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The writer's task is to invent reality
(James Graham Ballard)

 

Desaster as usual

Zur ungeklärten Nachbarschaft von Science Fiction und Kriminalliteratur
Von Thomas Wörtche

 

Das Science Fiction Jahr 2007 Voraussetzungen I
Als "Fahnenflucht in interstellare Spähren" geißelte nicht nur Leo Trotzki die Science Fiction. Kriminalromane, so heißt es, sind realistische Romane, die das Hier & Heute konstitutiv brauchen. Kriminalromane, die in der Zukunft spielen, können in diesem Sinn kaum realistisch sein, die Zukunft ist nicht beschreibbar. Sind sie deswegen schon Science Fiction?
      Also: Was meinen wir, wenn wir darüber nachdenken, wie und ob SF und Kriminalliteratur etwas miteinander zu tun haben? Wie füllen wir die Begriffe? Scheren sich Leser darum? Oder Texte?
      Weder für Kriminalliteratur noch für Science Fiction gibt es irgendeine brauchbare Definition oder gar einen Konsens darüber, was diese Biester genau sind. SF spielt in der Zukunft; Kriminalliteratur beschäftigt sich mit Verbrechen.
      Solche Groborientierungen greifen zu kurz - oder zu weit. Gegen den tautologischen Kalauer - SF und Kriminalliteratur ist jeweils das, was unter diesen Labels verkauft wird - spricht die Evidenz, dass das nicht immer so ist.
      Tatsache ist: Diese Probleme sind da. Wir können sie hier nicht lösen.

Richtig ist: Kriminalliteratur braucht einen harten realen Unterboden. Science Fiction kann sich die Realitäten bauen, die sie gerade braucht. Richtig ist auch: Um Realitäten kümmert sich ein großer Teil von Kriminalliteratur einen feuchten Dreck. Von Agatha Christie bis Elizabeth George. Aber wir kümmern uns hier nicht um diese Sorte von belanglosen Grimmis.
      Richtig ist: Textstrukturell machte es keinen Unterschied, ob ein Roman in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft spielt. Das narrative Präsens oder Imperfekt ist von der Zeit, in der die Handlung spielt, unabhängig. Romane im Futur kenne ich nicht. Macht aber nichts, weil durch die Verwandlung eines Plots in ein Narrativ der Plot schon als geschehen definiert ist. Gibt es keinen Plot, handelt es sich weder um Kriminalroman noch um Science Fiction. Beide gehen davon aus, dass etwas erzählbar ist. Das ist "vormodern", weil es auf der "Erzählbarkeit der Welt" beharrt. So funktioniert narration eben, das stört niemanden. Das ist noch nicht einmal ein Trivialitätskriterium.
      Dennoch ist ein Bewußtsein für dieses Faktum sinnvoll. Denn sowohl Kriminalliteratur als auch Science Fiction und überhaupt alle Literatur, die diesen Namen verdient, haben die Phase ihrer "De-Konstruktion" hinter sich - nicht-lineares Erzählen, Selbstreflektivität, Verwendung nicht-narrativer Elemente usw., eben alle als "modern" und "postmodern" rubrizierten Verfahren. Fast alle "Genres" und auch das Genre "Nicht-Genre" sind - mit zeitlichen Verschiebungen - durch diese ästhetischen Verfahren hindurch gegangen. Und sie sind - als Genre oder mainstream durch diesen "postmodernen" Filter technisch, ästhetisch und erkenntnistheoretisch aufgerüstet - doch wieder beim Erzählen gelandet: In der bewußten Prämoderne nach der Postmoderne. Deswegen müssen wir diese Entwicklung zwar immer mit-denken, aber nicht nachzeichnen.

 

Voraussetzungen II
Wir definieren Science Ficton und Kriminalroman eher intuitiv über ihre Erzählgegenstände. Ein Polizist jagt einen Serialkiller - das ist Kriminalliteratur. Der Serialkiller ist ein Vampir - das ist ein Horrorroman. Oder? Ein Privatdetektiv hat den Auftrag, einen Mord aufklären, im Jahr 2410 - das ist Science Fiction. Oder?
      So kommen wir nicht weiter.
      Wir kommen aber auch nicht weiter, wenn wir sagen: Na, das sind halt SF-Krimis, basta! D.h. wir können das natürlich sagen. Wir wissen auch, dass Kombinationen von Erfolgsformeln marketing- und verkaufsrelevant sind. Zumindest theoretisch. Ob das Kalkül aufgeht ist jedoch fraglich. Lesen Kriminal-(thriller- roman noir-)roman-aficionados gerne Bücher mit SF-Touch? Lesen SF-Fans Krimis? Ist es beim genre-crossing nicht eher so, dass die Dominante auch die Rezeption vorgibt? Verstehen, um es an einem ganz anderen Beispiel zu illustrieren, die Leser von Historical Naval Fiction, dass die Aubrey-Romane von Patrick O'Brian auch und ganz bewußt exzellente Polit-Thriller sind? Verstehen die Leser von David Webers Military SF, dass die Honor-Harrington-Romane bis ins Details nicht anderes sind als eher ulkige Historical Naval Fiction? Vermutlich eher nicht. Aber schadet das?
      Vermutlich aber haben die jeweiligen Leser, wie intim und differenziert sie auch ihr eigenes, bevorzugtes Genre kennen, nur sehr schemenhafte Vorstellungen von den anderen. Auch das ist generalisierbar: Als Georg Klein mit seinem Roman "Barbar Rosa" Furore im Feuilleton machte, konnte er beruhigt behaupten (und auch wirklich glauben), er habe irgendwie innovativ den Kriminalroman "dekonstruiert". Er hatte aber dabei einen Typus von Kriminalroman vor Augen, der - wenn er inzwischen nicht längst literarhistorisch museal geworden war - seine eigen "Dekonstruktion" schon längst, vor dreißig, vierzig Jahren selbst erledigt hatte. Dass die professionelle Literaturkritik mit der ihren eigenen Viertelbildung Klein diesen Unfug hat durchgehen lassen, ja, ihn auch noch weiter verbreitete, steht auf einem anderen Blatt.
      Obwohl: Eine gegenseitige Rezeptions- und Dialogsperre zwischen den Genres scheint mir schon gegeben zu sein. Gerade da, wo die Grenzen durchlässig sein könnten.

