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Japanische Dichtkunst und Französisches Kino

Der Roman »Der Dieb« des Japaners Fuminori Nakamura beginnt als Porträt eines verbrecherischen Kleinunternehmers und mutiert zunehmend zum Yakuza-Epos. Diese Wendung inszeniert Nakamura mit mannigfaltigen Querverweisen auf das Französische Kino.

Von Thomas Wörtche

 

Der Dieb

Nishimura ist ein virtuoser Taschendieb. Sein Revier sind die in Tokio notorisch überfüllten U-Bahnen und Züge, die schicken Einkaufspassagen und belebten Straßen. Mit Vorliebe bestiehlt er Leute, die nach Reichtum und Wohlstand aussehen. Nicht aus Prinzip, sondern weil bei denen am meisten Beute zu machen ist. Er kennt sich aus mit Markenklamotten und Accessoires. Er kann Menschen meisterhaft "lesen". Sein Blick auf die Welt ist profitorientiert. Er handelt zweckrational, sein Ziel ist Bargeld, Kreditkarten und andere Zahlungsmittel sind ihm zu umständlich. Er lebt unauffällig in einer Art Plattenbau, wie überhaupt Unauffälligkeit essentiell für sein Handwerk ist.

Am Anfang von Fuminori Nakamuras Roman »Der Dieb« - sein sechstes, aber als erstes ins Deutsche übersetztes Buch - sehen wir Nishimura mit seinen Augen bei der Arbeit. Wir bewundern seine Fingerfertigkeit, seine cleveren Ablenkungsmanöver, seine Einschätzung von Menschen. Das ist einmal ein kleines Exerzitium in eine bestimmte Art der Weltwahrnehmung, zum anderen fühlt man sich an Richard Sennetts Lob des Handwerks erinnert. Und das führt zu der Frage, wie ein individueller krimineller Handwerker in einer von organisierten kriminellen Strukturen arbeitsteilig fraktalisierten Welt überhaupt existieren und überleben kann.

Kann er natürlich nicht. Die Yakuza - die japanische Variante von Mafia - hat diese Gesellschaft schon längst durchdrungen und zersetzt. Ohne Yakuza geht gar nichts, schon gar nicht für verbrecherische Kleinunternehmer. Und so erscheint plötzlich der Zweckrationalismus des Diebes in einem anderen Licht. Seine Unauffälligkeit, seine Fixierung auf Bares - für alles andere bräuchte man Hehler, die ein Sicherheitsrisiko wären -, all das dient auch dazu, sich vor der Yakuza zu verstecken.

Vor Jahren hatte sich Nishimura, zusammen mit seinem Mentor und Lehrmeister, nolens volens anheuern lassen, als aus politischen Gründen ein für das Gangster-Syndikat unbequem gewordener Politiker angeblich erpresst und beraubt, tatsächlich aber ermordet wurde. Der Mentor wurde danach als lästiger Zeuge beseitigt, unser Dieb aber seltsamerweise laufen gelassen. Natürlich traut er dem Frieden nicht und fristet seitdem ein paranoides Dasein. Zu Recht, denn die Vergangenheit holt ihn in Gestalt des enigmatischen und charismatischen Top-Gangsters Kizaki wieder ein.

Aus einem Roman über die Kunst des Taschendiebstahls ist so ein ausgewachsener Gangster-Roman geworden, ein noir japonais. Diesen Schwenk inszeniert Nakamura mit explizit filmischen Mitteln. Bezog sich der Anfang in seiner ganzen emotionalen Kargheit deutlich auf Robert Bressons Klassiker »Pickpocket« von 1959, so übernimmt später deutlich die Ästhetik von Jean-Pierre Melville (»Le Samurai«) die Vorgabe von Stimmung und Atmosphäre: Das kalte, bläuliche Licht der U-Bahn-Stationen, der Einkaufsmalls und der Supermärkte, in denen sich der Dieb bewegt, der mal nieselnde, mal pladdernde Regen, der die Szenerie durchzieht, die unbehausten Wohnquartiere, die Einsamkeit des Diebs. Und als Nishimura sich ein bisschen mit einem kleinen Jungen anfreundet und ihn in die Geheimnisse des effektiven Ladendiebstahls einweiht, sind leise Echos von Luc Bessons »Léon - Der Profi« zu vernehmen.

