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Nur ein bisschen ketzern...

10 irritierende Spielbällchen zum Thema Gewalt und Kriminalliteratur

Thesen zur Diskussion beim Symposium:
"Grenzenlose Gewalt? Gewalt als Medienprodukt, ästhetischer Kick
und Skandalon (nicht nur im Kriminalroman.)"

Von Thomas Wörtche

 

I
Als im Frühjahr Jan Philipp Reemtsmas kapitales Buch "Vertrauen und Gewalt" mit dem Untertitel : "Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne" erschien, war nicht nur ich der Meinung, dieser große Wurf würde, ja müsste eine Debatte über Sinn und Funktion von Gewalt auslösen - auf welcher Ebene auch immer. Das ist - wenn ich nicht etwas Entscheidendes übersehen habe - lauthals NICHT passiert. Ein paar höfliche Rezension, das war's schon...
Wir veranstalten leider kein Reemtsma-Symposion, was natürlich sehr reizvoll wäre und können uns deswegen nicht mit dem hochkomplexen, fast 600 Seiten starken, extrem dicht argumentierenden Buch auseinandersetzen - wer by the way - hat es gelesen?

Wir können nur spekulieren, warum das Echo so marginal war, bis jetzt. Dazu sollten wir kurz die Hauptthesen zusammenfassen - bzw. versuchen, die EINE These zu kondensieren, die Reemtsmas Wurf so bemerkenswert macht und die wir für fast alle unsere Themen als Anschluß brauchen.
      Sein Ausgangspunkt ist die naive Frage von Walter Kempowskis mehr oder weniger fiktionaler Mutter angesichts der Rätsel und des Grauen der Welt und der Menschheitskatastrophen Holocaust und 2. Weltkrieg: "Wie isses nun bloß möglich?" - wobei es Reemtsma nicht darum geht, diese Frage zu beantworten.
      Er konstatiert, dass der "Prozeß der Zivilisation" und die "Barbarei" sich eben nicht ausschließen, dass in der "anthropologischen Lektion" die wir bekommen haben, "der Mensch... das Ensemble seiner historischen, gegenwärtigen und zukünftigen Zustände ist" - also auch immer das, was man zuvor nicht für möglich gehalten hat.
      Heißt: Die "Moderne" (also jene sich seit dem 16./17. Jahrhundert abzeichnende Lebensform) dürfte eigentlich nicht kompatibel mit den Gewaltexzessen des 20. Jahrhunderts gewesen sein oder hätte zumindest danach zerfallen müssen. Offensichtlich ist das nicht passiert.
      Statt dessen trat im Gefolge der Aufarbeitung des 2. Weltkriegs eine bis heute zwar verständliche, aber dennoch fatal kurzsichtige Perhorreszierung (= Verabscheung) von Gewalt ein, die wegen ihres beschwörenden und oberflächlich konsensualen Charakter ("Gewalt ist pfui") eine genauere und einläßlichere analytische Beschäftigung mit Gewalt und Akzeptanz von Gewalt nicht als moralischer, sondern als für das menschliche Zusammenleben konstitutive Kategorie verhindert.
      Das führt zum Beispiel dazu, Gewalt auszulagern, zu exotisieren, rhetorisch und sozial weg-zu-camouflieren, anstatt sich ihr zu stellen. Denn Gewalt, weil sie nun einmal eine anthropologisch und sozial jederzeit realisierbare Möglichkeit von homo sapiens ist - sie ist durch solche Techniken nicht aus der Welt zu schaffen.
      Sie steht auch immer in einem dialektischen Verhältnissen zu dem "Vertrauen" - der zweiten Großkategorie, die den womöglich noch komplizierteren zweiten Teil des Buches ausmacht. Vertrauen können wir jeweils mit einem ganz großen DENNOCH in soziale und politische Ordnungen investieren und tun dies de facto auch. Vertrauen kann mit Graduierungen von Gewalt durchaus kompatibel sein - in tyrannos, z.B. oder wenn man meint, legitime Gewalt unterstützen zu sollen und müssen (aus identifikatorischen Gründen, defensiv, interessengeleitet etc).
      Vertrauen kann aber auch gekündigt werden - vor allem, wenn diese Kündigung nicht rein habituell ist, sondern ihre Basis hat: Nicht in Ideologien (wie Hoffnung à la Bloch; oder Transzendenz oder Utopie und dergleichen), sondern durchaus im Bewußtsein der Kontingenz menschlichen Daseins, vermittelt über "Angst" - deren Komplement das Selbst-Bewusstsein genau dieser Kontigenz ist.
      Diese durch Distanz und Ironie (den Zusammenhang von Ironie und Kontingenz lassen wir hier weg, sonst haben wir noch ein Richard-Rorty-Seminar) gestützte "analytische Angst" kann uns beim Erkennen der "Dynamik von Gewalt" daran hindern, diese Dynamik mit "Vertrauen in Gewalt" gleichzusetzen. Das ist der erkenntnistheoretische Punkt von Reemtsma, den wir uns für unsere Diskussion merken möchten...
      Was daran verstörend sein könnte: Ausgerechnet Jan Philipp Reemtsma, Opfer von direkter, körperlicher Gewalt, argumentiert explizit und in schöner Schärfe gegen einen - nennen wir's "gefühligen" Umgang mit dem Phänomen - ohne seinerseits einem "virtuellen" Umgang das Wort zu reden.