 

Phänomenologie I:
Durchlässig sind die Grenzen bei einer Reihe von Autorinnen und Autoren, die die beiden Genres SF & Kriminalliteratur nebeneinander betrieben haben - Ray Bradbury, Leigh Brackett, Ron Goulart oder Jack Vance (sicher einer der wenigen, wenn nicht der einzige Autor, der den "Edgar" und den "Hugo" bekommen hat), um nur ein paar zu nennen. "Professionelle Autoren" also, deren Selbstverständnis eher als writer denn als author beschrieben werden kann (sowie Elmore Leonard, Bill Pronzini und Loren D. Estleman zwischen Western und Kriminalliteratur pendeln, oder Joe R. Lansdale zwischen crime und horror) und die, mehr oder weniger, aus den hoch-literarischen Diskursen ausgeschlossen bleiben, auch wenn sie im Einzelfall noch so "berühmt" sind. Sie gehören, ungeachtet ihrer realen Auflagenhöhen, zum Kernbestand dessen, was wir gerne als "Populäre Kultur" betrachten. In ihrer eigenen Einschätzung mag das Genre, in dem sie sich gerade bewegen, nicht allzu entscheidend sein, in der Rezeption allerdings schon. Sie selbst würden sich in aller (falschen?) Bescheidenheit als story tellers sehen.

Ebenso durchlässig die Grenzen u.a. bei Alfred Besters "The Demolished Man", bei Harry Harrisons "Steel Rat"-Zyklus, bei den Miro-Hetzel-Romanen von Jack Vance: Ganz deutlich Kriminalromane, die in der Zukunft spielen, mit krimi-typischen Plot, krimi-typischem Personal, jedoch ausgestattet mit allen Ingredienzen der SF auf der Ausstattungsebene: Raumschiffe, bewohnte Planeten, Aliens und erzählt in den typischen (gegebenenfalls genre-übergreifenden) Handschrift der Autoren: "Witzig" bei Harrison, "poetisch" bei Vance, "spöttisch" bei Bester.

Fließend die Grenzübergänge bei Autoren wie Neal Stephenson, Michael Crichton oder Greg Bear etc. Kriminalliterarische oder thrillerhafte Erzählskelette führen durch die Handlung, die leicht in die Zukunft verschoben sind. Exemplarisch bei Greg Bear zum Beispiel. In "Jäger" geht es um Unsterblichkeitstechnologie, die als MacGuffin eine Man-on-the-run-Geschichte motiviert, in "Quantico" um den Kampf zwischen verschiedenen US-Geheimdiensten, die eher Unglück anrichten denn verhüten. Topischer geht's - von der Kriminalliteratur aus geguckt - nimmer. Die "futuristische" Komponente ist Beiwerk, die lediglich nette Gadgets vorführt, aber die Überkommenheit aller anderen Komponenten nicht verdecken kann. Im Grunde nichts anders als in "Beute" von Crichton, der in vermutlich unironischer Absicht den Showdown zwischen wildgewordenen Nano-Partikeln und heroischen Wissenschaftlern als Indianer-gegen-Cowboy-Spiel inclusive belagertes Fort inszeniert. Interessant dabei höchstens, wie alte, zutiefst dubiose Stereotype mit HighTech ausstaffiert werden - oder HighTech in tote Stereoypen gestopft wird. Naja, so interessant nun auch wieder nicht...

