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Das Versagen der Kategorien

Thomas Wörtche über Georges Simenon

 

SgD&H,
Wie sich vielleicht schon zu Ihnen allen herumgesprochen hat, gelte ich als Spezialist für Kriminalliteratur, für Agenten- und Spionageromane, Science Fiction, Comics und andere merkwürdige Dinge, die man gerne als" Populäre Literatur" bezeichnet.

Da liegt ein Problem, das ich gleich zu Anfang wegräumen möchte, weil es unnütz ist und nur stört: Günter Grass zum Beispiel ist ein extrem populärer Autor - jeder kennt ihn, jeder weiß zumindest die "Blechtrommel" zu nennen, aber niemand würde ihn der "Populären Kultur" zuordnen, sondern der gerne als Gegenbegriff geführten "Hochkultur". Dagegen ist selbst unter Anglisten (wenn ich mich nicht arg irre) der britische Lyriker John Harvey kaum bekannt. Er schreibt zudem hochintelligente Kriminalromane. Ich müßte mich also, vom Popularitätsquotienten her, mit Günter Grass beschäftigen, statt dessen kümmere ich mich um Leute wie John Harvey. Populäre Literatur?

Ich weiß natürlich, daß man unter "Popular Culture" etwas ganz Bestimmtes versteht - aber die Übereinkunft, was das sein soll, war schon immer schief, weil sie im Grunde nichts anderes meinte und meint als ein verkapptes Werturteil. Eine raffinierte graphic novel (vulgo: Comic), die wir alle sofort der "Populären Kultur" zuschlagen würden, kann hundertmal komplexer und ästhetisch vielschichtiger sein als das Gesamtwerk eines durchschnittlichen, feuilletonnotorischen Lyrikpreisträgers. Ich glaube nicht, daß wir darüber ernsthaft diskutieren müssen. Dennoch wird diese gedachte graphic novel nicht feuilletonnotorisch. Und das ist ein implizites Werturteil. Ich möchte dieses Problem hier nicht weiter vertiefen, sondern nur festhalten, daß ich mit dem Begriff "Populäre Kultur" für meinen Tätigkeitsbereich nichts anfangen kann und ihn deshalb supendieren möchte.

Das zweite Problem, das sich bei meinem Bearbeiten von "Kriminalliteratur" ergibt, - ein Begriff, den ich hier sehr, sehr umfassend benutze, auch um nicht jedesmal ... und Spionageroman und Politthriller und roman noir etc. dazusagen zu müssen - hört sich möglicherweise paradox an: Ich habe ich-weiß-nicht-wie-viele-tausende einschlägige Texte gelesen, kenne vermutlich ein knappes Hundert ihrer Verfasser allerlei Geschlechts und allerlei Zungen persönlich und über Jahre hinweg, und habe das Privileg, bei mindestens einem Dutzend der feineren internationalen Namen intimeren Einblick in die resp. "Schreibwerkstätten" zu haben. Und ich bin mit einer Schriftstellerin, die "Kriminalromane" schreibt, verheiratet. Seit ungefähr zehn Jahren äußere ich mich öffentlich zu solchen Texten.

Aber: Ich habe, je länger ich mich mit solchen Texten beschäftige, zunehmend weniger hieb- und stichfeste Vorstellungen davon, was denn genau ein Kriminalroman sei. Schuld daran, und damit bin ich bei meinem eigentlichen Thema angekommen, sind Autoren wie Georges Simenon - im europäischen Kontext.

Den außereuropäischen Kontext mit zeitgleichen Autoren von Dashiell Hammett bis Jim Thompson, Chester Himes et al. muß ich außen vor lassen. Nicht ohne den begründeten Verdacht, daß sich für sie ähnliche Vermutungen formulieren lassen, wie ich sie jetzt gleich für Georges Simenon riskieren möchte.

Ich will mich auch nicht dümmer stellen als ich bin - nicht mal heuristisch. Natürlich weiß ich, was ein "Krimi" ist: Ein nettes Stückchen narrativer Prosa als Short Story oder Roman, bei dem am Anfang eine Leiche anfällt und wir am Ende wissen, wer der Mörder ist. Agatha Christie hat Krimis geschrieben, und Sir Arthur Conan Doyle und Rex Stout und heutzutage schreibt Elizabeth George welche. Krimis haben im günstigen Fall ein paar bizarre Figuren zu bieten, im ungünstigen Fall langweilen sie. Sie sind Teil einer zutiefst legitimen Literatur - der sogenannten Unterhaltungsliteratur. Sie wollen nichts außerhalb ihrer Unterhaltungsfunktion; und sie richten auch nichts Schlimmes an. Zumindest nicht in den Köpfen ihrer treuen Leser & Fans.