(Sogar au contraire - mit "virtuellen Umgang" meine ich den immer wieder beschworenen "kalten", sich als besonders wissenschaftlichen gerierenden Blick, der von der potentiellen Virtualität alles Seienden ausgeht. Und über einen Bauchschuß gerne genauso theoretisiert wie über die Abbildung, Darstellung oder Fiktion eines Bauchschusses - also zugunsten theoretischer Determination kategorialen Unfug (wie das der Jenenser Philosoph Gottfried Gabriel nennt) anrichtet...
      Und natürlich geht Reemtsma ein paar Säulenheilige wie Bloch und Walter Benjamin an, spielt Konrad Lorenz wieder hoch und plädoyiert überhaupt gegen die Zerstäubung der Diskurse in die reine Diskurslogik, aber das wirklich nur am Rande...)

II
Reemtsma redet zwar deutlich von der Realität - von echter, realer (primär) physischer Gewalt, die er mit einer genaueren Phänomenologie beschreiben möchte, die aber eher eine Typologie ist, und die wir an dieser Stelle nicht wirklich brauchen. Deswegen nur kurz die Haupttypen: lozierende Gewalt (will den Körper weg haben), raptive Gewalt (will über den Körper verfügen) und autotelische Gewalt (zielt auf die Zerstörung der Integrität des Körpers, hat kein Ziel ausser sich selbst - auto telos, also "Gewalt an sich" ohne direkte Funktionalität).
      Reemtsma holt sich seine vielen, vielen gelehrten Beispiele für jeden Typus aus der Literatur und Kunst.
      Das bringt uns zu der Frage - über was reden WIR hier eigentlich?
      Über Gewalt als Sujet von Kunst/Literatur/Fiktion oder über reale Gewalt?
      Oder können wir diesen Unterschied gar nicht machen?
      Oder ist möglicherweise nicht der Umstand, dass wir das nicht können, unser Thema?
      Immerhin reden wir über Kriminallitertur und angrenzende Textarten.
      Reemtsma hingegen holt sich seine Gräuelbelege vornehmlich bei Homer, Shakespeare und Schiller - und nicht aus der Kriminalliteratur. Das ist möglicherweise bezeichnend...

Wir hingegen führen, weil Kriminalliteratur eben die Literatur ist, die Tod und Gewalt sozusagen im Titel führt, eine Diskussion, in der wir uns Gedanken machen, die sich ein bisschen nach der Gretchen-Frage anhören: Wie hältst Du's mit der Gewalt?
      Ich hab mal in die Abteilung "eigene Werke" geschaut, soviel Eitelkeit darf sein (fiesgrins) und habe drei längere einschlägige Texte gefunden: Der erste war von 1992, erschienen in der Buchmessenbeilage der damaligen Zürcher "Weltwoche" (die da noch eine andere Zeitung war als heute). Stichwort war: Brutalisierung des Genres, Beispiele Ellroy und Andrew Vachss - wobei mein Punkt war, dass zunehmende Intensität von Gewalt an und für sich nix Schlimmes ist, aber die Koppelung von exzessiver Gewalt mit ganz schlichten Weltbildern wie bei Andrew Vachss und seiner Legitimationsrhetorik, alles geschehe nur im Sinne geschändeter Kindlein, sei absolut fatal.
      Ellroy, dessen Roman "Silent Terror" ich damals vor Augen hatte und die "Schwarze Dahlie" zieh ich der glatten Funktionalisierung von exzessiver Gewalt für ein letztendlich total funktionalisiertes dramaturgisch keinesfalls provokatives, sondern biederes narratives Konzept.
      Und an beide Autoren stellte ich die Frage, ob das Reagieren auf eine gewalttätige Umwelt mit der selben Sprache funktionieren kann, mit der man sonst Trivialkitsch beschreibt. Mein Lieblingszitat von Andrew Vachss in diesem Zusammenhang - eine böse (weil sexuell autonome Frau) sagt zu ihrem Lover: "Aaaaargh Master, come to me" (und das war NICHT ironisch).
      Zweiter Text, Januar 1997 in "Psychologie Heute" (also irgendwann 1996 geschrieben) - da ging es im wesentlichen um drei Punkte: Um eine inzwischen von allen (Boulevard-)Medien entdeckte und entsprechend hysterisierte totale Kriminalisierung dieser Gesellschaft, mit Berlin als Hauptstadt des Verbrechens, und einer Brutalisierung ungeahnten Ausmasses (die Kohl-Ära neigte sich dem Ende zu, Innere Sicherheit wurde zum Wahlkampfthema und in der Tat wurde das soziale Klima rauer und rauer, der Balkan-Krieg warf seine Schatten). Es ging um die Deutungshoheit - Fiction vs. Nonfiction. Und um die Frage, ob die vor allem in der Literatur behauptete Ubiquität von exzessiver Gewalt nicht alles planiert - vor allem die Grautöne...
      Die Serialkillerwelle war inzwischen voll angelaufen, dazu die Pathologenwelle mit ihrem gewalttätigen und voyeuristisch einläßlich geschildertem Zugriff auf tote Körper, der Überbietungszwang an Scheußlichkeiten deutete sich an.
      Und ein Drittes mischte sich ein: Ein seltsamer Diskurs um "gute" Gewalt und "böse" Gewalt - wo zum Beispiel bei Doris Gercke von Frauen unter Beifall Männer zusammengeschossen und "wie Scheißhaufen" liegengelassen werden durften, aber "mitfühlend" (wenn auch sehr krass) geschilderte Gewalt von Männern an Frauen verdammt und verabscheut wurden, bei Derek Raymond etwa.
      1998 schließlich kümmerte ich mich in einem Essay für die "taz" um die Folgen für eine Gesellschaft, die aus "Gewalt" lediglich einen ästhetischen Diskurs zu machen im Begriff war, dem auf der lebensweltlichen Ebene nur eine mantra-hafte Verdammungsrhetorik ohne grössere Kenntnis der Feinmechanismen etc. von Gewalt entgegenstand. Rot/Grün und der Balkan sorgten für oft ahnungloses Ent-Rüsten oder verbales Hoch-Rüsten.

