Der berühmte Sack Reis, der in China umfällt, sollte uns lieber nicht so sprichwörtlich nicht interessieren. "Was in China geschieht, was vor allem in besetzten Regionen wie Xinjiang oder Tibet geschieht, weiß die Welt nicht. Sie will es nicht wissen", merkt Ulrich Schmid im Nachwort zu seinem kapitalen Roman »Aschemenschen« an. Der spielt im toten Winkel der Weltöffentlichkeit, in der Provinz Xinjiang. Dort kommt es zu heftigen Konflikten zwischen den muslimischen Uiguren und den als Besatzern agierenden Chinesen. Terror, Gegenterror, blanke Kriminalität unter dem staatlichen Deckmantel, Folter und Gewalt allenthalben. Weil Schmid aber, wir wissen es seit seinem ersten Roman »Der Zar von Brooklyn«, ein hochintelligenter Autor ist, benutzt er diese Konfliktlage nicht als Kulisse für einen der üblichen Polit-Thriller mit Intrige und Gegenintrige. Er bindet dieses vergesse Fleckchen Erde am Rande der Taklamakan-Wüste in einen unbehaglichen globalen Zusammenhang ein.
Die Schweizer Ex-Bankerin Erla betreibt eine Firma für Abenteuerreisen der besonderen Art. Gutbetuchte und vom Ennui geplagte Menschen können sich zum Schein entführen und ein wenig quälen lassen, auf Topniveau sozusagen. Kunde Gerd Wohlfahrt aus der ehemaligen DDR findet es schick, in Kashgar, der Hauptstadt von Xinjiang, festgehalten zu werden. Das hat einen schauderhaft-schönen Anstrich von Terrorismus. Niemand jedoch hat den netten chinesischen Unternehmer Xin auf der Platte, der die Fake-Entführung missversteht und Wohlfahrt von seinem Werkschutz befreien lässt. Und so sitzen Erla, Wohlfahrt, Xin und dessen Tochter Xiao Fei zusammen im Nichts. Erla und Xin verlieben sich, Wohlfahrt beginnt eine undurchsichtige Kungelei mit dem örtlichen Parteimächtigen und eines Tages ist Xiao Fei verschwunden. Erla nimmt zunehmend in Träumen und Visionen zu den in der örtlichen Mythologie so genannten Aschemenschen Kontakt auf. Das sind nackte Wesen irgendwo zwischen Mensch und Nicht-Mensch, mit meterlangen Zungen, nicht tot, nicht lebendig, nicht gut, nicht böse, vielleicht dem Untergang geweiht, vielleicht schon längst untergegangen. Schmid inszeniert an dieser Stelle mittels seiner verblüffenden Sprachmacht ein brillantes Spiel der Realitätsebenen.
Aber immer mehr sickert die harte Wirklichkeit in die Spielebenen aus Freizeitentführung und Mythologie. In Kashgar gehen Bomben hoch, die Atmosphäre gerinnt zu einer fahlen, diffusen Bedrohlichkeit. Niemand ist, was er zu sein scheint. Und plötzlich, im letzten Drittel des Buches werden wir mit einem harten Schnitt durch Zeit und Raum katapultiert. Ins Äthiopien des Jahres 1977, als das kommunistische Mengistu-Regime sich an die Macht terrorisierte, tatkräftig unterstützt unter anderem von Folterausbildern aus der DDR. Einer von ihnen war der gemütliche, spießige, obszön daueressende Gerd Wohlfahrt, der sich jetzt in der zentralasiatischen Wüste mit einem seiner damaligen Opfer, Jonas Tefera, konfrontiert sieht. Eine solche Volte, die nicht wie das Kaninchen aus dem Zylinder aussehen darf, ist natürlich ein erzählerisches Risiko. Schmid meistert es: mit eisig-wütenden, konzentrierten Passagen, die er Tefera über seinen Lebens- und Leidensweg erzählen lässt.
Zum Schluss tauchen in einem Archäologen-Camp in der Wüste, wie die Kavallerie im Western, die uigurischen Rebellen auf - und exekutieren den durchaus liebenswerten und sympathischen Chinesen Xin, ohne mit der Wimper zu zucken, vor den Augen seiner wiedergefundenen Tochter. Gut und böse, moralisch und unmoralisch, gerechtfertigt und nicht gerechtfertigt, die Realien trampeln über die Menschen. Über manche eher weniger. Über den Folterer Wohlfahrt zum Beispiel gar nicht. Der kommt davon und nimmt dadurch fast symbolische Züge an. Denn, wie Schmid mehrfach in Interviews und im Nachwort betont: Eine Untersuchung, gar eine strafrechtliche Würdigung haben die Aktivitäten der Stasi in Äthiopien nie erfahren. Das interessiert uns so sehr wie der berühmte Sack Reis in China.
»Aschemenschen« ist ein im allerbesten Sinn verstörendes Buch. Wegen seines atemberaubend kühnen Plots, wegen seiner meisterhaften sprachlichen Inszenierung, die für den Roman konstitutiv ist, und wegen seiner Position. Ein Polit-Thriller als engagiertes Stück Literatur, wobei das Engagement nicht aus hechelnder Empörung entsteht, sondern aus hervorragender Prosa.
Ulrich Schmid: Aschemenschen. Roman. Berlin: Eichborn Berlin, 2006, 397 S., 22,90 Euro (D).
© Thomas Wörtche, 2006