Unter Sekundärbearbeitern manchmal jedoch schon. Denn fatalerweise teilen solche "Krimis" ein paar inhaltliche Komponenten (also die grobe thematische Festlegung auf Leiche & aufklärende Instanz) mit den Texten anderer Autoren und -innen: Dashiell Hammett, Chester Himes, Jerry Oster, Jerome Charyn & und zum Beispiel eben auch Georges Simenon. Auf Grund dieser thematischen Analogien und ein paar allerdings recht wackliger Strukturanalogien (wobei auch die meistens mit schlichter Inhaltsparaphrase benannt werden können) formierte sich plötzlich ein Ding namens "der Kriminalroman". Mit einer anscheinend eigenen Geschichte, Prototypen, nationalspezifischen Ausprägungen (der US-amerikanische, der britische, der französische etc.) und Subsortierungen (der whodunit, der man-on-the-run, das police procedural etc.) und allerlei tertiären Ordungsmerkmalen (der Sozio- & Psycho-Krimi, das Court-Room-drama etc.), nebst ein paar deutlich buchmarkttechnischen Etiketten (Frauenkrimi, Schwulenkrimi, Ökothriller etc.). Eine literarische Reihe also, die sich deutlich über die Gruppierung von Handlungselementen definiert, aber kaum über verschiedene ästhetische Verfahren und all die Kriterien mehr, die normalerweise in Gattungstheorien eine Rolle spielen.

Dadurch passiert folgendes: Man unterstellt dem "Kriminalroman" eine anscheinend autochthone Entwicklung, eine merkwürdig inszestuöse Evolution innerhalb seiner anscheinend ureigenen Parameter, die fensterlos monadenhaft, abgeschieden vom Rest der Welt - also der Welt der nicht-kriminalliterarischen Literatur und Kunst und der Welt der außertextuellen Kontexte - vor sich hin mendelt. Der so entstandene Begriff "Kriminalliteratur" hat ein bestimmtes Textkorpus so fest im Griff, daß man andauernd die wenigen Gemeinsamkeiten, also die Variationen bei der Anordnung bestimmter (aber längst nicht aller) Handlungselemente, ventiliert und die beinahe unendliche Anzahl der ästhetischen Möglichkeiten diese Handlungselemente (und viele andere Plot-Komponenten mehr) anzuordnen, außen vorläßt. Unter dem Begriff verschwimmen, so scheint mir, alle Unterschiede. Man diskutiert nicht nur Chester Himes in Relation zu Raymond Chandler, man diskutiert auch Jerome Charyn in Relation zu Edgar Wallace. Das heißt: Man diskutiert ästhetisch singuläre Texte resp. Autoren zusammen mit dem ganzen Bodensatz trivialer und schlicht unbedeutender Texte von gleich zu gleich, weil es ja ein paar marginale Gemeinsamkeiten gibt. Mehr noch: Quantitative Merkmale, die man aus einer ganzen Masse trivialer Texte destilliert hat, appliziert man auf Einzelwerke resp. einzelne Autoren, die man dadurch als Prototypen zu bestimmen sucht. D.h. man macht Aussagen über die romans policier von Georges Simenon anhand von statistischem Material, das man aus tausend Heftchenromanen mit Polizisten drin gewonnen hat, und keine Aussagen über die Spezifik der Romane von George Simenon. Das ist so, als würde man die Geschichte des Romans im 20. Jahrhundert anhand von Thomas Pynchon und Heinz Konsalik, an Günter Grass und Rosamund Pilcher, an Franz Kafka und Danielle Steel diskutieren. Ein paar Gemeinsamkeiten wie "Mann liebt Frau" wird man auch da finden. Sie sehen, da kann etwas nicht stimmen.

Bei Georges Simenon glauben wir alle zu wissen, von was die Rede ist: Vom gemütlichen Kommissar Maigret mit seinem Pfeifchen und seiner dito Madame, die ihm vorzügliche Hausmannskost zu bereiten pflegt. Wir kennen Maigret - aus Film und Fernsehen, mit den Gesichtszügen von Jean Gabin oder denen von Heinz Rühmann, schließlich "ikonographiert" von Rupert Davis - ausgerechnet in einer BBC-Fernsehserie. Wir wissen, daß Georges Simenon unendlich viel geschrieben hat, Maigrets & NichtMaigrets, angeblich ein karnickelartiges Sexualleben hatte, sich während der "Okkupation" Frankreichs recht uneindeutig benommen hat, möglicherweise Antisemit war und ... ja, was sonst noch?

