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Wörtches Crime Watch 8/1999

Gabriele Tergit: Wer schießt aus Liebe?

 

"Moabit ist seit einigen Jahren Quelle für die Erkenntnis der Zeit. Nicht mehr um die individuelle Tat des einzelnen, der Sensation einer saturierten Gesellschaft, um zeitlos menschliche Triebe ... handelt es sich, sondern das typische Geschehen selber, die Epoche, res gestae steht vor Gericht". So beginnt Gabriele Tergit im Jahr 1927 eine ihrer berühmten Prosa-Stücke aus dem Gerichtsalltag, das, wie die meis-ten ihrer Arbeiten, im Berliner Tageblatt, erschien.

Das klingt nicht nur nach den "Signaturen der Zeit", die der Kriminologe Gustav Radbruch als so aussagekräftig beim Betrachten von Verbrechen erkannt hatte; es formuliert nicht nur eine potentielle Poetik eines bestimmten Typus Kriminalromans, aus dem in Deutschland dann aus ebenso bestimmten Gründen doch nichts wurde; das Zitat ist auch eine prägnante Begründung dafür, was die öffentliche Auseinandersetzung mit "Verbrechen" so spannend und nützlich macht: Ist ein Verbrechen entdeckt und wird es von den dafür zuständigen Instanzen bearbeitet (der Polizei, der Staatsanwaltschaft, dem Gericht) ist aus einem sehr privaten Vorgang ein öffentlicher geworden und dieser öffentliche Vorgang greift in viele Privatleben ein. Öffentliches und Privates verschränkt sich an diesem Punkt unauflöslich. Und damit stehen beider Normen zur Disposition.

Gabriele Tergit (als Else Hirschmann 1894 in Berlin geboren und 1982 in London gestorben) war neben Paul Schlesinger alias Sling, der allerdings schon 1928 gestorben war, diejenige, die das oben skizzierte Faszinosum erkannt und in eigenwillige, knappe Prosa verdichtet hat. Was Weegees Fotos für New York geleistet haben, haben Tergits Texte für Berlin und Deutschland geschaffen. Man vergißt nur allzuleicht, angesichts der Allgegenwart von "Kriminalreports" heute, daß sie damit Neuland betreten hatte. Auch wenn Tergits Programm heute durchgesetzt scheint, so ist es doch auch in seiner Substanz oft bis zur Unkenntlichkeit verwässert und aufgelöst, in kreischenden Thrill und dumpfe moral panic zwecks Auflagensteigerung, Einschaltquote oder Wahlkampftaktik.

Die hier von Jens Brüning, solide wie alle seine editorischen Arbeiten, herausgegebenen Gerichtsreportagen, hauptsächlich aus den 20er und 30er Jahren, zeigen deutlich, daß Gabriele Tergit sehr genau wußte, daß Verbrechen und deren juristische Aufarbeitung auch der Normenkontrolle einer Gesellschaft dienen müssen. Wenn sie, eine Art roter Faden ihrer Gerichtsreportagen, über Fälle berichtet, die mit dem § 218 oder den Kuppelei-Paragraphen zu tun haben, dann werden grundsätzlich gleichzeitig Menschen und Konzepte verhandelt: Konzepte von "Sittlichkeit", von "privater" und "öffentlicher Moral" oder, radikal, von "Verbrechen" überhaupt.

Daß mancher Prozeß nicht hätte stattfinden dürfen, weil eine Vorstellung von "Verbrechen" und seine Konkretisierung nicht (mehr) zusammengehen, diese These hat sie immer wieder formuliert. Und sie geißelt den Verfall von Rechtsnormen anläßlich der blutigen Auseinandersetzungen zwischen Nazis und Kommunisten auf den Straßen der Weimarer Republik und der zunehmenden Blindheit der Justiz auf dem rechten Auge. Nicht weil sie besondere Sympathien für die Kommunisten gehabt hätte (auch das schimmert immer wieder durch ihre Texte, allerdings waren ihr die braunen Schläger genauso unzweifelhaft widerwärtig), sondern weil sie die Verfaßtheit der Republik bedroht sah. Das hat man ihr ab 1933 besonders übel genommen. Glücklicherweise gelang es ihr, zunächst nach Palästina, dann nach London zu entkommen, wo sie nach dem Krieg als Sekretärin des Exil-Pen unendlich wertvolle Arbeit geleistet hat.

Zurück zu ihren Texten: Die stecken nicht nur voller kluger Gedanken, sie sind literarische Meisterstückchen. Unterhaltsam, pointiert, intelligent und auf stille Art sprachkritisch. Ich empfehle dazu besonders "Atmosphäre des Bürgerkriegs" vom Dezember 1931, in dem sie die schleichende Militarisierung einer ganzen Gesellschaft an ihrem beiläufigen Jargon festmacht.

Vielleicht sollte es für heutige Krawallreporter des Genres eine Art Tergit-Test geben.

 

© Thomas Wörtche, 1999

 

Gabriele Tergit:
Wer schießt aus Liebe?

Gerichtsreportagen.
Hrsg. und mit einem Vorwort
versehen von Jens Brüning.
Berlin, Das Neue Berlin, 1999,
208 Seiten, DM 24,90

Wer schiesst aus Liebe

 

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