Nur anscheinend durchlässig die Grenzen bei Stanislaw Lems beiden "Kriminalromanen" "Die Untersuchung" und "Der Schnupfen". Beide gelten schon fast paradigmatisch als gelungene, gegenseitige Befruchtung von SF und Kriminalliteratur. On verra...
Bewerten wir etwa "Die Untersuchung" von der Form her, haben wir einen beinahe hyperklassischen whodunnit. Klassisch angesiedelt in einem idealtypischen England aus dem Touristenführer, mit grusligem Setting (nächtliche Szenen in Leichenschauhäusern und Landkirchen), mit klassischem Personal, Bobbys und Detective Inspectors, mit Landhäusern und Bibliotheken. Und klassisch deduktiv verfahrend. Das war allerdings schon 1959, als der Roman erstmals erschien, rein genrehistorisch und -ästhetisch gesehen ziemlich zopfig, wobei man mildernd berücksichtigen muß, dass Lem im kriminalliterarisch eher rückständigen "Ostblock" schreiben mußte. Der Roman zielt aber deutlich auf einen Punkt, der gleichzeitig in der Kriminalliteratur und außerhalb der Kriminalliteratur liegt: Die deduktive Methode des Kriminalromans wird von Lem benutzt, um sie von ihrer Funktion in der Kriminalliteratur zu trennen. Es gibt in "Die Untersuchung" keinen Täter, kein menschliches, kein über- oder unmenschliches Wesen, sondern nur ein eher ausgefuchstes Problem der Höheren Statistik. Das war ein intellektueller Scherz, der Lem eine gewissen Reputation als Ironiker auch außerhalb der SF eingebracht hat. Aber im Grunde nur ein Taschenspielertrick. Denn der Roman unterläuft das Thema von Kriminalliteratur: Gewalt und Verbrechen als soziale Interaktion zwischen Menschen. Wenn Lem also die Deduktion zeiht, zu falschen Ergebnissen führen zu können (denn alle hochqualifizierten Ermittler im Roman liegen falsch), dann funktioniert das nur, weil er unter der Hand die Kriminalliteratur verlassen, ja, gar nie betrieben hat. Statistik als Determinante postmortaler Schicksale ist ein spekulatives Gedankenspiel, das in der Reihe der Kriminalliteratur höchstens als Pointierung des uralten Sherlock-Holmes-Bonmots: "Wenn man alles außer dem Unmöglichen ausschließen kann, ist das Unmögliche der Fall" Relevanz hat.
      Ähnlich, diesmal mit zeitgeistigen Elementen des Polit-Thrillers (hier die Terrorismus-Welle der 1970er) garniert, verfährt "Der Schnupfen" (1975). Auch da gibt es eine Häufung signifikanter Merkmale bei unerklärlichen Todesfällen, auch da obwaltet die reine Statistik, aber kein menschliches Tun. Viele Leichen, aber keine Täter, keine Verbrechen. Und ein Kriminalroman ohne Verbrechen ist keiner - soviel Plot-Anteil an der Definition des Genres muß aber sein.
      Und der SF-Anteil? Der ist womöglich noch geringer, und dass wir ihn überhaupt suchen, mag der Pauschalisierung geschuldet sein, dass Lem nunmal ein SF-Autor sei. Tatsächlich verweist aber auch das dezidiert als "naturwissenschaftlich" vorgestellte Denken der beiden Romane wenn nicht auf science, so doch auf speculative fiction, und die wurde schon immer großzügig (und seit der New Wave selbstverständlich) der SF zugeschlagen. Oder der "Phantastik" - aber auf diese abermalige Verzweigung der Textsorten möchte ich mich hier nicht einlassen.
      Dennoch: Bei Lems beiden Romanen haben wir ein schönes Paradigma für leere Semantik, für die meaningless of structure. Denn die Benutzung des klassischen kriminalliterarischen Schemas zur Demonstration spekulativen Denkens hat kein irgendwie produktives Potential. Weder "provoziert" Lem die Semantik der Form "whodunnit", noch erweitert er die speculative fiction um eine originelle, bedeutungstragende Form. SF & Kriminalliteratur haben sich, vielleicht sogar paradoxerweise gegen die Intention Lems, nichts zu sagen. Schlimmer, hat man den Algorithmus der Texte durchschaut, langweilen sie nur noch, weil aus abstrakten Ideen möglicherweise brillante Essays, aber kaum überzeugende narration entstehen können. Die Übersetzung eines Abstractums in fiction geht in der Regel schief und ist ohnehin ziemlich überflüssig, weil fiction das zu sagen hat, was nur fiction sagen kann.

 