Immerhin sprechen 500 Millionen in aller Welt verkaufte Bücher für sich - seit Charles Dickens ist Georges Simenon vermutlich der Autor, über den Rezeptionsforscher nur noch sagen können, daß er in sämtlichen & allen nur erdenklichen lesersoziologischen "Zielgruppen" präsent ist. Und daß er von einer Reihe hochkarätiger Geister verschiedenster Provenienz hochgeschätzt wurde: Von Walter Benjamin, William Faulkner, Federico Fellini und Alfred Andersch gleichermaßen. Dashiell Hammett hielt ihn kurz & knapp für den "besten KrimiAutor unserer Tage". Aber ob er damit nur die Maigret-Romane meinte?

Von Simenons Maigret-Romanen hält sich hartnäckig das Gerücht, sie seien - je nach Lesart und wenn man Sortierungen vornehmen möchte - gemütliche "romans policiers", weil Maigret beamteter Polizist ist. Oder aber "Whodunnits", deren generelle Qualität angeblich darin besteht, daß der geneigte Leser mit dem Detektiv, also hier Maigret, darum wetträtseln darf, wer am Ende der Täter (meist der Mörder) ist, wobei das Geschlecht dabei von vornherein keinen Hinweis bietet.

Von den Non-Maigrets hält sich der Eindruck, sie seien irgendwie "psychologisch", dazu "realistisch" & "atmosphärisch genau" - was auch immer dies heißen mag. Deswegen war man gerne bereit, die Aufarbeitung autobiographischer Themen und Probleme in den Non-Maigrets zu suchen. Ein Unterfangen, dem der psychologisch exhibitionistisch agierende Simenon gerne Vorschub geleistet hat. "Simenon auf der Couch", heißt ein Bändchen, in dem akribisch Interviews mit gleich fünf Psychiatern versammelt sind. Romane wie "Der Schnee war schmutzig" erscheinen dann als eine Verarbeitung der problematischen Beziehung Simenons zu seinem Bruder, "Le cercle de Mahé" oder "Betty" sind derart entschlüsselbar als künstlerische Artikulation sexueller Obsessionen. Daß es sich aber z.B. im Fall von "Der Schnee war schmutzig" womöglich um eine politthrillerartige Reflexion über die Besatzungszeit (mit den in Frankreich nicht gerne genommen Themen Kollaboration, Verrat & Loyalität etc) handelt, fällt dann aus dem Blickraster heraus.

Die schiere Masse von Simenons Primär-Textproduktion (ca. 400 Romane, dazu 51 Kurzgeschichten) & die schiere Masse psychologischer Introspektion (zwei autobiographische Romane, vier Autobiographien, einundzwanzig Bände Memoiren auf Tonband) scheinen ein Aufeinanderbeziehen von Biographie, Psychologie & Werk nachgerade algorithmisch zu provozieren. Daß man zu jeder Behauptung Simenons über sein Innenleben garantiert irgendwo anders in diesem Megakonglomerat den glatten Widerspruch geliefert bekommt, wird allerdings meist elegant übergangen.

Ausgeschlossen von einem solchen interpretatorischen Zugriff bleiben natürlich die angeblich formelhaften Maigrets, während man umgekehrt in den Non-Maigrets, den sogenannten roman durs, alles andere zu finden hofft, nur keine Kriminalromane.

Das ist zumindest merkwürdig. Und hat - eben - zutiefst mit den unerschütterlichen, zumeist still und heimlich wertenden Vorstellungen zu tun, die man sich von "Kriminalromanen" so zu machen pflegt. Das Prinzip funktioniert in beide Richtungen: Denn die unausgesprochene Übereinkunft, das eine Textkorpus seien "Krimis", das andere nicht, steuert die Wahrnehmung dessen & den Diskurs über das, was die einen zu leisten imstande sind, die anderen nicht. Die Non-Maigrets sind keine "Krimis", also müssen sie mit Sinndimensionen versehen sein, die "Krimis" abgehen müssen. Und in Krimis sucht man a priori nicht nach solchen Dimensionen, weil man sie bei dem vagen Bild von diesem "Schanger" gar nicht erwartet.

Kümmern wir uns zunächst um die Maigret-Romane & um ihren Status in der wie oben angedeutet konstruierten Reihe der Kriminalliteratur. Oder anders gefragt: Wo liegen ihre "DifferenzQualitäten"?

Ein Blick in die literaturwissenschaftliche Forschung (zumindest in die deutschsprachige) zeigt schnell, daß da wenig zu holen ist: Ulrich Suerbaum erwähnt in seiner Gattungsanalyse "Krimi" Simenon ein einziges Mal an marginaler Stelle. Peter Nusser in seinem fatalerweise im Lehrbetrieb heftig benutzten Metzler-Bändchen behandelt die Maigret-Romane als Spätkömmlinge des "pointierten Rätselromans", zusammen mit Dorothy Sayers. Das ist so absurd, daß ich allein fünf Stunden bräuchte, um zu diskutieren, warum.

