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Kriminelles Schrumpfpanorama

Thomas Wörtche über Tony Parker und sein Buch »Leben um Leben«

 

Leben um Leben Welchen Sinn hat es, wenn der englische Journalist Tony Parker zwölf Gespräche mit englischen Frauen und Männern, allesamt verurteilte Mörderinnen und Mörder, zu einem Interview-Band versammelt, ohne in einem Vor- oder Nachwort, in einem Kommentar oder wenigstens durch erkennbare, klare Fragen zu artikulieren, wo das Erkenntnisinteresse des Projektes liegen könnte? Welchen Sinn hat es weiter, wenn ein deutscher Verlag ein solches Buch übersetzen läßt und als Einzelstück, d.h. außerhalb einer Reihe oder eines sichtbaren Konzeptes veröffentlicht zu einem Zeitpunkt, an dem Gewalt und Verbrechen nicht nur in der deutschen Innenpolitik eine zentrale Rolle spielen?

"Leben um Leben", so der Titel der Interview-Sammlung, trans- und kolportiert unausgesprochen, aber durchaus intentional, Thesen und Grundeinstellungen zum Komplex "Verbrechen und Gewalt". Alle Interviewten sind mehr oder minder 'zufällig' zu Mördern geworden, alle sind Einzeltäter, keiner gehört einer 'verbrecherischen Organisation' an, kaum einer hat eine 'typische' verbrecherische Karriere. Ihre Morde sind im Suff passiert, Ausdruck dumpfer Aggression oder schlicht rational nicht erklärbar. Alle Täter und Täterinnen stammen aus 'klassischen' sozialen Milieus - Unterprivilegierte, Arme, Mühsame und Beladene mit den 'klassischen' Familienbackgrounds. Alle scheinen resozialisierbar. Mit anderen Worten: Parkers Gesprächspartner haben rührende Geschichten von Schuld und Reue zu erzählen, alle sind irgendwie sympathisch, alle nicht wirklich "böse". Mit noch anderen Worten: "Leben um Leben" ist ein Stück gutgemeinter Sozialkitsch.

Gutgemeint und mit einem Sympathiebonus auszuzeichnen wäre das Buch einzig deshalb, weil es gegen den medialen Zeitgeist anzuschreiben scheint. Es ist bekanntlich gerade très chique, den Sozialcharakter "Mörder" lediglich als durchgeknallten Massenmörder zu inszenieren. Nicht erst seit Jeffrey Dahmer beschäftigt sich die semifiktionale Gattung des True Crime mit den diversen würgenden, hackenden und schändenden Monstern von der Ukraine bis Florida, und der Boom der Psychopathen-Fiction tut als flankierende Maßnahme sein übriges: Sie alle verharmlosen "den Mörder" als besonders ekliges Individuum, dämonisch groß in seiner Widerlichkeit, wundersam exotisch in seiner Unergründlichkeit, gewaltig noch in der Monstrosität seiner Verbrechen, wahrlich schauder-, gar heldenhaft. Das Böse ist ins Metaphysisch-Transzendente aufgelöst und damit psychohygienisch entsorgt.

