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Saboteure am Wertesystem

Country Noir zeichnet sich aus durch thematische und formelle Vielfalt. Wieviel unterschiedlichen Facetten das Subgenre bietet, zeigt ein Überblick über aktuelle Neuerscheinungen.

Von Thomas Wörtche

 

Der scharlachrote Buchstabe

Vermutlich hat alles mit Nathanael Hawthorne angefangen - mit beklemmenden Stories aus der amerikanischen Provinz, mit Geschichten von Wahn, Bigotterie, Gewalt, intellektueller und moralischer Enge, mit Hysterie und religiösem Fundamentalismus - »The Scarlett Letter«, Der scharlachrote Buchstabe, Sie wissen schon. Und seit dem sind die amerikanische Country Side und small town America unerschöpfliche Minen und Quellen für Romane und Geschichten, die man am besten als "noir" bezeichnet. Düstere Gegenbildlichkeiten zu Idyllen, zu den berühmten "amerikanischen Werten" wie Optimismus, Gleichheit oder Freiheit für alle. Im "Country Noir" treffen wir sie alle, die Saboteure an den jeweiligen Wertesystemen - Ambrose Bierce, William Faulkner, Ray Bradbury und wie sie alle heißen.

Psycho

Jim Thompsons »The Killer inside me« - sicher einer der berühmtesten Roman dieser Sortierung - gab in den frühen 1950er Jahren die Marschrichtung vor - Gewalt, Religion und Obsession ohne den ästhetischen Trost einer bestimmten literarischen Form. Robert Blochs Psycho, die in Cineastenkreisen eher belächelte Vorlage zu Alfred Hitchcocks Film und gerade bei Rowohlt wieder als Taschenbuch erschienen, etabliert den irren soziopathischen Killer als den netten Nachbarn in der Provinz, über den selbst der Kleinstadtsheriff alles zu wissen glaubt und dessen ominöses Treiben die gesellschaftlichen Normen nicht herausfordert, sondern eher bekräftigt. Norman Bates, der im Roman nicht aussieht wie Anthony Perkins, sondern eher ein mildes Dickerchen zu sein scheint, gilt als jemand, der sich von einem harten Schicksal nicht beirren lässt, sondern seinen Weg geht. Es ist natürlich ungerecht, heute über den Roman zu reden, weil alle Welt den Film kennt und alle Schockmomente auch. Aber die sind sowieso im Buch eher lakonisch und wohltuend unspektakulär. Als literaturhistorisches Dokument auf jeden Fall ist es gut, dass »Psycho« greifbar ist.

In Almas Augen

Ein literarisch anderes Kaliber als der eher schlichte Bloch ist Daniel Woodrell, bestens bekannt durch seine Bürgerkriegsromane (u.a. »Wer mit dem Teufel reitet«) und seine Erforschungen des Biotops "amerikanische Kleinstadt" abseits der große und schicken Themen der urbanen oder gar metropolen Literatur. In Almas Augen (gerade bei Liebeskind erschienen und von Peter Torberg gewohnt gut übersetzt) erzählt Woodrell von einem verheerenden Brand in einen kleinen Kaff in Missourie. Im Sommer 1929, kurz vor dem Ausbruch der Great Depression fliegt die örtliche Dance Hall in die Luft und brennt total ab. 42 Menschen kommen uns Leben, alle Einwohner des Städtchens sind ihr Leben lang traumatisiert. Niemand weiß wirklich, wie der Brand entstanden war und warum. Nur Alma DeGeer Donahew, eine "einfache", aber sehr kluge und eigenwillige Frau, deren geliebte Schwester unter den Opfer war, gräbt und gräbt und kann ihren Frieden mit den Ereignissen nicht machen, auch wenn sie zwischenzeitlich in eine Art Nervenheilanstalt, vulgo Irrenhaus eingesperrt wird. Obwohl wir am Ende des schmalen, knapp 190 Seiten dünnen Büchleins eine gewisse Vorstellung haben, was an jenem Tag passiert sein könnte, ist »In Almas Augen« kein "Krimi", kein Ermittler-Buch, obwohl es in der Tat um Ermittlungen geht. Woodrell splittet die Perspektiven, die Erzählinstanzen, die Zeitebenen von 1929 bis 1965 (plus/minus, je nach den Vorgeschichten der Figuren, von denen die Rede ist) auf. »In Almas Augen« arbeitet nicht immer "linear" und nicht immer "chronologisch" und nicht immer buchhalterisch der einen oder anderen Figur zugeordnet. Und schon gar nicht ist Alma selbst die Garantin des Erzählens. Auch hier keine Absicherung und Sinnstiftung durch ein bestimmtes Genre, der Country Noir erweist sich auch hier als freestyle-Unternehmen.