Bleibt nur Ulrich Schulz-Buschhaus' "Formen und Ideologien des Kriminalromans", der die Maigrets zu beschreiben versucht als "realistische Kriminalromane", deren historischer Verdienst darin liege, "Verbrechen" als etwas Alltägliches und nicht mehr als herausragendes Skandalon beschreibbar gemacht zu haben. Das ist, was die "Alltäglichkeit des Verbrechens" betrifft, evident, aber kein sonderlich taugliches Differenz-Kriterium.

Nach dem wahnwitzigen Gemetzel des Ersten Weltkriegs und seinen sozialen Folgen hat sich in Europa und den USA in sämtlichen Künsten - man denke an George Grosz, an Alfred Döblin und die Autoren des frühen "Hollywood-Noir" (Mike Davis) - sehr wohl ein pointiertes Bewußtsein für die Ubiquität verbrecherischer Strukuren artikuliert. Auch wenn nicht immer "Kriminalroman" auf dem jeweiligen Kunstwerk draufstand. Als "Differenzkriterium" taugt das Argument eigentlich nur, wenn man es gegen die britischen Landhauskrimis der Zeit setzt. Das heißt aber auch, ohne Not den "Kriminalroman" als ein außerhalb seiner eigenen Entwicklungsgeschichte kontextfreies Konstrukt zu betrachten. Dafür ist Simenon allerdings ein ausgesprochen ungeeignetes Beispiel. Was den "Realismus" betrifft, ist Schulz-Buschhaus' These zumindest problematisch. Maigret ist eine hochartifizielle, stilisierte Figur, die Darstellung seiner Polizeiarbeit nach "realistischen", bzw. "circumstantial" - realistischen Parametern ist eher surrealistisch - so sah Polizeiarbeit selbst in der autoritären französischen Republik nicht aus. Romane mit M. Maigret sind keine romans policier. Simenons Milieuschilderungen sind weniger dazu angetan, "echte" Bilder von Paris nachzuzeichnen als Bilder von Paris zu entwerfen & durch die Art ihrer ästhetischen Eindrücklichkeit und die Quantität ihrer Präsentation nachgerade festzuschreiben. Man vergißt an dieser Stelle oft, daß George Simenon Belgier war und Frankreich, insbesondere Paris mit dem Blick von außen betrachtete & diesen fremdem Blick künstlerisch modellierte. Dennoch (oder gerade deswegen?) ist er einer der großen Imagemacher & Mythenspender des Jahrhunderts - und das hat mit "Realismus" nur vermittelt zu tun. Oder um mit Alejo Carpentier zu sprechen: Es ist ihm möglicherweise gelungen, das "Wesen" von Paris zu treffen. Dann allerdings schert er sowieso aus der Reihe der "Krimi"-Autoren aus - denn, so Carpentier, "es ist die Aufgabe des Romanschriftstellers, die Physiognomie seiner Städte in die Weltliteratur einzuschreiben und die Milieu-Schilderungen ad acta zu legen". Eine Korrespondez im europäischen Sprachraum ließe sich dann zu Gilbert Keith Chesterton herstellen, dessen vorderhand als "Krimis" klassifizierten Father-Brown-Geschichten, dort, wo sie in London spielen, explizit ein Beitrag zur Poetik der Stadt sein wollen. Das wiederum korrespondiert dann allerdings weniger mit Conan Doyle als etwa direkt mit Robert Louis Stevensons "Arabian Nights". So gehörten Simenons Pariser Maigret-Romane in die Reihe europäischer (und weiter: globaler) Großstadttexte & müßten auf ihre Differenz-Qualitäten zu John Dos Passos oder Eduardo Mendoza gelesen werden.

Sie sehen, wenn man "Kriminalliteratur" nicht als eigene Reihe begreift, sondern deren prominenteste Texte in etwas andere Kontexte stellt, dann kollabieren plötzlich die Zuordnungen und ganz andere werden sichtbar. Die meines Erachtens sinnvolleren.

Aber schauen wir uns Simenons Kontexte an: Die lange Reihe der Maigret-Romane beginnt 1930 - europäische Kriminalliteratur war bis dahin entweder als actiondominierte Spielart à la John Buchan oder in der Tat als durch und durch artifizielle, energisch und explizit arealistische Spielform bekannt. Stichwort: Conan Doyle oder G.K. Chesterton. Sie hatte allerdings weder kanonische noch normative Werke hervorgebracht (was sie by the way, auch im Verlauf ihrer Geschichte nicht tun wird), zu denen Simenons Konzept in einem dialogischen Verhältnis stehen könnten.