Dagegen setzt Tony Parker das schäbige Häufchen Elend, den Täter, der immer Opfer der Verhältnisse ist, dessen unglückliches Schicksal immer schnurgerade auf die Katastrophe zuläuft. Was Parker dabei entgeht (oder was er, aus welchen ideologischen Gründen auch immer nicht sehen will): Er exculpiert die Täter wieder und wieder, die Opfer sind höchstens beiläufig interessant. Das mag für England gerade noch angehen, im Lande der pensionsberechtigten Täter, die die Opferrolle gleich noch mitbesetzt halten, hätte ein solches Vorgehen zumindest skeptische Aufmerksamkeit erregen müssen. Der Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig, jedoch zeigt sich derart hartgesotten unsensibel, daß man keinen Zufall vermuten mag: "Ihr Problem", so wabert der Klappentext über die Täter, "ist das Rätsel des Lebens, das den einen zum Mörder, den anderen zum Opfer macht." Der Appendix, nämlich "daß Schuld nie gesühnt werden kann", ist dann nur noch wehleidiges Zugeständnis an die Grausamkeit des Schicksals. Und dessen grimmem Obwalten konnte man sich hierzulande bekanntlich nicht mittels schlichten Anstands oder konkreter Verantwortlichkeit entziehen. Wer in Deutschland in den Zeiten der ermordeten, verletzten, gejagten und verhöhnten "Fremden", in Zeiten der ungeklärten Verhältnisse von Opfern und Tätern der DDR-Dikatatur (mit allen Implikationen der nicht aufgearbeiteten Geschichte beider Deutschlands) immer wieder auf die "Zufälligkeit", auf die Opferrolle der Täter abhebt und sich seine beschwichtigenden Argumente holt, wo er sie kriegen kann, wem alles dies nicht zur Reflexion dient, erfüllt analog genau das, zu was True Crime und Psychopathen-Schocker (allerdings manchmal auf höherem Niveau) aufrufen: Verharmlosung, Ablenkung, Eskapismus, evasive Literaturproduktion. Also das allmähliche Verfertigen stahlharter Selbstgerechtigkeit.

Aber man muß die moralische Meßlatte gar nicht so hoch hängen. Parkers Buch, ob ausschließlich für England gemeint oder auch für Deutschland generalisierbar, betreibt Gegenaufklärung aus der Perspektive des Biedermannes. Es tut nämlich ständig so, als ob der "Verbrecher" ein außerhalb der Gesellschaft stehendes Individuum sei, eine Art moralischer Freak (wenn auch reuig). Danach hat Parker seine "Fälle" ausgesucht, nach diesem Prinzip ist das Buch strukturiert. Mörder(in) ist einer oder eine, der/die jemand anderen im Suff, im Jähzorn, aus Haß oder Eifersucht erschlägt, ersticht, erschießt. Diese Repetition anthropologischer Trivialitäten wäre nicht der Erwähnung wert, wenn solche Bücher nicht immer wieder, statt sich an einer "kriminellen Physiognomik" (Gustav Radbruch) der Zeit wenigstens zu versuchen, lediglich einen kleinen, wohlbekannten Ausschnitt als Ganzes ausgeben würden: Wesentliche andere Qualitäten und aktuelle Erscheinungsformen von Verbrechen werden unsichtbar gemacht. Kein Mitglied des Organisierten Verbrechens, kein White-Collar-Krimineller (beim Export von Mordgerät gehört England zu den führenden Nationen) bevölkert Parkers kriminelles Schrumpfpanorama; kein Gedanke an die gesellschaftsformende Kraft der "Mafia als Verhalten" (Werner Raith), kein Reflex auf die Möglichkeit, daß Staatsapparate wie auch 'revolutionäre' Bewegungen (IRA, ETA et al.) ohne innere Widersprüche als verbrecherische Gesamtorganismen funktionieren können, kein Bewußtsein für das kriminologische Wissen, daß Verbrechen (beispielsweise als Sexismus und Rassismus - der einzige Fall von Gewalt in der Familie schildert peinlicherweise einen "überforderten" Mann, dem die Umstände hart zusetzen) gerade außerhalb der klassischen Verbrechensmilieus virulent sind: Das alles macht Parkers Buch im besten Fall unerheblich und überflüssig, im schlimmsten Fall zum ideologischen Skandalon.

Das einzig Lustige an dem Buch ist die Übersetzung von Stefan Welz: Bei ihm können die Engländer glatt das "Abitur" in "Literatur" oder "Soziologie" machen, und Männer nennen sich gegenseitig immer "Du Fotze" (vermutlich, weil im Original "cunt" steht) und sonst dergleichen Scherz und Frohsinn.

© Thomas Wörtche, 1993
(Freitag)

 

Tony Parker: Leben um Leben. 12 Gespräche mit Mördern. (Life after Life, 1990). Deutsch von Stefan Welz. Götting: Steidl, 1998, 250 S., 8.90 Euro (D)
(Die Besprechung bezieht sich auf die Ausgabe Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1993)

 

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