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Geschäftsleute mit Knarren

Der brititsche Historiker John Dickie will in seinem neuen Buch »Omertà« gleich die "ganze Geschichte der Mafia" und ihrer Stämme - der Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta - beleuchten. Ein hoch ambitioniertes Projekt, das nur zum Teil gelungen ist.

Von Thomas Wörtche

 

Omertà

1927 diagnostizierte die New York Times "Anzeichen zunehmenden Größenwahns" beim Duce. In seiner berühmten Himmelfahrtsrede - "Alles innerhalb des Staates. Nichts gegen den Staat. Nichts außerhalb des Staates" - wetterte Mussolini vor allem gegen die Mafia: "'Wann ist der Kampf gegen die Mafia zu Ende?', wird man mich fragen. Er ist nicht etwa dann zu Ende, wenn es keine Mafiosi mehr gibt, sondern erst, wenn die Sizilianer sich nicht einmal mehr an die Mafia erinnern."

Mussolini verstand die Mafia schon richtig als Staat im Staat, und somit als Konkurrenz um die höchste Autorität im Land. Die Mafia allerdings gleich auch aus dem Gedächtnis Siziliens ausrotten zu wollen - das ist in der Tat größenwahnsinnig. Es gab einige "Feldzüge" des Faschisten gegen die Mafia in Sizilien und in geringerem Masse in Kampanien und Kalabrien. Es gab brutale Gemetzel, denen auch Frauen und Kinder zum Opfer fielen, Terror und Gegenterror, der sich aufschaukelt, wenn eine verbrecherische Organisation gegen eine andere Machtkämpfe austrägt. Am Ende stand die Einsicht, dass man durchaus Mafioso und Faschist gleichzeitig sein konnte. So, wie später Mafioso und Christdemokrat. 1932 wurde verkündet, dass der Faschismus die Mafia besiegt hatte. "Was auch immer die Mafia" war, wie John Dicke sarkastisch anmerkt.

Ein klein wenig größenwahnsinnig ist allerdings auch das Projekt des englischen Historikers John Dickie, nach seiner Geschichte der »Cosa Nostra« (2004/dt. 2006) jetzt mit »Omertà« gleich "Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra, 'Ndrangheta" auf 848 (!) Seiten aufblättern zu wollen. Dickie will dies aus der Sicht des Historikers tun, nicht soziologisch, nicht systemtheoretisch oder nach anderen möglichen narrativen Optionen. Also wühlt er sich tapfer durch die Frühgeschichten der drei wichtigsten italienischen Strukturen des organisierten Verbrechens: die sizilianische Mafia, die Camorra aus Neapel und Kampanien und die kalabresische 'Ndrangheta. Auch wenn deren Gründungsmythen unterschiedlich sind - Geheimbünde, anti-etatistische Bewegungen, Autonomiebestrebungen, Untergrundsysteme, blanke Kriminalität -, die Unzahl der Belege und der eingestreuten Anekdoten zeigen immer wieder dieselben Muster: Alle drei Organisationen, egal, wie stabil sie sein mögen, funktionieren, weil sie sich nach außen abschotten - das Gesetz des Schweigens, die titelgebende Omertà, etabliert einen Nimbus, der de facto jedoch oft durchbrochen wird. Und sie versuchen, die "offiziellen" Strukturen wie Justiz, Polizei, Politik und andere Machtkomplexe unter ihre Kontrolle zu bringen.

Dickies Tour de Force korreliert die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Italiens mit den Geschäftszweigen der drei "Mafias": von der Schutzgelderpressung über den Bauboom, die Drogen, die Entführungs- und Müllindustrie, Agrarsubventionen bis heute zu holding companies.

Dabei wird der historische Ansatz zunehmend problematisch. Dickie verwendet den Begriff "Mafia" uneindeutig: Meint er nun la mafia aus Sizilien oder meint er "Mafia" als "Verhalten", als generalisierbarer Terminus für verbrecherische Aktivitäten überall auf der Welt (Triaden, Yakuza, Kartelle etc.)? Meint er z.B., wenn er über ein Mitglied der 'Ndrangheta spricht, der gleichzeitig Mafioso ist, dass Personalunion in zwei "Stämmen" möglich sei, oder dass mafioses Verhalten auch auf kalabresische Gangster zutreffe?

Zweites Problem. Dickie kann kleinteilig gut beschreiben, wie die jeweilige Gruppierung sich "zum Staat" verhält, wo der Staat Erfolge gegen die Mafia erzielt hat, wo nicht. Er kann zeigen, wo es in der Bevölkerung wirksame Anti-Mafia-Bewegungen gibt (auf Sizilien) und wo weniger (in Kalabrien), wo Öffentlichkeit zumindest ein Problembewusstsein schafft (in Neapel, wo Roberto Saviano die Camorra zumindest herausgefordert hat), aber letztendlich bleibt Vieles im nur Lokalen, fast Folkloristischen stecken. Die jeweiligen Gründungsgeschichten, deren massenmediale und populärkulturelle Vermitteltheit Dickie lobenswerterweise mitdenkt, bleiben museal. Man versteht zwar, was da in Italien passiert ist, aber Dickie scheut sich vor Folgerungen. Bei der Lektüre besteht die Gefahr, die Rolle des hochkomplexen organisierten Verbrechens nur auf Italien und ein paar Kolonien (Duisburg, der Schauplatz eines 'Ndrangheta-Massakers 2007) beschränkt, eben als typisch "italienische Verhältnisse" zu verstehen.

Wie "Mafia" längst global funktioniert, wie weit die Verflechtung von legalen und illegalen Wirtschafts-Praktiken, Geldflüssen und politischer Verquickung gediehen ist, haben Dickies Kollegen Misha Glenny und Moses Naim vor Jahren wesentlich präziser beschrieben. Auch was die Rolle der italienischen Alt-Strukturen betriff, die bei den neuen "Dienstleistungen für alle Arten von Profitmaximierung" prächtig mitspielen und die bei Dickie nur gestreift werden. Die klassischen Aktivitäten, die er hingegen hauptsächlich beschreibt, sind begrenzt, die lokalen Ausprägungen und ihre Gewaltkulturen sind eben das, was sie sind: lokale Phänomene, die ihre Äquivalente in aller Welt haben.

Dickie mokiert sich hin und wieder darüber, dass man Mafiosi wie "Geschäftsleute mit Knarren" betrachtet - das sei unterkomplex. Es gibt, auch nach der Lektüre seines vor Material platzenden Buches, gute Gründe, solche Formeln als Kondensat für ziemlich zutreffend zu halten.

 

© Thomas Wörtche, 2013
(DIE ZEIT Nr. 46,
vom 07.11.2013)

 

John Dickie: Omertà. (Blood Brotherhoods, 2011). Die ganze Geschichte der Mafia - Camorra, Cosa Nostra, 'Ndrangetha. Aus dem Englischen von Irmengard Gabler. Deutsche Erstausgabe. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2013, gebunden mit Schutzumschlag, 848 S., 24.99 Euro (D), eBook 21.99 Euro (D).

 

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