Am anderen Ende der heimlichen literarischen Werte-Skala sind die Klassiker der Moderne schon geschrieben (Kafka, Joyce, Proust, Döblin); wenn auch noch nicht breitenwirksam durchgesetzt, so doch in intellektuellen Zirkeln durchaus präsent. Die Standards der autoreflexiven, sprachreflexiven Literatur sind gesetzt. Daß "Erzählen" ein hochgradig vermittelter Vorgang ist und künstliche "Erzählnaivität" nur um den Preis der Trivialität funktioniert, das weiß auch Simenon. Damit ist er am Anfang der 30er Jahre sozusagen "durch". Er hat bis dahin knapp einhundertdreißig Groschenromane verfaßt, sich in allen wahrlich nicht naiv zu betreibenden Branchen des Journalismus herumgetrieben, und macht sich mit der Figur Maigret auf, jetzt endlich "Literatur" zu verfassen. Fast gleichzeitig konzipiert er seine anderen Romane, von ihm romans durs genannt - ebenfalls explizit als "Literatur". "Krimis" kennt er, bis auf ein paar Texte von Conan Doyle, so gut wie gar nicht. Er verkehrt allerdings seit Jahren gesellschaftlich (Stichwort: nette, sozial wertvolle Orgien) mit den Pariser Literaten der Zeit, mit Camus, Gide, Cocteau, der ganzen Rasselbande eben. Nach knapp vier Jahren und einem guten Schock Maigrets stand ein Verlagswechsel an: von Fayard zum Olymp der französischen Verlagswesens, zu Gallimard. Ein paar Jahre später hielt Simenon sich für nobelpreisträchtig - was nicht lediglich eine spinnerte Idee war, sondern von keinem geringeren als André Gide forciert wurde.

In diesem Bezugsfeld, das planetenfern von der "Reihe der Kriminalromane" entfernt ist, entstehen immer mehr Maigret-Bücher, mit einem bestimmten schriftstellerischen Kalkül, das die ganze Reihe bis in die 70er Jahre hinein begleiten sollte. Der verläßlichste Simenon-Biograph, der Brite Patrick Marnham, schätzt das Grundvokabular der Maigret-Romane auf ca. 2000 Worte. Das ist in der Tat wenig, und ein Blick in alle anderen veröffentlichen Texte Simenons zeigt deutlich, daß es sich dabei natürlich nicht um das gesamte Lexikon handelt, das ihm zur Verfügung stand. Die Beschränkung hat also Methode. Auch die Verwendung von Stereotypen und in fast allen Romanen wiederkehrenden Wendungen sind nicht etwa Ausweis schriftstellerischer Inferiorität (wie etwa Nusser tatsächlich zu glauben scheint und Schulz-Buschhaus extra ausführt). Sie sprechen vielmehr für ein literarisches Konzept, das sich nur schlecht mit den bis damals entwickelten "Poetologien" (so schwach diese auch sein mögen) für Kriminalromane in Einklang bringen läßt, die allesamt nur auf der Inhaltsebene agieren und über den literarischen Charakter ihrer Texte überhaupt nicht nachdenken. Conan Doyle hatte ein wirklich begrenztes Lexikon, wie man an allen Texten aus den unterschiedlichsten Genres sieht, desgleichen Agatha Christie, während für Chesterton und Dorothy Sayers genau das Gegenteil gilt.

Intendierter Minimalismus hingegen wurde für die "Kriminalliteratur" wichtig - das zieht sich in Frankreich hin bis zu den avantgardistischen Texten von Jean-Patrick Manchette & und gilt für Simenon-Verehrer in aller Welt. Was man also als schriftstellerisches Unvermögen mißverstanden hat (oder möglicherweise noch mißverstehen möchte) hat Folgen gezeitigt: In Frankreich bei Autoren wie André Héléna & Leo Malet, bei den Briten Ted Lewis & Derek Raymond (d.i.Robin Cook), bei den Katalanen Andreu Martín und Francisco Gonzalez Ledesma, um nur einige Beispiele zu nennen - auch wenn sie alle in ihren Büchern sehr unterschiedliche Ziele und Programme verfolgen, die man mit Simenon nicht in Kongruenz bringen kann.

Obwohl ...