Realismus
Kriminalliteratur ist wie der Name sagt - natürlich - Literatur, also Fiktion. Sie ist, wie jede Literatur, durch das Material, durch das sie existiert, an die Realität gebunden: Durch die Sprache. Selbst wo sie Numinoses, Unsagbares, Unvorstellbares erzählt, ist diese Bindung vorhanden. Was nicht sprachlich vermittelbar ist, kann nicht erzählt werden. Kriminalliteratur, wenn sie nicht nur Formspielerei ist, ist realitätsbe- und verarbeitende Literatur. Ihr Thema Gewalt & Verbrechen und deren Ubiquität in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen koppelt sie an diese Realien. Zu ihnen muß sie sich verhalten, mit ihnen muß sie umgehen. Das fesselt sie an das Hier & Jetzt. Das ist so unkompliziert nicht, wie es sich anhört: "Realismus wird dort registriert und anerkannt, wo sich Übereinstimmung mit der eigenen Wirklichkeitserfahrung, mit der eigenen, meist naiven, unreflektierten Wirklichkeitskonzeption zeigt - wobei einzuschieben ist, dass dieses Eigene weitgehend auf Dichtung als bewußtseinsbildende Faktoren zurückweisen kann", heißt es bei Wolfgang Preisendanz. Ersetzen wir, den neuen Konstituentien unserer Wirklichkeit entsprechend, "Dichtung" durch "gesamtmediale Text- und Bilderwelten".
      Science Fiction hat da, wo es um Übereinstimmungen mit der eigenen Wirklichkeitserfahrung geht, unmittelbar nichts zu bieten. Die Erfahrungen haben de facto noch nicht stattgefunden. Wohl aber ihre medialen Bilder, die derart wirkmächtig sind, dass sie als Surrogat für eigene Erfahrungen funktionieren. James Graham Ballard, der einst sehr stark dafür plädierte, die Science Fiction als Literatur des Hier & Jetzt zu begreifen, hat genau diesen Punkt als Problem erkannt und zum Movens seiner Literatur gemacht. "Meines Erachtens hat sich das Verhältnis zwischen Fiktion und Realität... drastisch verändert. In steigendem Maße werden die angestammten Rollen verkehrt. Wir leben innerhalb einer Welt, die von Fiktionen dominiert wird", sagte er in einem Interview, "- von Massenkonsum, von der Werbung, von Politik als einem Ableger dieser Werbung, von den Auswirkungen von Wissenschaft und Technologien, die augenblicklich in populäre Bilder umgesetzt werden..." Es sei also, letztendlich, die Aufgabe des Schriftstellers, die Realität zu erfinden. Im Kontext des Ballardschen Rückbezugs auf das Hier & Jetzt für einen SF-Autor sicher eine Extremposition, als Programm für eine SF mit Zukunftsindex ein möglicherweise tautologischer Standpunkt. Die Pointe bleibt, dass die zeitgenössische SF sich aus einem Reservoir von populären Bildern, Vorlagen, Texten, Filmen etc. bedient, die die Genre-Geschiche bereitstellt.
      Mit der realen Realität des Kriminalromans hätte diese Methode dann aber nur noch extrem vermittelt zu tun.
      Dennoch redet man gerne vom "Realismus (in) der SF". Realismus aber ist immer auch ein anti-thetisches Konzept, das sich gegen künstlerische Verarbeitungen von Welt richtet, denen man vorwirft, mindestens einen entscheidenen Aspekt aus den Augen verloren zu haben. Die Geistesgeschichte kann das an unzähligen Beispielen (für alle Künste) belegen. "Realistische SF" müßte also "unrealistischer SF" etwas entgegenzusetzen haben - egal, auf welcher Ebene. Gegen das Geballere der frühen space operas etwa die Konzepte der "seriös" technologisch agierenden SF; gegen die Evasion in ferne Welten etwa das Konzept des inner space usw. Mitzudenken die jeweils ästhetischen, erkenntnistheoretischen, ideologischen, sozialpsychologischen (oder auch: marktstrategischen) Faktoren, die Konzepte nunmal mit sich schleppen - ob intentional oder wenigstens bewußt tut hier nichts zur Sache. Es tut auch nichts zur Sache, was gerade im Einzelnen als "realistisch" bezeichnet wird. Wenn Ballards Texte wider den Raumschiff/Planeten/Aliens-Komplex auch noch so sur-realistisch verfahren, würde er dennoch einen größeren Grad von Realismus für seine Texte reklamieren, weil die sich eher mit den Realien der conditio humana beschäftigten.
      Auch in sich geschlossene, plausible Systeme gelten gerne als "realistisch". Die "Alastor"-Welt von Jack Vance, die "Mars"-Welt von Bradbury, die "KULTUR"-Welt von Ian Banks, eben alles, was sich in beliebten und monumentalen Zyklen manifestiert. Deren unterstellte Konsistenz jedoch meint einen "Binnenrealismus", der durch Setzung des Autors (oder des Marketing-Konzepts) definiert ist. Dieser Binnenrealismus zeigt sich, je nach Qualität des Werkes, als fein ziseliert, grobschlächtig hingehauen, stereotyp oder individuell gestaltet. Er kann nur leichte futuristische Graduationen haben oder in einer reinen Phantasiewelt spielen. All das hat mit den Hier-&-Jetzt-Realien höchstens relational zu tun. Und ist, egal wie diese Welten konkret aussehen, an unsere Sprache (und den ihr inhärenten Erweiterungsmöglichkeiten, Stichwort: Neologismen) gebunden. Den Realismus, den wir für die Kriminalliteratur brauchen, können sie graduell haben, wenn sie nur leichte futuristische Extrapolationen vornehmen, aber sie brauchen ihn ganz und gar nicht. Auch dann nicht, wenn ihre formale Inszenierung Mustern von Kriminalromanen, Polit-Thrillern etc. folgen.
      Ein Muster, siehe Lem, definiert jedoch noch nicht ein Genre.

Von der Seite der Kriminaliteratur her geschaut: Auch dort gibt es "Zyklen", die man "Serien" nennt, und die hin und wieder einen Kosmos aufbauen. "Kosmos" ist dabei eher metaphorisch gemeint. Der Ausdruck beschreibt Standards - Personal, Topographie, Soziologie etc. Die Plausibilität (und damit auch die Qualität) solcher kriminalliterarischer Kosmen stellt sich über ihre lebensweltliche Genauigkeit her. Das muß nicht in jedem Fall circumstantial realism sein, obwohl der an bestimmten Stellen unabdingbar ist. Ein Polizei-Roman, der keine Ahnung von Polizei hat, ist im günstigsten Fall mißlungen. Das New York in Jerome Charyns Isaac-Sidel-Serie ist durch sprachliche Operationen leicht ins Visionäre (aber nicht ins Futuristische) verschoben. Charyns Delirien funktionieren nur auf dem Boden des Hier & Jetzt. Ähnliches gilt für den Harlem-Cycle von Chester Himes, für Pieke Biermanns Berlin-Serie, für das Nottingham, das John Harvey mit Inspector Resnick und den Seinen bevölkert, für William Marshalls Hongkong, auch wenn letzteres manchmal sehr außerdirdisch anmutet. Kategorial sind das alles natürlich auch fiktionale Welten, geschlossen, penibel ausgestattet, aber die Ausstattung hat einen Maßstab: Reale Realien, nicht prognostizierte oder freestyle fantasierte. Das Vorausschauen und Extrapolieren bewegt sich in dem Rahmen des Realen, und mag es dann noch so surreal erscheinen. An dieser Stelle kommen sich Kriminalautoren und SF-Autoren wie Ballard sehr nahe - konzeptuell. Nur sehr selten formal.