Die Wüste der Toten

Selbst da, wo andere Genres in die Nähe rücken, kommen keine genre-reinlichen Bücher heraus - Urban Waites Die Wüste der Toten (Knaur) ist so ein Fall: Eine klassische Westernkonstellation (dass der Western grundsätzlich auch einen tinge of noir hat, denken Sie an die Filme von Anthony Mann, zum Beispiel, müssen wir nicht großartig unterstreichen) - ein gescheiterter Verbrecher und ein gescheiterter Cop müssen nolens volens gegeneinander kämpfen, obwohl sie sich doch eigentlich blendend verstehen - wird überlagert von der Politik: Von den Verheerungen einer neokonservativen Wirtschaftspolitik im New Mexico und den sozialpsychologischen Folgen, wenn dann Geld ins Land strömt, natürlich von den Narcos aus Mexiko, denen die USA ihre strukturschwachen Gebiete kampflos überlässt. Die Country Noir-Aspekte Gewalt und Obsession sind hier an handfeste ökonomische Realien zurückgekoppelt und die beiden Cowboys, also der Ex-Gangster und der Ex-Cop führen einen Krieg gegeneinander, den sie schon längt verloren haben.

Die Tote von San Miguel

Überhaupt Mexiko: Dieses merkwürdige Projektionsland amerikanischer Illusionen und Ängste. Country Noirs sind öfter in den Grenzlanden angesiedelt, oder wie im Fall von Jonathan Woods' Die Tote von San Miguel ganz in der mexikanischen Provinz. San Miguel bietet für amerikanische Künstler und Intellektuelle - seit William H. Borroughs et al. Tijuana-Manie ein literarisch-geistesgeschichtlicher Topos - günstige Lebenshaltungskosten und eine vermeintliche Toleranz gegenüber bohème-haften Lebensstils. Woods lässt seinen Roman auf den ersten Blick aussehen wie einen durchschnittlichen Serialkiller-Roman, mit möglicherweise aztekischen Schlachte-Riten, die eigentlich einen amerikanischen Profiler verlangen würden, lockt den ebenfalls topischen mexikanischen Polizisten - korrupt, faul und versoffen - aus der Reserve. In der brütenden Hitze Mexikos, unter geheimnisvollen Killern und lasziven Frauen geht es knallhart zu und Business und Gesetz und Ordnung sind im Country Noir sowieso meistens Willkürakte. So auch hier, mit einem schönen diabolischen Dreh.

Machos und Macheten

Woods konterkariert die Mexiko-Klischee, so wie sein Kollege Joe R. Lansdale in seinem Roman Machos und Macheten (im Original 2001, auf deutsch jetzt bei Golkonda) sie bedient. Mexikanische Frauen sind feurige Liebhaberinnen (wenn auch Schlampen), alle Kerle muchomacho mit fiesen Macheten, der Drogenboss unfassbar böse, der Killer unfassbar brutal und gemein, das Vieh. Die witzigen (oder oftmals witzelnden) Dialoge der Hauptfiguren - die Story um eine versaute Kreuzfahrt, die in Blut und Elend endet, ist nicht so rasend spannend - lassen einen ein bisschen ratlos zurück. Noir wäre bei diesem Roman lediglich auf das erhöhte Gewaltlevel zu beziehen. Lansdale ist unter anderem ein begnadeter Horror-Autor, aber in diesem Buch bleiben die Schock-Momente aus. Also Schock in Sinne von Effekt als auch choque im Sinn von Walter Benjamin. Wobei sich der Roman aber durchaus behaglich wegknabbern lässt.

Die Erbin

Unter Country Noir fallen in dieser Saison noch zwei Romane, die man dort nicht unbedingt vermuten würde. Wobei man sieht, in wie vielen unterschiedlichen Kontextualisierungen eine solche Spielart der Kriminalliteratur auftreten kann. John Grishams Die Erbin (Heyne) läuft natürlich unter "Weltbestseller", obwohl der Roman, der 1988 in Deep South spielt, wie so viele Bücher des "Volksschriftstellers" Grisham - den Begriff meine ich an dieser Stelle keineswegs ironisch. Er erzählt eine rabenschwarze, böse Geschichte über Schuld und Sühne, über Gewalt und Geschichte und den permanenten Rassismus. Aber eine kleine, bescheidene Geschichte von einem Testament, einem Selbstmord und anderen nicht sehr sensationellen Dingen und nicht sehr sensationellen Menschen. Grisham lässt sich Zeit und seziert peu à peu eine kleine Stadt, mit ihren Leichen im Keller, mit den seltsamsten Beziehungsgeflechten, mit ihren bösen, kalten Verhältnissen. Grishams Spezialität ist natürlich der Gerichts-Thriller, aber dominant ist in diesem Buch das Unbehagen, das Ungute, der Neid und die Missgunst, die sich wie eine Giftinjektion durch alle Beteiligten schlängelt.