Obwohl: Es spricht viel dafür, eine ganze Menge Rezeptionsschotter von den Maigret-Romanen wegzuräumen. Zum Beispiel hat Simenon immer wieder erwähnt, er schreibe für die petits gens, die kleinen Leute. Das würde allerdings jeder PR-erfahrene Schriftsteller angesichts dieser Auflagenhöhe auch sagen. Simenon hat damit übrigens immer wieder sein schmales Grundvokabular gerechtfertigt, was mir erst recht der Beweis für eine Intention scheint, aber für eine ganz andere: Es ist ja eher das Kennzeichen echter, plappernder Trivialliteratur pour les petits gens, möglichst wuchernde Metaphern, möglichst ungehemmte Adjektivorgien zu basteln, Phänomene, die es bei Simenon so gut wie gar nicht gibt. Aber nur diese Selbstdarstellung und nur daß Maigret ein "kleinbürgerliches" Dasein führt (d.h. seine Frau liebt und gerne gut bürgerlich ißt), bedeuten doch nicht, daß die "Maigret"-Serie eine einzige Feier der kleinbürgerlichen Perspektive auf die Welt ist. Solche Stehgreifsoziologismen fallen meiner Meinung nach meistens sowieso auf die Interpreten zurück, die selbst ein merkwürdiges Bild von "Nicht-Kleinbürgerlichkeit" haben & zudem übersehen, daß die, die sie damit meinen, nun einmal den größten Prozentsatz der Bevölkerung im städtischen Milieu des mittleren 20. Jahrhunderts ausmachen. Das aber nur nebenbei.

Der Figur Maigret fehlen deutlich die Komponenten, die den psychosozialen Haushalt des gemeinten "Kleinbürgers" ausmacht: Er empört sich selten (wir alle wissen, welche Rolle die manipulierbare Empörbarkeit gewisser sozialer Gruppierungen gespielt hat, auch in Frankreich) & und sein Verhalten gegenüber sogenannten Randgruppen, insbesondere gegenüber Huren, aber auch gegenüber Clochards und sonstwie aus der Bahn Geworfenen, gegen kleinkriminelle Lumpis und ehrbare Gauner ist bemerkenswert tolerant und nicht-ausschließend. Das heißt aber auch: er idolatrisiert sie nicht. Im Gegenteil - es finden sich unter den Maigret-Romanen wahre Exerzitien der genauen und kalten Auges vorgenommenen Beobachtung von Spießbürgern jeden Alters und jeden Geschlechts. Ganze Panoramen von Herzlosigkeit, kleinlich pissiger Bösartigkeit, dumpfer Xenophobie, von Neid, Mißgunst, übler Nachrede und giftiger Geschwätzigkeit begleiten Maigrets Streifzüge durch die verschiedenen Arrondissements der Stadt und über Land. Die petits gens haben oft widerwärtige Züge. Die Charakterisierung Maigrets als "allergewöhnlichster, staatsfrommer Kleinbürger, der nach ehrlichem Tagwerk für ehrlichen Lohn zu seiner Frau zurückkehrt", die beispielsweise Ernest Mandel in seiner grotesken "Sozialgeschichte des Kriminalromans" prototypisch liefert, übersieht mit einer gewissen Grandezza diesen scharfen anti-(klein)bürgerlichen Aplomb. Vermutlich, weil Mandel Simenons Werk nicht als "Konzeptions-Art" versteht, sondern auf platteste Weise symptomatisch deutet: Alles, was der vom Lebenstil her als "großbürgerlich" (viele Frauen, schicke Autos, Unglück in der Ehe) eingeschätzte Georges Simenon nicht war, aber gerne sein möchte, all dies ist Maigret. Kein Mensch weiß zwar, wer Georges Simenon wirklich war (vermutlich ein Scheusal, aber was sagt das?), aber es paßt zu der Einschätzung von "Kriminalromanen" als Schlicht-Texte, daß man ihnen zutraut, der Ort der ungeschlachtesten Verkehrung von Wunschträumen, der Ort der dumpfesten Vertextung psychologischer Grobraster zu sein.

Harsch zulangen kann der Commissaire bei der Großbourgeoisie, besonders da, wo ökonomische, politische und juristische Protektion strafverfolgerische no-go-areas abzugrenzen versuchen. Man kann das als das Bedienen kleinbürgerlicher Ressentiments einer angestrebten Leserklientel zu interpretieren versuchen: "Die-da-unten" sehen halt gerne, daß "die-da-oben" auch mal eins draufkriegen. Aber das trifft die Sache nicht, weil - auch das wissen wir über wirkliche Trivialliteratur - eine solchermaßen gedachte Klientel die oberen Schichten lieber in Glanz & Glitter vorgeführt bekommt als in all ihrer Erbärmlichkeit. Und in genau der zeigt Simenon sie. Genausowenig trifft das reziproke Argument, daß Simenon sozusagen sozialkritisch die "Gesellschaft als durch und durch verfault" ansieht - ein Argument, das ausgerechnet der schon zitierte Ernest Mandel so scharf formulieren mochte. Betrachtet man jedoch die ca. 80 Maigret-Romane Stück für Stück, so wird bald deutlich, daß solche sozialgeschichtlichen Kategorien an der schieren Menge der behandelten Gesellschaftsausschnitte zerschellen. Ob hohe Politik (nach '45 auch die Kollaborations-Thematik) oder "allgemein-menschliche" Hinterhof-Dramen, ob "organisiertes Verbrechen" oder Wirtschaftskriminalität, Maigret hat mit allem zu tun. Nichts davon wird als Skandalon behandelt, nichts davon als bloß zynisch konstatierte Normalität: Verbrechen, so könnte man sagen, findet in demokratischer Breite statt. Und ist auch nirgends bei Simenon gegen ein besseres "früher" oder ein schöneres "morgen" abzusetzen. Eine geschichtsphilosophische Dimension, die eine Gesellschaft als "verfault" zu beschreiben erlaubt, fehlt völlig. Ein Konzept, das zu fixen sozialgeschichtlichen Aussagen führt, ist nur auf Kosten unzulässiger Reduktionismen zu skizzieren.