 

Phänomenologie II
Obwohl es genre crossing zwischen SF und Kriminalliteratur de facto schon immer in einer Art wenig diskutierten Nischenexistenz gegeben hat (siehe Bester, Harrison, Vance etc.), hatte man beide lange Zeit theoretisch als Antipoden verstanden. Auch da, wo im Zeitalter der humorlosen "Ideologiekritik" auf die Reinheit der revolutionären Lehre gesetzt wurde. So wütete Frank Reiner Scheck 1972 stramm neo-stalinistisch: "Die SF ist die Massenliteratur einer kleinbürgerlichen 'Bewältigung' der imperialistischen Gesellschaft. 'Bewältigung', weil sie anders als Heimat-, Wildwest-, Liebes- und Kriminalroman, die elementaren Gattungen des Trivialen, nicht auf gedankliche Flucht in eine vor- oder nebenimperialistische, weitgehend realitätsentkleidete Form sinnt, sondern solche Realität, in ihrer technologischen Perspektive, zugibt." Das ging natürlich in erster Linie gegen dystopische Texte, die totalitarismus-kritisch argumentierten, gegen Orwell, Huxley und (erstaunlicherweise?) Samjatin.
      Mit der dystopischen Verdunkelung der SF ergab sich eine neue, interessante Schnittstelle zwischen Kriminalroman und SF. Der Californian noir - ein Terminus, den Mike Davis gern benutzt, um die allmähliche Implosion des amerikanischen Traums anhand dessen optimistischster Landschaft, eben Kalifornien, bei Autoren wie Nathaniel West, James M. Cain, Horace McCoy usw. zu beschreiben - lieferte die Farbe und Atmosphäre der zunehmend dystopischen Orientierung der SF seit den späten 1950ern. Ich will hier keine Philologie betreiben, aber Philip K. Dicks Rolle als Schlüsselfigur dieser Richtung bedarf keiner weiteren Ausführung. "Do Androids Dream of Electric Sheep?", Dicks Roman aus dem Jahr 1966 (veröffentlicht 1968), bekam spätestens durch die Verfilmung von Ridley Scott als "Blade Runner" (1982) paradigmatischen Charakter. Vermutlich sogar eher durch die Verfilmung, weil die, anders als Dicks Buch, neurotische Themen der 1980er überdeutlich unterstrich. Zwar ist schon der Rick Deckard des Romans ein bounty killer im kriminalliterarischen Sinn, der an der potentiellen Virtualität von Realität verzweifelt, aber Scott kombinierte diesen Aspekt des Romans mit einem visuellen Surplus. In Dicks postdoomsday-Roman - auch das ein Thema der Zeit - ist die urbane Zivilisation in der Bay Area durch nuklearen Dauer-Outfall zusammengebrochen - wegen Unterbevölkerung und ökologischem Breakdown. Scott macht daraus eine Überbevölkerung in der prototypischen Megalopolis Los Angeles und klinkte sich damit in den Diskurs über Urbanität und Stadtkulturen ein. Für Urbanität aber stand gleichzeitig, beinahe ikonographisch, die Kunstfigur des Privatdetektivs - nicht umsonst kam es in den 1980er Jahren in der Kriminalliteratur zu einem Revival dieser Ikone, die zudem gerade von den Sisters-in-Crime gendermäßig umdefiniert wurde. Und selbst da, wo die Figur nicht auftaucht, stellte sich die Großstadt, speziell Los Angeles, in den Cop-Romanen von Joseph Wambaugh etwa, als neuer Erfahrungsraum von Zivilisationshölle dar. Wobei natürlich die guten, alten mean streets von Chandler & Co. die kommunikative Folie boten. Die Science Fiction bekam von da an einen tinge of noir, der bis heute anhält. Und sich längst vom Erdboden gelöst hat und mit der Schwärze des unendlichen Alls - wenn auch nur metaphorisch - prächtig harmoniert.
      Wirklich nur metaphorisch?
      "Blade Runner", der Film, und das Gesamtwerk von Dick, waren bekanntlich die Hauptinspirationsquellen des Cyberpunk. Vor allem die Konzepte der virtual reality rückten mit der zunehmenden Computerisierung des Alltags in den Mittelpunkt des Interesses. Die als eigene empfundenen Wirklichkeitskonzepte trugen die Omnipotenz des Machbaren schon in sich - wie naiv und unreflektiert, ganz nach Wolfgang Preisendanz, auch dieses spekulative Moment ex post zu sehen ist. Aber das Gefühl von Omnipotenz war stets dialektisch, nie euphorisch, denn über die Manipulierbarkeit nicht nur der Realität, sondern auch der Virtualität war man sich immer im Klaren. Daher stammt die dystopische Färbung dieses Zweigs der SF. Dystopie aber gab es auch bei Dick oder Ballard oder John Brunner - allerdings ohne den direkten Bezug auf den roman noir oder andere Formen des Kriminalromans. Diesen Bezug hat in der Tat der Cyberpunk eingeführt. Allerdings eher in Details der Ausstattung, in einer bestimmten Mentalität der Protagonisten, in einer bestimmten Grundhaltung der Welt gegenüber. Und gerade die ist ästhetisches Zitat. Die Postmoderne ordnet kulturelles Material um und neu - "Intertextualität" läßt sich nicht länger als direktes Zitat aus einzelnen Texten beschreiben, sondern eher als Verarbeitung ganzer (pop-) kultureller Cluster - Filme, Comics, Bücher, Videos, Musik. Man hat das richtig als "Recycling" von äußerlichen Merkmalen erkannt, weniger als substantielle Funktionalisierung.
       Gerade da, wo sich die SF am fortschrittlichsten geriert, zeigt sich klar, dass die Bilder der Zukunft aus dem Reservoir der Bilder der Vergangenheit und der Gegenwart stammen. Durch die massenhafte, allgegenwärtige mediale Verbreitung dieser Bilder von Zukunft gelingt hin und wieder sogar eine gewissen Rückkopplung in die Jetztzeit. Wenn auch nur in peripheren Bereichen wie Mode, Musik, lifestyle.
      In einem sehr klugen Aufsatz hat Michael K. Iwoleit gezeigt, wie William Gibson als Pionier und "Großmeister" des Cyberpunk wesentlich eine neue "Attitude" des Genres bestimmt hat. Rückhaltlos zuzustimmen ist Iwoleit aber auch, wenn er resümiert, dass Gibson "...nur zur Rhetorik der Science Fiction, nicht zu ihrer Weiterentwicklung als kritisches Instrument des Weltverstehens beigetragen hat."
      Denn an den Grundproblemen hat sich nichts geändert. Von der Science Fiction-Seite aus gesehen. Die neuen Lebenswirklichkeiten (IT, Biochemie, Genetik etc.), bzw. deren unüberprüfbare Extrapolation über Jahrtausende oder Jahrhunderte bleiben immer noch an das heute sprachlich Vermittelbare gebunden. Sie sind neue oder neu akzentuierte Themenfelder, die nicht zwingend neue ästhetische Strukturen mit sich bringen müssen. Ihr fiktiver Realismus ist gleichfalls ein Binnenrealismus, nach Maßgabe der "inneren" Plausibilität.
      Bemerkenswert ist, von der kriminalliterarischen Seite aus gesehen, dass die Figur des Privatdetektivs heute, d.h. in den letzten paar Jahren, in der Science Fiction fröhlichere Urständ feiert als in ihrem Stamm-Genre. Greg Mandel aus Peter F. Hamiltons "Mind Star"-Trilogie, Tanner Mirabel von Alastair Reynolds oder Takeshi Kovacs von Richard Morgan sind zwar weitläufige Verwandte von Harry Harrisons Stahlratte Bolivar di Griz, aber gleichzeitig nähere Verwandte der desillusionierten Vietnam-Veteranen, die als Privatdetektive die Kriminalliteratur der 1980er bevölkerten.
      Dass sich die heutige Kriminalliteratur ihrerseits mit ihren überlebensgroßen Serialkiller-Monster, ihren Profilern, Gerichtsmedizinern und Wunder-Forensikern zunehmend vom realen Boden weg in die Evasiv-Welten des Horror-, oder Gruselschockers, mit ihren klerikal-mystischen Verschwörungsthrillern und neo-gothischen Ambientes in Richtung der Fantasy bewegt, sei hier als nette Ironie angemerkt.