An dieser Stelle könnte man spätesten darüber nachdenken, ob Nakamuras Roman ein brillant gemachtes, rückbezügliches Pastiche auf den französischen film noir ist, der ja seinerseits mit Japanoiserien spielt, auch Bessons Produktion »Wasabi« (Regie: Gérard Krawczyk) schickt Jean Reno nach Japan.

In diesem Kontext ergibt sich dann überraschend und zusätzlich eine ganz neue, ganz andere Dimension des Romans. Kizaki, der Ober-Gangster und Strippenzieher, wird plötzlich zum Mastermind, zum Puppetmaster (die Puppenspieler- bzw. Marionettenmetapher taucht im Roman öfters auf), zum omnipotenten Manipulator aus transzendenten Gründen. Einmal erzählt er Nishimura die Geschichte eines Adligen "vor langer Zeit, als die Sklaverei in Frankreich noch weit verbreitet war". Dieser "hohe Adlige", vom ennui geplagt, vom dem auch seine mannigfaltigen sexuellen Ausschweifungen ihn nicht kurieren können, kauft sich einen "dreizehnjährigen schönen Jüngling" und legt, wie in einem Drehbuch, dessen zukünftiges Leben Detail für Detail fest. Dann sorgt er dafür, dass alle diese Ereignisse eintreten - freudige Momente, Demütigungen, sogar einen Mord schreibt dieses Szenario dem jungen Mann, der inzwischen seinem Meister total ergeben ist, in die Biographie. Nachdem der Adlige dann, am Ende des grausamen Spiels, dem Jüngling das Drehbuch zu lesen gegeben hat, lässt er ihn, noch im Moment des Erkennens, ermorden, und soll dabei "gezittert haben - vor Freude, in größter Verzückung".

Diese Geschichte ist - evident - eine komprimierende Paraphrase vieler Episoden aus dem Gesamtwerk des Marquis de Sade. Die Selbstermächtigung des Bösen wider jede moralischen Regeln und Kategorien, die berühmte de Sade'sche Entgrenzung, die blasphemisch Gott spielt und darin sexuelle "Verzückung" findet. Und natürlich ist die Geschichte eine Exempel-Erzählung für unseren Dieb. Ohne das Ende vorwegnehmen zu wollen, Kizaki ist der Drehbuchautor für Nishimura. Sein Leben (und das anderer Menschen auch) ist determiniert, was er für Kontingenz oder das rationale Kalkül einer auf Profitmaximierung erpichten Gangster-Organisation hält, ist in Wahrheit die Widerkehr des alten Entgrenzers im Designer-Anzug. "Die Hölle ist überall", spricht Kizaki, "jetzt zittere ich ein wenig, ein einzigartiges Vergnügen."

Und genau diese Wende macht den Roman letztendlich ein wenig prekär. Man kann, mit einiger exegetischer Biegsamkeit, den Marquis de Sade als Urahn allen noirs verstehen. Aber das Organisierte Verbrechen von heute mit den, vor allem aus dem 18. Jahrhundert (verstanden als Schwellenepoche zur Moderne) stammenden Denkfiguren und in der Tradition der de Sade'schen Libertins, zu interpretieren, mag zwar ein schönes intellektuelles Spiel sein. Meinethalben sogar ein provokant frivoles. Aber gleichzeitig ist diese Überhöhung ins Metaphysische auch ein unbehaglich stimmender evasiver Romantizismus.

 

Fuminori Nakamura: Der Dieb. (Suri, 2009). Roman. Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg. Zürich: Diogenes, 2015, Leinen mit Schutzumschlag, 210 S., 22.00 Euro (D), eBook 18.99 Euro (D).

 

© Thomas Wörtche, 2015
(Freitag, Nr. 46,
12. November 2015
)

 

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