Unzulässige Reduktionismen muß auch verantworten, wer man nach einer spezifischen "Maigret"-Formel sucht. Die beiden Grundkriterien Verbrechen & Aufklärung sind zwar in der Tat in allen Büchern vorhanden. Aber die jeweiligen Dominanzen im jeweils konkreten Fall sind sehr unterschiedlich. Wer der Mörder war, ist in vielen Fällen unerheblich. Der Leser weiß es, Maigret weiß es zu einem sehr frühen Punkt der Handlung. Und auch die Suche nach dem Motiv ist nicht so oft Thema eines Romans, wie man glauben möchte. Mit dem beliebten Slogan, daß eine grundsätzliche zweite Möglichkeit von "Kriminalliteratur" das Basteln an Psychopathologien von Tätern sein kann, kommt man nicht unbedingt weiter.

Es gibt eine ganze Reihe von Maigret-Romanen, deren Fabel etwas ganz anderes im Sinn hat, als der Begriff "Krimi" abzudecken vermag. Die Sozio- und Psychologie einer Haus-Gemeinschaft, das Herauspräparieren sozialer Rituale in den diversesten gesellschaftlichen Bereichen, die merkwürdigen Manifestationen sexueller Obsessionen - all das wird in Maigret-Romanen derart intentional exaltiert, daß eine Qualifikation als "Krimi" sich nur noch an der Figur Maigret & dem Anfall einer (oder mehrerer) Leiche(n) festmachen ließe. Was dann allerdings von der gleichen deskriptiven Relevanz ist, wie die Feststellung, im Werk von Mario Vargas Llosa gebe es Geschlechterkonflikte.

Die spätestens hier sehr wohl berechtigte Frage, warum in aller Welt Simenon dann seine nunmehr in dreifache Anführungszeichen gesetzte "Krimi"Figur Commissaire Maigret überhaupt benutzt, wenn es ihm um ganz andere Dinge geht als um die Lösung von Kriminalfällen, die nunmal der Beruf des Polizisten sind, möchte ich auf zwei Ebenen beantworten:

1) Alles, was ich bis hierher über die Maigret-Romane gesagt habe, gilt cum grano salis auch für die Non-Maigrets, die romans durs - abzüglich der beiden Komponenten "Maigret" & "Aufklärung". Eine Fabel, die an irgendeinem Punkt kriminell wird (sei's mit Leiche, sei's mit anderen körperlichen und seelischen atrocities, sei's mit anderen Deliktgruppen), haben sie (fast) alle. Sie spielen zwar gerne auf See, in überseeischen Ländern, an schicken und weniger schicken Ferienplätzen, im Krieg (dem konkreten Ersten Weltkrieg, zum Beispiel), in fiktiven Staaten (die das konkrete Frankreich der Jahre '41 bis '44 sind), auf Booten, Schiffen und Hotels, aber ihre unterschiedlichen Dominanzverhältnisse bzgl. des Elements "Verbrechen" unterscheiden sich in nichts von den Maigrets. Wer der Mörder ist, wird, um ein prominentes Beispiel anzuführen ("Die Verlobung des M. Hire"), sekundär im Vergleich zum Porträt eines einsamen Soziopathen, wenngleich die "Enquête" das Erzählskelett des Romans liefert.

Bezeichnenderweise hat man sich an einer Typologie der romans durs gar nicht erst groß versucht. Obwohl dieselben Elemente zur Verfügung stehen, mit denen man die Maigret-Romane typologisiert und der Reihe der "Kriminalliteratur" eingeordnet hat. Statt dessen hat man sie zum Material-Thesaurus für Simenons mehr oder wenig verklausulierte Autobiographismen gemacht & auf Grund der fehlenden, alleroberflächlichsten "Krimi"-Signale aus der Reihe "Krimi" heraussortiert.