 

Phänomenologie III
Paradigmatisch für das Revival des Privatdetektivs im Weltenall können die drei Takeshi-Kovacs-Romane des Briten Richard Morgan stehen: "Das Unsterblichkeitsprogramm" (2002), "Gefallene Engel" (2003) und "Heiliger Zorn" (2005). Das zentrale Gadget aller drei Romane ist die potentielle Unsterblichkeit des Menschen. Die Seele oder die Persönlichkeit, das Wesen, das Bewußtsein oder welch mehr oder weniger metaphysischen Begriff man auch immer wählen möchte, läßt sich demzufolge digitalisieren und als Datenpaket, als "Stack" handeln. Stirbt der Körper, kann der Stack - eine kleine Kaspel, stoß- und wasserfest, direkt unter dem Kopf in die Wirbelsäule implantiert - entnommen werden und in einen neuen Körper, hier "sleeve", also Hülse genannt, "dekantiert" werden. Ad infinitum - der Mensch an sich, reduziert auf das Datenpaket, ist unsterblich. Man kann sich, sofern man sich das in Morgans Welt leisten kann, einen jeweils neuen Körper mit bevorzugten Eigenschaften klonen lassen; man kann, wenn man nicht das nötige Kleingeld hat, sich billige synthetische Sleeves kaufen (sieht aber Scheiße aus) oder als reines Bewußtsein im Datenpack vor sich hin wesen. Dumm nur, wenn übel gesonnene Zeitgenossen einem in völlig falsche Sleeves packen, in Tiere z.B. Oder eine Kopie machen, und die in einen anderen Körper füllen. Ganz reiche Menschen machen zur Sicherheit natürlich regelmäßig backups. Falls dann der reguläre Stack doch einmal kaputt geht, ist nur ein bißchen erinnerte Zeit verloren, sonst aber nichts. Im Normalfall aber lebt man, solange der Sleeve hält, dann tauscht man ihn um und lebt weiter. Nur sture Sekten bestehen auf dem Recht des Menschen auf einen finalen Tod. Die haben dann Pech gehabt.
      Das ist natürlich zum Schreien komisch, wenn auch leider unfreiwillig. Reiner Platon ("der Körper als Kerker der Seele"), gemischt mit der Cartesianischen Gewißheit über die Seele ("...eine gewisse sehr kleine Drüse, die inmitten der Hirnsubstanz liegt..." , wußte René Descartes schon 1649 in "Les Passions de l'âme"). Augustinus hätte sich gefreut - endlich ist der "sündige Leib" wieder und wieder abtötbar, Legionen von christlicher Mystikern und Asketen könnten fröhlich zur unendlichen Dauerflagellation antreten - ist ein Sleeve zerhauen, gibt¹s den nächsten. Dieser hoffentlich nicht intentionale Anschluß an die regressivsten Momente von Religion, und wider jede wissenschaftliche Erkenntnis ist bemerkenswert. Die SF plündert hier - und beileibe nicht nur hier - nicht nur die Resevoirs des Genres (die Idee des speicherbaren Bewußtseins ist natürlich nicht von Morgan erfunden wurde, auch da führen die Spuren u.a. zu Dick zurück; sie gehört inzwischen fast zur Standard-Ausrüstung der SF), sondern gleich das Reservoir der Philosophiegeschichte, wenngleich auf einem, nunja, schlagworthaften Niveau. Die Zukunft ist also auf den überkommensten Relikten der abendländischen Geistesgeschichte errichtet, die man natürlich flugs zum "Menschheitstraum" umdeuten kann.
      Morgans sehr erfolgreiche Romane sind auch aus anderen Gründen bemerkenswert. Seine Kovacs-Trilogie beschäftigt den intergalaktischen Privatdetektiv weniger mit metaphysischen Fragen, sondern mit sehr irdischen Dingen. Auch wenn die in fremden Stern-Systemen ablaufen. Im ersten Band geht es um oligarchische Strukturen auf der Erde, um Klassenkampf sozusagen. Die Reichen, die Methusalems, können sich unbegrenzte Lebenszeit kaufen - die Armen nicht. Das gibt Ärger. Kovacs wird gegen seinen Willen engagiert, um einen Fall - die vorläufige "Ermordung" eines Methusalems - aufzuklären. Bald stößt er auf die Spuren des Organisierten Verbrechens, das überall mitmischt. Hier wird Morgan - wie auch in den anderen Romanen - gut Hammett'sch. Organisiertes Verbrechen, Politik und große Wirtschaft gehen Hand in Hand, sind strukturell schon lange nicht mehr unterscheidbar. Das ist, evidentermassen, topisch und eben von Dashiell Hammett seit 1929 in den kriminalliterarische Diskurs "eingeschrieben".
