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Verrückte Realität

In Niceville, einer idealtypischen Kleinstadt im Süden der USA, geraten die Dinge außer Kontrolle: Ein flüsterndes Wesen treibt die Bewohner zu ungeheuerlichen Gräueltaten, andere verschwinden spurlos und tauchen nach Jahren verwirrt wieder auf. Carsten Strouds Niceville-Trilogie, deren abschließender Band »Der Aufbruch« jüngst erschienen ist, ist ein beeindruckendes Beispiel für Genre-Crossing mit Tiefendimension.

Von Thomas Wörtche

 

Der Aufbruch

»Der Aufbruch« ist der abschließende Band von Carsten Strouds »Niceville-Trilogie« (»Niceville«, »Die Rückkehr«). Diese Trilogie ist ein bemerkenswertes Beispiel für "genre crossing": Elemente von Kriminalroman, Horror, Phantastik und historischem Roman werden von Stroud geschickt und organisch zu einem großen Narrativ über midtown-America kombiniert, das sich vor allem für die historische Tiefendimension interessiert, die bis zu ursprünglichen Bewohnern, den Native Americans reicht. Denn in Niceville ist die Zeit durchlässig. Menschen, die - auch im Verlauf der Trilogie - gestorben sind, mischen sich plötzlich wieder unter die Lebenden, als sei nichts geschehen. Nur ihr Spiegelbild ist verschwunden, ihr Appetit auf eine Zigarette oder einen anständigen Drink hingegen nicht.

Über Niceville, irgendwo im idealtypischen Süden der USA erhebt sich ein schroffe Felswand, Tallulah's Wall, und dort eingelassen eine tiefe, mit Wasser gefüllte Senke, Crater Sink. Dort haust, seit uralten Zeiten, eine indianische Rabenspötter-Dämonin (die zum Mythenkreis der Cherokee gehört), Kalona Ayeliski genannt. So geht wenigstens die Sage. Und Niceville hat die höchste Vermisstenquote des Landes. Hunderte von Menschen verschwinden plötzlich, manche tauchen Jahre oder Jahrzehnte später plötzlich geistig ziemlich verwirrt, aber ansonsten unversehrt wieder auf. Dass da etwas nicht geheuer ist, wissen die Menschen von Niceville, dennoch leben sie ihr Leben, als Mafioso, als Bankräuber, als Polizist, Rettungssanitäter, Teenager oder Pensionär.

Zunehmend geraten die Dinge aber in Bewegung. Es scheint, als niste sich in den Köpfen mancher Menschen, ob jung oder alt, schwarz oder weiß, eine merkwürdige Entität ein, ein Flüstern treibt sie zu entsetzlichen Slasher-Taten. Andere scheinen immun zu sein, wieder andere können das Flüstern mit Musik von Fréderic Chopin (Anlass für hübsche Scherze) bekämpfen. Auch die poröse Zeit scheint irgendwie mit diesen Ereignissen in Zusammenhang zu stehen. Die Gegenspielerin der Dämonin siedelt in der Ära der Großen Depression, so könnte man einen Strang der Handlung verstehen. Aber was ist Schein, was Magie, was Realität? Selbst in manchen Subplots, die ganz und gar in der sehr robusten Realität angesiedelt scheinen, so wie die Geschichte vom größten Geldraub aller Zeiten in Niceville, haben Bezüge zum Numinosen und Irrealen.

Strouds Erzählton ist lakonisch und sarkastisch, völlig diesseitig. Er erzählt die ungeheuren Ereignisse kühl, ohne mit der Wimper zu zucken, manchmal erfreulich komisch. Die Atmosphäre schwankt zwischen biederer, manchmal auch brutaler Normalität und schwärzester Bedrohlichkeit, Horror- plus hardboiled-Handwerk vom Feinsten. Die Reservoire der Populären Kultur sind unerschöpflich. Das Schönste aber: Am Ende verzichtet Stroud auf irgendeine plausible "Aufklärung", was man als leicht frustrierend empfinden könnte, wenn er damit nicht gleichzeitig jede symbolische oder sonst wie überhöhende Auslegung verweigern würde. Er führt lediglich extrem unterhaltsam und vergnüglich vor, welch im Grunde unbehagliche Konstruktion unsere "Realität" ist, ganz nach Hamlet, 1. Akt, 5 Szene: "Es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt".

 

Carsten Stroud: Der Aufbruch. (The Reckoning, 2015). Roman. Aus dem Amerikanischen von Daniel Hauptmann. Köln: DuMont, 2015, gebunden mit Schutzumschlag, 540 S., 24.99 Euro (D), eBook 18.99 Euro (D).

 

© Thomas Wörtche, 2016
(Deutschlandradio Kultur,
19.01.2016
)

 

Ein Gespräch mit Thomas Wörtche über Carsten Strouds Roman finden Sie auf der Internetseite von Deutschlandradio Kultur unter http://www.deutschlandradiokultur.de/carsten-stroud-der-aufbruch-horror-ohne-jede-erklaerung.950.de.html?dram:article_id=342825 oder gleich hier zum Reinhören.

 

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