, des Handels und der Informationsindustrie" beschrieben: Diese Formationen haben "ein begründetes Interesse an 'schwachen Staaten' ... Schwache Quasi-Staaten können leicht auf die nützliche Rolle von Polizeibezirken reduziert werden, die für das Mindestmaß an Ordnung sorgen, das für wirtschaftliche Betätigung gebraucht wird, von denen aber nicht befürchtet werden muss, dass sie als wirkliche Bremsen für die globale Freiheit der Firmen fungieren können". Diese These bildet eine ideale Klammer von "außen" und "innen": Sie erklärt die für die öffentliche Moral nicht ganz unwichtige, heuchlerische Toleranz gegenüber "autoritären", das heißt nur innenpolitisch starken bis verbrecherischen, wirtschaftspolitisch jedoch neoliberalen Staaten wie China oder Russland, deren Menschenrechtsverletzungen uns nur in Sonntagsreden interessieren, solange sie nur unserer Exportwirtschaft keinen Ärger machen. Und sie erklärt das innenpolitische Agieren unseres eigenen Staates, dem wirtschafts- und sozialpolitische Optionen abhanden gekommen sind. Das ist, mit den Worten des norwegischen Kriminologen Niels Christie, die Stunde der "Hausmeister des ausreichend geschwächten Staates", die sich, weil kaum noch andere Themen übrig sind, auf dem Gebiet der inneren Sicherheit, von Verbrechen, Terrorismus und deren "Definition und Bekämpfung" profilieren müssen. Und sei es eben gegen die Fakten.

Aber eine solche "Dramatisierung des Bösen" aus makrostrukturellen Gründen reicht nicht ganz aus, um den oben skizzierten täglichen Irrsinn plausibel zu machen. Dass eine der einschneidendsten und folgenreichsten "Reformen" unserer Tage, Hartz IV, ausgerechnet den Namen eines korruptionsverwickelten Managers trägt, ist über den blanken Zynismus hinaus beredt. Die Politik hat mehrere ihrer Kernkompetenzen an die Wirtschaft "outgesourct", ohne sich um deren interne Moralität zu scheren. Diese interne Moralität der Wirtschaft ist sowieso weitgehend von anderen gesellschaftlichen Bereichen abgekoppelt, sie reguliert sich notfalls selbst: ein paar abfindungshaltige Entlassungen, ein paar Revirements, ein paar krokodilstränige Mea-Culpas - aber die Börse freut sich. Die Folgen dieses Outsourcings aber, die "Reprivatisierung sozialer Konflikte", die "soziale Deklassierung, Arbeitslosigkeit, Entgesellschaftung und die mit ihnen verbundenen Selbstwertkrisen ... versickern in stummer Verzweiflung, Alkoholismus und Resignation oder explodieren in Orgien häuslicher oder rassistischer Gewalt", wie Götz Eisenberg im Anschluss an eine Re-Lektüre von Peter Brückners Sozialpsychologie des Kapitalismus vergangene Woche (Freitag, 30/2005) resümiert hat. Sie schaffen also das Feld privater und semi-privater Gewalt, an dem sich besonders deutlich die Kluft zwischen markigen Politikersprüchen und Handlungsdefiziten auftut. Vor allem wenn die Opfer ohne Lobby sind, also Kinder oder Menschen anderer Hautfarbe.

Dabei ist dieser beschriebene Mechanismus nur eine Variante. Man könnte ihn auch umgekehrt betrachten. Das Outsourcing staatlicher Kompetenzen, die Deregulierung, die auch immer eine Deregulierung gesamtgesellschaftlicher Normen bedeutet, befördert und begünstigt die Entstehung eines Sozialcharakters, dem private Normen wichtiger sind als alle übergeordneten anderen. Dazu gehören der kleine Steuerhinterzieher, Versicherungsbetrüger und Abrechnungstrickser genauso wie der Infineon-Gewaltige, der sich bei satten Bezügen noch schnell ein paar Hundertausend Euro Spielgeld genehmigt. Helmut Kohls "geistig-moralische Wende" von 1982 hat die persönliche Vorteilnahme als gesamtgesellschaftliches Paradigma abgesegnet, die Folgen sind mehr als virulent. Die "Grenzmoral", wie der Korruptionsforscher Hartmut Schweitzer in seinen brillanten Grundlagen einer Theorie der Korruption feststellt, ist zur Normalität geworden. "Was gerade noch legal" ist oder schon im Graubereich west, ist üblich, normal, gar normativ geworden ("Ich wär ja blöd, wenn ich`s nicht täte ..."). Und diese Art von Korruption oder "Proto-Korruption" durchzieht alle gesellschaftlichen Milieus, Schichten und Klassen. Sie zeigt, so Schweitzer, keine kulturpessimistisch zu beklagende Dekadenz an, sondern ist Indikator für "tiefgreifende, vielleicht unüberbrückbare Gegensätze in der Gesellschaft".

Das fehlende Unrechtsbewusstsein - wir kennen alle die triumphierenden Fratzen der Korrumpels, Vorteilsnehmer, Unterschleifer und Durchstecher bis zum Abwinken - hat genau mit diesem clash of norms zu tun. Die eigene Vorteilnahme scheint ein stabilerer Wert zu sein als alles andere. Und ist vor allem kulturell eingeübt und beglaubigt. Über das ständige Trommelfeuer der Bilder, die Menschen nicht nur als reich, glücklich, gesund und schön zeigen, sondern damit auch als "kultiviert". Unglücksbilder von verhungerten Kindern, geschundenen Volksgruppen, Genozidopfern und anderen Unerfreulichkeiten mehr (die nach Ablass in Form von Spenden verlangen) haben auch etwas "unkultiviertes". Da sind wir doch die gehobenere Zivilisation mit unserer Präsentationskultur aus Musical, Spektakel mit kulturbetriebskompatiblen Provogesten, samtenen Hochkultur-Events nach den Strickmustern des 19. Jahrhunderts. Ja, auch mit unseren angeblichen Gesellschaftsanalysen, vorgetragen mit museumsreifen erzählerischen oder süffigen filmischen Mitteln. Kultur hat sich dem Druck des Marktes ergeben, hat sich ebenfalls in die Marketing-Abteilungen outsourcen lassen und funktioniert dort prächtig. Solange sie nicht wehtut, solange sie schöne Fluchtbedürfnisse in einer kalten Welt bedient. Gerade da, wo sie thematisch mit Verbrechen, Gewalt, Ethik zu tun haben müsste, ist sie besonders märchenhaft, regressiv und zahnlos. Dass einmal Donna Leon oder Henning Mankell in einem Atemzug mit Form- und Wahrnehmungszertrümmerern, mit Skeptikern und Saboteuren der jeweiligen (schlechten) Gegenwart, mit Gegenbildnern und Untergräbern offiziöser Verlautbarungen wie Dashiell Hammett oder Georges Simenon genannt werden würden, hätte man vor 20 Jahren als genauso grotesk empfunden wie das Verbot, den inneren S-Bahn-Ring von Berlin zu überfliegen. Schon Niklas Luhmann wusste: "Ideengut kann im Verhältnis zur Gesellschaft, die es benutzt, nicht beliebig variieren." Also, wen wundert's? Willkommen in der Realität!

 

© Thomas Wörtche, 2005
Freitag, 31/2005 (05.08.2005)

 

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