Hier spätestens rächt sich die Konstruktion einer "Sonder"-Evolution "Kriminalliteratur". Denn offensichtlich hält Simenon "Verbrechen" für einen solch zentralen Teil der conditio humana, daß "Krimi" oder "Nicht-Krimi" für die Bearbeitung dieser conditio humana keine Rolle spielt: Die Textsorte "Krimi" hindert nicht daran, darin etwas weniger Kriminelles abzuhandeln, wie die Textsorte "Nicht-Krimi" nicht daran hindert, darin Hochkriminelles abzuhandeln. Die Reihe "Krimi" läßt sich nicht über ein paar Handlungselemente definieren, selbst nach ihren eigenen Maßstäben nicht. Mit allem, was über ein schlichtes Mordrätsel hinausgeht, ist sie kategorial überfordert. Daß bis heute Texte nach diesem Muster produziert werden, hat schlicht mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu tun.

Einer der konsequentesten Sprengmeister dieser evolutionären Fehlkonstruktion ist Georges Simenon. Auf dem europäischen Festland ein Solitär, aber ungemein folgenreich. Auch für alle Probleme, die sich fürderhin für "Kriminalliteratur", die nicht "Krimi" ist, ergeben werden.

Denn wir sind ja immer noch nicht wesentlich über die Frage hinausgekommen, wie man denn eine erzählende Literatur nennen soll, die sich einerseits dem "mainstream" (wozu ich auch die jeweiligen "Avantgarden" zähle) willentlich oder gezwungermaßen (weil als Krimi, Thriller etc. pejorativ qualifiziert) entzieht, andererseits aber im vollen Bewußtsein des ästhetiktheoretischen Status quo (Moderne, Postmoderne, Krise des Erzählens usw.) darauf beharrt, Sujets aus der Realität mit ästhetischen Mitteln zu erzählen. Und dabei die Tatsache nicht aus den Augen verliert, daß ein Konstituens von "Realität" wesentlich "Kriminalität" heißt? Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß es diese Literatur gibt. Mit großem Erfolg und weltweit.

2) Ich habe die Frage nicht vergessen, warum Simenon "Krimi"-Elemente benutzt, wenn er doch am kriminalistischen Rätsel gar nicht so arg interessiert ist. Hier mischt sich eine Kategorie ein, die im idealistischen Diskurs so ziemlich die prekärste zu sein scheint, die aber dennoch ästhetische Programme zentral beeinflussen kann. Maigret war eine Figur, die "funktionierte", die "ging", durchaus auch im buchmarkttechnischen Sinn. Vornehm formuliert: Die Rezeptions- oder Leserlenkung mittels einer beim Lesepublikum eingeführten und beliebten Figur macht eine beinahe unbegrenzte Anzahl von Themen-Feldern darstellbar. Maigret ist der Köder, der Haken für den Leser, an dem ein geschickter Autor sein Publikum führen kann, wohin er will. Die vorbegriffliche Unterstellung "Krimis" seien populärer Lesestoff, hat hier ihr produktives Moment. Dieses Moment kann aber gleichzeitig und paradoxerweise ein ästhetisches Programm tragen, das sich mit dem Begriff "Krimi" nicht mehr beschreiben läßt. Das ästhetische Programm funktioniert sogar, noch paradoxer, ohne die Signale, auf die man sich zur Definition von "Krimi" geeinigt hat. So waren auch die romans durs extrem erfolgreich. Das hat, vermute ich, mit dem zentralen Thema zu tun: Die Ubiquität von "Kriminalität" in allen Textmilieus hat die Textsorten durchdrungen, Kategorien stumpf gemacht.

Deswegen steht Georges Simenon an einem wichtigen Punkt der euopäischen Ästhetik. Er war zu einem frühen Zeitpunkt der (gar noch kommerziell erfolgreiche) Beleg dafür, daß Literatur sich außerhalb ästhetiktheoretischer, außerhalb institutionalisierter, außerhalb normativer Kategorien behauptet. Und dennoch selbst ästhetische Folgen haben kann.

Das, was man heute aus lauter Verlegenheit zwar nicht mehr "Krimi" nennen mag und statt dessen mit Hilfskonstruktion wie Kriminalliteratur oder Thriller eher umkreist (wobei man sich darauf verlassen kann, einen vor-begrifflichen Konsens darüber zu finden), ist ein ernsthafter Konkurrent der sogenannten Mainstream-Literatur geworden, für deren sekundäre Bearbeitung in der Tat genügend systematische oder historische Kategorien bereitstehen.

Auf die Bedeutung von Simenons Gesamtwerk für diesen Prozeß paßt beinahe unheimlich genau ein Satz des oben schon erwähnten Alejo Carpentier: "Alle großen Romane unserer Zeit haben den Leser veranlaßt, als erstes auszurufen: 'Das ist doch kein Roman!'".

Vielen Dank !

 

© Thomas Wörtche, 1997
(Vortrag, anläßlich des Symposiums "Poetik und Ästhetik-Diskussion im europäischen Kontext" an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, gehalten am 12.11.1997)

 

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