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Der Tod des Tango-Königs oder Jerome Charyn und die Halluzination

Von Thomas Wörtche

 

Der Tod des Tango-Königs

I
Wer dem »Realismus« als literarischem Mittel nicht mehr traut, aber trotzdem Romane aus und über »die Realität« schreiben will, dem hilft vermutlich nur noch die Halluzination als Methode.
Kreative Halluzination, so lautet Jerome Charyns Credo, ist überhaupt die einzige Möglichkeit, literarisch mit der Realität fertig zu werden. Dass zum Beispiel in seinen Romanen um Isaac Sidel ein Polizist Karriere bis zum Amt des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten macht, nicht trotz, sondern weil er ein veritabler Mörder und Mafioso ist, das hört sich nach einem wüstem Albtraum an. Ist aber, so wie Charyn es über die Zeitspanne von nunmehr elf Romanen erzählt, eine völlig plausible Entwicklung. Ebenso wie die damit mittransportierte Erkenntnis, dass man durchaus Mörder und Mafioso und gleichzeitig ein guter Mensch sein kann. Oder umgekehrt. Denn Sidel tut auf seinem Weg nach oben durchaus Gutes in einer Gesellschaft, die sich völlig bizarr aufführt und in ihren Kernen schon längst dem Irrsinn verfallen ist.

 

II
Kreative Halluzination ist erst recht dann ein probates Mittel, wenn die realen Zustände rational kaum noch oder gar nicht mehr begreifbar sind. Kolumbien ist ein Beispiel. Ein Land mit einer erschreckend hohen Mordrate, voller Gewalt als Form zwischenmenschlichen Umgangs, Austragungsort einst ideologischer Kämpfe zwischen Establishment und Revolutionären, die seit Jahrzehnten in Kriege um Profite mutiert sind. Ein Land, das von den USA zum heuchlerischen Schauplatz des »war against drugs« gemacht wird, wobei die entscheidenden Kreise in Washington genau wissen, dass die Koka-Industrie auch für die US-Ökonomie unabdingbar ist. Ein Land also, in Dutzende von Interessengruppen zerfallen, die sich allesamt in bunt wechselnden Koalitionen bekriegen.

Ein Roman von Jerome Charyn, der in solchen wahnsinnigen Realitäten spielt und Charyns Poetologie folgt, kann also kaum anders aussehen als Der Tod des Tango-Königs. Denn wenn man die Wirklichkeit nicht abbilden kann, dann muss man sie erfinden. Oder parodieren. Bei Charyn ist die Praxis des Geldwaschens zum Geldbügeln fortgeschritten, die USA hält sich Geheimdienste, die so geheim sind, dass sie schon beinahe selbst nicht mehr wissen, dass es sie gibt; der Präsident, der im Würgegriff seiner (Wahlkampf-)Geldgeber und Lobbyisten bewegungsunfähig ist, muss seine eigene Arkanpolitik betreiben, und der größte Koka-Baron wird zum militanten Naturschützer.

 

III
Aber die einfache Verdrehung offensichtlicher Widersprüche reicht Charyn noch lange nicht. Die Wirklichkeit besteht nicht nur aus dem, »was ist«, sondern ist genauso bestimmt von dem »was war«. Geschichte wiederum ist nicht nur ein einfaches Speichersystem von Fakten, sondern deren vielfältige Interpretation. Der mächtigste Interpret aber ist die Kultur. So kommt Charyns Guillermo Gaudí, der Tango-König, ins Spiel. Dessen historisches Vorbild, Carlos Gardel, das südamerikanische Gesamtkunstwerk der 30er Jahre mit Strahlkraft bis nach Hollywood, stürzte mit dem Flugzeug in Medellín ab - so wie Charyns Gaudí auch. Nur wurde der ermordet, weil er maßgeblichen Kreisen zu groß und mächtig wurde. Als Person. Nicht als Kulturikone, denn auf die können selbst die finstersten Machthaber nicht verzichten. Und so tanzt man in Charyns Kolumbien auch heute noch den Tango, als ritualisierte (und damit pazifizierte) Form des Kampfes jedes gegen jeden. Und wieder verdreht: Die Feinde des umweltschützenden Koka-Barons Ruben Falcone entweihen die heilige Tangohalle durch ein Bombenattentat, worauf Falcone am Ende das Ritual des Tangos entweiht und als echter Sieger im Kampf auf Leben und Tod die Tanzfläche verlässt.

Oder: Charyns kolumbianisches Staatsoberhaupt, der Romancier Bailen, ist natürlich eine wenig schmeichelhafte Zerrspiegelung des Echt-Nobelpreisgewinners García Márquez, der hier, eben als Bailen, wie sein nicht Nobelpreis tragender Rivale aus Peru, Vargas Llosa, den Weg in die Politik gewagt hat. Bailen ist gescheitert (weswegen er bei Charyn auch nach dem Ort benannt ist, an dem mit der ersten Kapitulation eines napoleonischen Heeres der Abstieg des Tyrannen mit der aufklärerischer Attitüde begann) und kann nur in der Koalition mit dem Narcotraficante Falcone überleben und seinem Land so nutzen, wie es der echte García Márquez in seinen Schriften immer verspricht. Auch hier zwirbeln sich Wirklichkeit und Visionen aufs realistischste.

 

IV
Eine solche Geschichte braucht eine Perspektive, die möglichst exzentrisch sein muss, um überzeugen zu können. Das Staccato-Feuerwerk von Charyns knappen Sätzen garantiert dies durch einen rasenden Wechsel der Einstellungen. Charyn, der Szenarist von Comics (zusammen mit Bildkünstlern vom Kaliber Jacques de Loustals und Francois Boucqs), arbeitet hier mit dem kalkulierten Wechsel des Erzählausschnitts. Yolanda, die Bankräuberbraut und lang vergessene Cousine von Falcone, die von dem obskuren Geheimdienst aus dem Gefängnis geholt und auf den Coca-Baron angesetzt wird, personifiziert diese Schnitttechnik: In rasendem Tempo jagen sich kleinste private Details und große Politik, Sentiment und Brutalität, Distanz und Nähe.

Es sind der Drive, das Tempo, die tausend blitzschnellen kleinen Wendungen und Nebenstränge, die running gags und die rhetorischen Figuren, die aus diesem komplex konzipierten Buch einen Page-Turner machen. Page-Turner-Qualitäten spricht man gerne Romanen der eher schlichteren Machart zu, aber Charyn beweist, dass Unterhaltung und Substanz keine sich ausschließenden Kategorien sein müssen. Weil Fantasie, Witz und Geist, Sprach- und Einbildungskraft keineswegs Halluzinationen sind.

 

Jerome Charyn: Der Tod des Tango-Königs. (Death of a Tango King, 1998). Roman. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger. Deutsche Erstausgabe. Zürich: Unionsverlag, 2000, UT-metro Bd. 180, 253 S., 18.90 DM, später 9.90 Euro (D).

 

© Thomas Wörtche, 2000

 

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