Wespennest

Ein richtiger klassischer Country Noir ist Wespennest (Blanvalet) von Lee Child, wobei man bei Lee Child nie weiß, wo ein Buch enden wird - in der Prairie oder in einer Metropole. Hier auf jeden Fall haben wir wieder eine topische Westernkonstellation, in der Jack Reacher, Childs Serien-Held, eine Kleinstadt von ihren Tyrannen befreit, die die "anständigen" Leute knechten und in ökonomischer Abhängigkeit halten, wobei sie selbst deviante, miese Ekelpakete sind, wie man sich Kleinstadt-Tyrannen eben vorstellt. Aber mit der Isolation einer Kleinstadt irgendwo im bitterkalten Nebraska ist es nicht mehr weit her. Nebraska hängt an der Pipeline des internationalen Verbrechens und Lee Child macht sich einen eher schwarzhumorigen Jux daraus, das Organisierte Verbrechen aufs Land zu schicken, damit Jack Reacher seinen Spaß mit hierarchisch gestaffelten Gangster-Crews hat, die nicht nur Reacher, sondern sich untereinander das Lebenslicht auspusten wollen.

Wenn der Country Noir im Gefolge von Jim Thompson, Daniel Woodrell und Co. immer auch etwas Pathetisch-Existentialistisch-Depressives hat (oder man zumindest den Eindruck hat, dies gehöre sich so), demonstriert Child wie komisch das alles sein kann. Wie ja überhaupt die Überhöhungsgefahr bei Noir immer mitspielt. Anyway, Kriminalliteratur hat schon seit ewigen Zeiten einen starken regionalen Bezug - urban oder rural ist das erst einmal egal -, weil sie auf konkrete geographische, soziale, wirtschaftliche, ideologische und demographische Gegebenheiten literarisch reagiert. Die literarische Anamnese der country side (dazu kämen noch backwood-Romane, die stärker mit Horror- und Gore-Effekten arbeiten) ist keine amerikanische Spezialiät, sondern in allen Kriminalliteraturen von Belang vertreten. Im deutschsprachigen Raum gibt es ähnlich strukturierte Texte, von Alfred Komarek bis Robert Hültner, Christine Lehmann oder Uta-Maria Heim. Am besten kapiert man aber das ganze Elend der deutsche "Regio-Grimmis", wenn man sich die Country Noirs der Amerikaner anschaut - deren ganzes production design, die Sprach- und Einbildungskraft, die formale und thematische Vielfalt. Country Noir ist eine sehr flexible Art, die Welt zu schreiben.

 

© Thomas Wörtche, 2014
(freitag, 14.05.2014)

 

Lee Child: Wespennest. (Worth Dying For, 2010). Roman. Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner. München: Blanvalet 2014, 445 Seiten, 19.99 Euro (D).
Der 15. Jack-Reacher-Roman. Reacher ist der Mann, der bracchial für Anstand und Respekt sorgt, was keinesfalls mit Recht und Ordnung zu tun haben muss. Als Mensch ohne Wohnsitz und ohne Hab und Gut - nur seine zusammenklappbare Zahnbürste trägt er mit sich – streift er kreuz und quer durch die USA. Metropolis oder Countryside, Lee Child konstruiert die passenden Plots, die meistens auch sehr politisch sind, ohne dass das groß dransteht.

Jonathan Woods: Die Tote von San Miguel. (A Death in Mexiko, 2012). Roman. Aus dem Amerikanischen. Berlin: Aufbau Tb 2014. 317 Seiten, 9,99 Euro (D).
Woods ist berühmt geworden für seine extrem schrägen Kurzgeschichten, die ihm den Beinamen "der David Lynch der Short Story" eingebracht haben. Zur Zeit wird aus seiner Geschichte "Swingers Anonymous". "Die Tote von San Miguel" ist sein erster Roman. Er lebt in Florida.

Daniel Woodrell: In Almas Augen. (The Maid's Version, 2013). Roman. Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg. München: Liebeskind 2014, 186 Seiten, 16,90 Euro (D).
Nach eher western-artigen Romanen aus dem Bürgerkrieg wendet sich Daniel Woodrell zunehmend dem ländlichen Amerika des 20. Jahrhunderts zu. Gleichzeitig versucht er, seine Prosa so weit wie möglich vom Genre-Verdacht freizuhalten. Sozusagen der Postmoderne unter den Country Noir-Autoren.

 

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