legal stuff Impressum Datenschutz kaliber .38 - krimis im internet

 

Leichenberg 08/2010

 

Treibeis

Biker-Gangs spielten in der 1990er Jahren eine große Rolle im alltäglich kriminellen Wahnsinn. Besonders heftig war das in Montreal so, wo die Rivalitäten zwischen den einzelnen Gangs, der Polizei, der guten alten Mafia und neue osteuropäischen Formationen des Organisierten Verbrechens zu regelrechten kleinen Kriegen ausarteten. Vor diesem Hintergrund läßt der kanadischen Schriftsteller Trevor Ferguson unter dem Pseudonym John Farrow seine Romane um den Montrealer Sergeant-Detective Emile Cinq-Mars spielen. »Eishauch« hieß der erste Cinq-Mars-Roman, Treibeis (Knaur Taschenbuch) der jetzt aktuell erschienene Band, obschon das Original aus dem Jahre 2001 stammt. Farrow erzählt eine robuste Geschichte über die Pharmaindustrie, über die Verwicklungen von Gangs mit der offiziellen Wirtschaft, von Verrat und Obession extrem raffiniert. Er springt durch verschiedene Zeitebenen, verschiebt die Perspektiven und sorgt dafür, dass die Figur Cinq-Mars stets faszinierend unscharf bleibt. Action und Reflexion, Abstraktion und Detailfülle jagen sich, dass es die pure Lektürefreude ist. Nicht so schön allerdings, dass die deutsche Fassung hin und wieder arg ungelenk den Lesefluß stört.

Das Thema Biker und eine eher unbedarfte Übersetzung haben Farrows Roman mit dem Debut von Derek Nikitas: Scheiterhaufen (Seeling Verlag) gemeinsam. Small town America in seiner blutrünstigsten Verfassung: Ein fünfzehnjähriges Mädchen ist dabei, als ihr Vater bei einem Raubüberfall erschossen wird. Aber war es wirklich ein Raubüberfall? Nikitas erzählt von alptraumhaften Brutalos, von gewaltbratzender Dummheit, von Verrat. Und von allem, was family values zu einem extrem verlogenen Thema macht. Die Hauptfiguren sind fast alle weiblich, was dem Gemetzel keinen Abbruch tut, au contraire. In der Mitte hängt das Buch ein bisschen mit allzu auf "weiblich" getrimmter Gefühligkeit durch, das fast 100 Seiten währende Showdown hat dann aber sehr schöne Splatter-Aspekte. Derek Nikitas ist sicher ein Autor, den man sich merken soll.

Im Morgengrauen

Nicht unbedingt merken muss man sich alles, was das diesjährige Frankfurter-Buchmessen-Thema "Argentinien" kriminalliterarisch hervorbringt. So könnte man zum Beispiel auf Guillermo Orsis Roman Im Morgengrauen (dtv) leicht verzichten. Eine der üblichen Geschichten, die in der Zeit der Militärdiktatur wurzeln, was okay ist. Die aber, was weniger okay ist, zum Gähnen witzelnd, blödelnd und voller Klischees sich sosolala dahinschleppt. Alles schon tausendmal besser gelesen. Nicht unbedingt sehr "argentinisch" ist Stille Wut von Sergio Bizzio (DVA). Die Idee des Psychothrillers ist hübsch - der mörderische Geliebte eines Dienstmädchens lebt heimlich in der riesigen Villa reicher Leute. Jahrelang bekommt ihn niemand zu Gesicht, aber er beobachtet alles. Das könnte allerdings noch viel spannender gemacht sein, vielleicht reicht die Idee aber auch nur für eine Kurzgeschichte.

Aber wenn das Buchmessen-Gastland auch nur den Sinn hatte, eine Wiederentdeckung von Rodolfo Walsh zu bewirken, wäre das allein schon erfreulich genug. Der Zürcher Rotpunktverlag bringt mit einer Neuausgabe des True-Crime-Klassikers Das Massaker von San Martín eines der Hauptwerke der südamerikanischen (Kriminal-)Literatur den bei uns fast unbekannten Journalisten und Schriftsteller Rodolfo Walsh wieder zu Ehren. Dazu kommt ein zweiter Walsh-Band mit ausgewählten Kriminalerzählungen: Die Augen des Verräters. Wie der 1977 von den Militärs auf offener Straße ermordete Walsh die argentinische Kriminalliteratur peu à peu von dem mächtigen l'art-pour-l'art-Einfluß Jorge Luis Borges' befreit hat, ohne diesen Einfluß zu leugnen, kann man an seinen Geschichten prächtig studieren. Jetzt fehlt eigentlich nur noch eine gute Rodolfo-Walsh-Gesamtausgabe...

Schießen Sie auf den Weinhändler

Ein sehr schönes Projekt kommt vom DistelLiteraturVerlag: Suite Noir - eine Reihe schmaler Bändchen, die allesamt hommages an berühmte Noir-Texte sind und fürs französische Fernsehen als 60- Minuten-Episoden umgesetzt worden sind. Literarisch überzeugt indes nur Chantal Pelletiers Schießen Sie auf den Weinhändler, ein wunderbar blutiger Kommentar zum Kochen & Crime-Boom. Patrick Raynals Landungsbrücke für Engel ist als zigste Variante einer "linken" Privatdetektiv-Story tolerabel. Genauso wie José-Luis Bocquets Papas Musik, eine recht voraussehbare Schote aus dem Musikbusiness, während Colin Thiberts Nächste Ausfahrt Mord auf einem peinlich albernen Gag basiert. Natürlich darf man bei allen Bändchen raten, warum sich wer auf welchen Noir-Klasssiker bezieht. Man kann aber auch ins Impressum schauen.

 

© Thomas Wörtche, 2010

 

« Leichenberg 07/2010       Index       Leichenberg 09/2010 »

 

Thomas Wörtche Neuerscheinungen Vorschau Krimi-Navigator Hörbücher Krimi-Auslese
Features Preisträger Autoren-Infos Asservatenkammer Forum Registrieren Links & Adressen