      In Band zwei und drei begegnen wir dem "Protektorat", dem politischen Zusammenschluß von homo sapiens. Man siedelt auf unzähligen fremden Welten, man führt klassische Kolonialkriege gegen lokale Autonomiebestrebungen. Präziser, man übt "informelle Dominanz" aus. Das Protektorat ist vornehmlich an Stabilität im All interessiert und unterstützt die lokalen Oligarchen gegen Revolutionen aller Art. Dazu bedient es sich einer Marines-ähnlichen Elitetruppe, den "Envoys", die zu besonders kompetenten und gefährlichen Kampfmaschinen konditioniert sind. Ein solcher Envoy war einst Kovacs, bis er in eine intellektuelle und moralische Krise angesichts des Elends der Welt geraten war, das Corps verlassen hat und jetzt eben als Söldner und Kleinunternehmer, vulgo Privatdetektiv, auf eigene Faust sein Geld verdient. Dem Protektorat ist es egal, wenn Stabilität einhergeht mit Terror, den die Oligarchen, die universalen Konzerne und das Organisierte Verbrechen ausüben. Denn die Spezies homo sapiens ist nicht allein. Vor Hunderttausenden von Jahren war der Kosmos nämlich von den Marsianern und anderen Zivilisationen bewohnt, die zwar gerade verschwunden sind (vielleicht aber auch nur einen längeren Ausflug in andere Teile des Universums machen), aber durchaus funktionstüchtige Relikte hinterlassen haben und somit ein Bedrohungspotential darstellen, gegen das die Einigkeit der menschlichen Rasse dringend bewahrt werden muß. So blutig dies auch im Einzelfall auch durchgesetzt werden muss.
      Klar: Bei aller Freude am prallen Erzählen mit viel sex'n violence, das Morgan sehr gut beherrscht - die Trilogie ist eine Parabel auf das Hier & Jetzt. Die Verbrechen, mit denen Kovacs zu tun hat, sind unsere mehr oder minder verdeckten und offenen Verbrechen: Informelle Dominanz mit flankierenden, militärischen Massnahmen im Interesse von Wirtschaft und Organisiertem Verbrechen: Schon längst Alltag in Afrika; die Duldung tyrannischer Regime unter dem Vorwand der Stabilität: Siehe die amerikanische Aussenpolitik seit Jahrzehnten; die Legitimierung jeglicher Schweinerei mit einer numinosen Bedrohung: Krieg gegen den Terrorismus. Und so weiter, und so traurig fort. Nichts Neues in der Zukunft.
      Dass Morgan gegen unsere schlimmen Zeitläufte anschreiben möchte, sich als politischer Autor versteht, gar dezidiert "liberale" Positionen bezieht, ehrt ihn. Man kann es verstehen. Was man weniger verstehen kann, ist warum er die Übel der heutigen Zeit in zukünftige Übel eins zu eins transponiert, zumal es keinen Druck von Zensur gibt. John le Carré schreibt seit einigen Jahren im Grunde die selben Bücher - nur mit klarem Benennen von Roß und Reiter.
      Die Zukunftsgadgets nämlich führen bei Morgan zu nichts. Sie können kaum als "V-Effekte" durchgehen. Weder literarisch-ästhetisch, noch "erkenntnistheoretisch". Dass Figuren nicht tot sind, wenn sie tot sind, das verlängert einfach ihre Teilhabe an Spaß, Frohsinn und Massaker über Jahrhunderte hinweg. Es verlängert auch ihr Leid an der Welt, in dem Kovacs in gut melancholischer p.i.- und noir-Tradition des öfteren wahrlich begeistert versinkt. Der tinge of noir gibt bei Morgan die Atmosphäre vor, definiert die Stimmungsbilder von fremden Planeten, von menschlicher Defizienz und erfreut mit bizarren Moden und Körperstyling. Die eigene Wirklichkeitskonzeption weist wieder einmal massiv auf die üblichen bewußtseinsbildenden Faktoren zurück.
      Kein Wunder, dass bei soviel Pathos Komik nicht stattfinden kann. Ausgerechnet in einem Roman außerhalb der Reihe, "Profit" (2004, im Original: "Market Forces"), zeigt Morgan nämlich, dass er sehr wohl satirisch-polemisch sein kann. "Profit" spielt nur ein paar Jahre in der Zukunft, in einem ziemlich durch-thatcherisierten England, in dem Führungskämpfe im Management durch Autorennen bis zum Tode ausgetragen werden - was angesichts der Streß-Mortalität im heutigen Wirtschaftsleben gar kein so blöder Gedanke ist. Und das Geschäftsfeld, conflict investment, ist auch keine unplausible Angelegenheit. Nur "neu" ist es nicht: Investoren finanzieren in Drittwelt- und Schwellenländer gegen einen Anteil vom künftigen Bruttosozialprodukt des Landes die Konfliktpartei, die sie für letztlich durchsetzungsfähig halten - egal, wie scheußlich die im Einzelnen sein mag. Hallo, Afrika! Hallo, Lateinamerika! Aber immerhin ergibt wenigstens die satirische Überzeichung noch einen ästhetischen Mehrwert, der SF-Faktor ist sozusagen durch die Überzeichnung "gedeckt".

