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Wörtches Crime Watch 10/2004

 

Leoluca Orlando: Der sizilianische Karren

 

Der sizilianische Karren Der sizilianische Karren hat zwei Räder - das Rad der Legalität und das Rad der Kultur. Drehen sich die beiden Räder nicht synchron, gerät eine Gesellschaft aus dem Gleichgewicht. Dieses Bild ist Leoluca Orlandos Lieblingsmetapher, wenn es um sein großes Thema geht: Die Mafia und der Kampf gegen sie. In den blutigen Jahren von 1985 bis 2000 war er Bürgermeister von Palermo, er gründete die »Rete«, eine Partei, die sich explizit dem Kampf gegen das organisierte Verbrechen verschrieben hat, er ist Präsident der Stiftung »The Sicilian Renaissance Institute«, Mitglied des Europarates, und in aller Welt geschätzter und geachteter Fachmann für Fragen zur Bekämpfung von Organisierte Kriminalität. Er ist sozusagen der natürliche Feind Berlusconis und der Ehrenwerten Gesellschaft noch immer ein Stachel im Fleisch. Er hat überlebt.

Im Gegensatz zu vielen seiner Mitstreiter wie die Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, den Staatsanwälten Rocco Chinnici und Gaetano Costa, dem Journalisten Mino Pecorelli (über dessen Ermordung Ex-Ministerpräsident Giulio Andreotti fast, aber eben nur fast für 24 Jahre ins Gefängnis gegangen wäre), den Priester Don Pino Puglisi und viele, viele mehr. Allein die Tatsache, dass Orlando dieses Gemetzel überlebt hat, macht ihn zu einem Symbol der Zivilgesellschaft, zu einem Hoffnungsträger. An dieser Stelle ist es sehr sinnvoll, sich daran zu erinnern, dass Hoffnungsträger, Symbole und Ikonen Menschen sind. Und wenn man die in dem schönen Bändchen »Der sizialianische Karren« versammelten Miniaturen, Andekdoten, Schnurren und Erinnerungen liest, begegnet man einem Leoluca Orlando, der keineswegs ein Marmorbild auf einem Sockel ist.

Orlando ist eitel: Claudio Abaddo ist Fan von ihm, eine Russin hält jedes seiner Worte in Bild, Ton und Schrift fest, Klaus Wowereit geht ein Bier mit ihm trinken, Fidel Castro hört auf seinen Rat und Hans-Georg Gadamer weiss, wer er ist. Er ist naiv: Er glaubt wirklich, dass Kuba ein moralisch überlegenes Systen ist, er meint, Dr. Helmut Kohl allen Ernstes von der Gefährlichkeit Berlusconis überzeugen zu können, und ist überzeugt, dass man in Kolumbien sinnvoll Südfrüchte statt Koka anbauen könnte. Und siehe: Naivität und Eitelkeit, rührend in den kleinen Texten miteinander verwoben, verlieren ihren unangenehmen Ruch. Orlando weiss sie so überzeugend authentisch zu inzenieren, dass man begreift, dass diese menschlichen Eigenschaften sich aus den selben Quellen speisen wie seine zivilgesellschaftliche Courage.

Orlando geht ohne Leibwache in Mafia-verseuchten Vierteln Palermos umher und vertraut auf seine Mitmenschen, er zwingt die Staatsmacht, bei der heuchlerischen, offiziellen Begräbniszeremonie für Paolo Borsellino und seiner Leibwache das Volk zuzulassen und sich in die Fratzen blicken zu lassen. Leoluca Orlando handelt, Bauch und Kopf laufen bei ihm synchron - und siehe, der Karren läuft geradeaus. Das machte Orlando natürlich von einem rein theoretisch-intellektuell begründeten Standpunkt aus auch angreifbar. 1987 erschien im Corriere della Sera die Frontalattacke von Leonardo Sciascia, dem sizialianischen Großschriftsteller und hochkompetenten Mafia-Kenner: »Profis der Anti-Mafia«. Sciascia warf Orlando, zum Entsetzen einer engangierten und informierten Öffentlichkeit vor, den Kampf gegen die Mafia sozusagen nur als formale politische Position zu betreiben, die sich medial gut darstellen lasse, aber mit der Lebenswirklichkeit wenig zu tun habe. In »Anti-Mafia«, dem wichtigsten und intensivsten Text unserer Sammlung beschreibt Orlando, wie er den greisen Sciascia kurz vor dessen Tod zu einem klärenden Gespräch besucht, in dem es Orlando zwar nicht gelingt, den Dichter argumentativ zu überzeugen, aber uns Lesern zu vermitteln, dass Sciascias Position in die passive Resignation führen muss.

Orlando mag als Bürgermeister von Palermo und als »Mafia-Jäger« gescheitert sein, weil die Bekämpfung der einen Mafia immer die Stärkung einer anderen Mafia bedeutet, solange es keinen archimedischen Punkt ausserhalb der Realien gibt. Aber dieses fahle Faktum ist eben noch lange nicht das Ende des Kampfes. Und dieses Signal sendet der »Sizilianische Karren« aus und verlässt damit Italien, resp. Sizilien und bekommt globale Bedeutung. Heribert Prantl hat gerade in der SZ vom 18./19.09.04 die Allgemeingültigkeit der Orlando-Methode demonstriert: Anhand der vielen kleinen Anti-Neonazi-Netzwerke in den Neuen Bundesländern. Eben!

Leoluca Orlando: Der sizilianische Karren. Geschichten. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Zürich: Ammann Verlag, 2004, 196 S., 18.90 Euro (D)

 

© Thomas Wörtche, 2004

 

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