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Leichenberg 03/2014

 

GB84

Die 1980s, Großbritannien. Die Deregulation der Märkte läuft auf Hochtouren, auch wenn man das damals noch nicht so nannte. Die Eiserne Lady Margaret Thatcher privatisiert, was zu Privatisieren ist und räumt die Gewerkschaften ab. Die Me-Decade, das Zeitalter des gnadenlosen Egoismus bricht los, Moral ist was für Dumme, Profit der einzige Leitwert. Das hat natürlich nicht die ganze Gesellschaft im UK so gesehen. Es gab Widerstand, der im Bergarbeiterstreik von 1984 kulminierte - und der von der Premierministerin mittels der weitgehend gleichgeschalteten Massenmedien und dem hemmungslosen Einsatz struktureller und physischer Gewalt zerschlagen wurde. 1984 war ein Horrorjahr der europäischen Geschichte, ein makabres Memento an George Orwells gleichnamigen epochalen Roman. 2004, also 20 Jahre später, hat David Peace mit GB84 (Liebeskind) diese Ereignisse zu einem Roman über Realpolitik verarbeitet. Über die Mechanismen von Macht, über die Täter und die Opfer, die oben und die unten. Über die Handlanger der Geheimdienste, über die politischen Strippenzieher, über den Anfang gesellschaftlicher Verwerfungen, deren Konsequenzen auch heute noch (deutlicher denn je) zu spüren sind. Peace' Roman funktioniert nicht wie ein durchgeplotteter Polit-Thriller - der Verlauf der Geschichte ist schließlich bekannt. Er fragmentiert die Perspektiven auf die Ereignisse, er inszeniert ein gewaltiges Panorama, ein blutiges, brutales Kaleidoskop. Das ist sehr beeindruckend, wuchtig, sperrig, teilweise auch ganz buchstäblich unlesbar (wegen der manchmal verwendeten winzigen Typografie) - ein Roman, der sehr schwer daran arbeitet, Literatur zu sein. Und das ist ihm dann auch gelungen.

Böhmisches Blut

Geschichtsunterricht auch in Philip Kerrs Böhmisches Blut (Wunderlich), dem achten (von bisher neun) Romanen um den Profiermittler Bernie Gunther, der diesmal gerade von Ostfront zurückkommt und jetzt für Reinhard Heydrich einen pikanten Job machen soll. Es hätte dem Roman nicht geschadet, wenn das deutsche Lektorat die ärgsten Kontextfehler des Originals ausgebügelt hätte - so ächzte Berlin im September 1941 keinesfalls unter den Nachtangriffen der Royal Air Force und musste deswegen auch nicht rigide verdunkelt werden. Auch litt die Bevölkerung, die 1941 durchaus noch guter Stimmung war, nicht unter Lebens- und Genussmittelknappheit, und deutsche Polizeibeamte, die über ihren "Job" plaudern und sich wie im modernen Management mit Vornamen anreden, kann man unter Ulk verbuchen, gleich neben dem "Jungen Friedrich" - ("der Friederich, der Friederich..." aus dem Struwwelpeter), den Kerr zitiert, den die deutsche Fassung aber nicht kennt. Usw. Es spricht sehr für Kerrs Erzählkunst, dass trotzdem ein teilweise grandioser Roman übrig bleibt, vor allem, wenn Bernie Gunther eine Reihe historischer und fiktionaler SS- und anderer Nazischeusale in brillante Verhöre verstrickt und so the belly of the beast mit scharfen, intellektuellen Skalpellen bloßlegt. Klasse!

Wüste der Toten

Die, sagen wir, ungelenke deutsche Übersetzung, macht es ein wenig schwierig, die Qualitäten von Urban Waites Neo-Western Wüste der Toten (Knaur) zu erkennen. Dabei handelt es sich um einen kleinen, feinen Country Noir aus der Abteilung a man has to do what a man has to do - durchexerziert an zwei Cousins aus Coronado, New Mexiko. Der eine ist als Cop gescheitert, der andere als Verbrecher, in einer gottverlassenen Gegend, in der ebenfalls alles wegbricht: Das Öl, die wenigen Arbeitsplätze, der soziale Zusammenhalt. Dass in diese Lücken, wie immer, wenn ein gesellschaftliches Vakuum aufritt, das Organisierte Verbrechen einsickert, ist nicht unbedingt Thema des Romans, aber dessen Bedingung. Klassisch auch die Gemeinsamkeiten der beiden Antagonisten, die beide eigentlich jemand anderes sein wollen, es aber nicht können. Die Inversion von gut und böse, von Cop und Schurke bekommt, so wie Waite sie erzählt, veritabel tragische Züge - die letzten Dinge, verhandelt in einer gleichgültigen, trostlosen Natur ohne jegliches Transzendenzversprechen. Cool!

Die Wahrheit und andere Lügen

Auf den ersten Blick klassisch auch die Grundkonstellation von Sascha Arangos Die Wahrheit und andere Lügen (C. Bertelsmann). Charmanter, gutaussehender, reicher Bestsellerautor (genauer: Bestsellerautor-Darsteller, weil seine Frau die Bücher schreibt) bringt Leute um und kommt damit durch. Ein deutscher Tom Ripley sozusagen, der ab einem gewisse Zeitpunkt kapiert, dass die Kraft der Manipulation Wunder wirken kann. Wie das Highsmith'sche role model ist auch unser Soziopath kultiviert, ein Mann von Geschmack und Welt, dem es bedauerlicherweise an Skrupeln fehlt. Arango, dessen Drehbücher laut Verlagswerbung zu den "Fernsehereignissen des Jahres" gehören (geht's noch?) schreibt eine sehr flüssige, elegante Prosa, bei der durchaus durchschimmert, dass der Autor seinen Helden im Grunde schon für einen tollen Hecht hält. Weswegen dann vermutlich auch die ultimative Schärfe fehlt, mit der zum Beispiel Patrícia Melo (zuletzt in »Leichendieb«) die Deregulierung von Ethik und Moral in Prosa umbaut. Bei Arango muss dann halt doch bieder und deutsch die schlimme Jugend als Motivationsspender herhalten. Aber egal, Arango ist eine hübsche Boulevard-Komödie gelungen.

Ein kleines Juwel ist der kleine, schmale, sorgfältig gemachte Band Die Unerwünschten von Gian Carlo Fusco (Berenberg). Ignorieren Sie bitte den unfugigen Untertitel "Als Amerika die Mafia nach Hause schickte", und erfreuen Sie sich an kleinen, bösen Porträts, die der italienische Journalist und Schriftsteller in den 1950er Jahren von heruntergekommen "arbeitslosen Profiarbeitern der Gewalt" gezeichnet hat, die man, weil illegal aliens, aus den USA nach Italien abgeschoben hatte. Fusco zersetzt sämtliche Ansätze zu Glorifizierung und Mafia-Mythologie - maliziös, gekonnt und vernichtend.

 

© Thomas Wörtche, 2014

 

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