 

Vis comica
Avancierte Kriminalliteratur ist meistens komisch. Komisch nicht nur im Sinne von witzig oder lustig oder humorig. Komisch im Sinne eines Weltverständnisses, das jede Art von "ernsthafter", seriöser Sinnprojektion subversiv unterläuft. Also mit dem Irrwitz und dem Wahnsinn, in dem wir leben, literarisch-ästhetisch umgeht, ohne ihn mit Teleologien, Ideologien oder präformierten Ordnungsmustern zu domestizieren. Die Mittel dafür sind Karnevalisierung, das Benutzen von grotesken, bizarren, absurden Verfahren in allen ihren Nuancen.
      Eine solche Komisierung scheint mir in größeren Teilen der Science Fiction, da wo sie kriminalliterarische Elemente benutzt, nicht stattzufinden. Zumindest nicht im Zusammenhang der dystopischen Wende. Dick war hin und wieder sehr komisch, Ballard auch - aber nie dort, wo Kriminalliteratur als Bezugsfeld in Frage kam.
      Natürlich gibt es komische Science Fiction, mit allen oben beschrieben Eigenschaften. Aber kaum - man korrigiere mich, falls ich etwas nicht kenne - im genre crossing mit der Kriminalliteratur. Dort haben die Romane das Pathos der klassischen Privatdetektiv-Romane seit Chandler und Ross Macdonald nicht abgelegt. Die Konflikte lasten bleischwer auf den Protagonisten, genauso bleischwer wie die verwüstete Ökologie, die verrotteten Beziehungen unter den Menschen und die kaputten Psychen, die pathologische Gewalt. In der Kriminalliteratur galt (und gilt mancherorts immer noch) dieses black-in-black als Ausweis eines besonders "illusionslosen", "schonungslosen", "tabubrechenden" Realismus. Der Verzicht auf die ästhetische Kraft der Komik, die vis comica, verhindert aber gerade jede Art von auf literarischem Weg gewonnener Erkenntnis, die die Parameter der "eigenen, meist unreflektierten und naiven Wirklichkeitskonzeption" aufzubrechen vermag. Dieser Verzicht führt zu einem bloß gefühligen Konsens über die Schlechtigkeit der Welt. In der SF wird diese Stasis lediglich in die Zukunft verlängert - noch düsterer, noch schlechter, noch aussichtsloser. Das aber ist, bei allen sympathischen, fortschrittlichen, analytischen klarsichtigen Momenten dennoch eine lähmende Aussicht und führt zu wenig überraschenden Texten. Desaster as usual.
      Und natürlich: Desaster sells.

 

Also
Mestizaje es grandeza, heißt ein alter mexikanischer Spruch. Die Vermischung, Kreuzung und Hybridisierung von Stilen und Formen ist faszinierend, spannend, fruchtbar. Wenn sie funktioniert - wenn sie es fertigbringt, verblüffende, überraschende, plötzliche, choque-hafte Lichtpunkte zu setzen. Dass so etwas zwischen Kriminalliteratur und Science Fiction zur Zeit nicht sehr befriedigend funktioniert, ist nicht die Schuld eines Parts. Es könnte ein Indiz für eine Krise beider Genres sein. Die Kriminalliteratur bewegt sich zur Zeit in evasive Beliebigkeit, die SF möchte teilweise auch Kriminalliteratur sein und bezieht doch nur schon aufgegebene Ruinen. Die Nachbarschaft der beiden Genres bleibt prekär. Für Leser kann das auch von Vorteil sein. Denn vermutlich muß man nicht im einen Genre das Selbe lesen, was man aus dem anderen schon längst kennt. .

 

© Thomas Wörtche, 2007
(Aus: Sascha Mamczak u. Wolfgang Jeschke (Hg.):
Das Science Fiction Jahr 2007
Mit Illustrationen von John Picacio.
Originalausgabe. München: Heyne, 2007,
Heyne Bücher Nr. 52261, 1363 S., 22.00 Euro (D)
)

 

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