So, Schluß mit Eigenreferenzen - die eigentlich nur zeigen sollen, dass wir mit unserem Thema zehn Jahre später noch nicht wesentlich weitergekommen sind und genau da weitermachen können/sollen/wollen.
      Dass Gewalt nicht sexy ist, wie Liza Cody damals irgendwo einmal in einem Interview sagte, das hören wir gerne, da nicken wir als anständige Menschen einvernehmlich mit dem Kopf. Es stimmt ja auch.

III
Aber vielleicht auch nicht. Die Gewaltwelle in Thrillern, Filmen, Comics rollt fröhlich weiter. Ich muss jetzt hier nicht alles aufzählen, was einem den Magen umdrehen soll. Oder zumindest sollte... Denn Gewaltdarstellung in bestimmten Arrangements ist eben doch sexy. Wie die Hölle...
      "Darkside I" - eine spannende Fotoausstellung in Winterthur, die so ziemlich alle Verbindungen von Gewalt und Sexualität durchdekliniert, war und ist ein Renner der Saison - und brillant nebenbei, Bill Bufords "Geil auf Gewalt" (ein Buch über die Hool-Freuden zu schlägern und verprügelt zu werden) ein Steadyseller, Harri Pälvirantas Fotoreportagen "Battered" über das (nicht nur) finnische Freizeitvergnügen - ganz wie in Pahalniuks "Fighting Club" - sich die Schnauze einschlagen lassen, sind genauso auf riskantes Körpergefühl aus wie die nach piercing und body forming neue Lust zur kosmetischen resp. stimulativen Amputation ganzer Körperteile - und dass in diesem Zusammenhang auch James Graham Ballards kapitaler Roman "The Atrocity Exhibition" von 1970 wieder aufgelegt wird, passt so gesehen nur in den Zeitgeist...
      Und wir Krimifreunde - die wir uns doch nur literarisch erquicken: Auch wir können nicht umhin, uns an Splatterorgien wie Rex Millers "Slob" (dt. "Fettsack") zu delektieren.
      Wir argumentieren manchmal - wie ich fürchte (und damit meine ich mich gleich mit) - ziemlich prekär, vielleicht gar heuchlerisch: Wir spulen uns über allerlei Grausamkeiten - bei Karin Slaughter, bei Mo Hayder, bei Monsieur Grangé - wir finden, dass das alles toooo much ist - der Serialkiller, der resteverwertende Serialkiller, der Nekrophile, der Schänder und Unhold - Wenn wir das Buch nicht mögen, dann sagen wir: Das sei nun aber völlig disfunktionaler Terror und Horror, selbstzweckhaft, das hätt's hier nicht gebraucht.
      Beim oben genannten Rex Miller finden wir Exzeß und das Zerfetzen von Leichen, das Verzehren von menschlichen Herzen in Nahaufnahme, sozusagen, köstlich shocking, provokativ und literarisch sinnvoll. Bei den sehr grenzwertigen Torpedo-Comics von Enrique Sanchez Abuli (Stichworte: Gewalt gegen Frauen, rassistische Gewalt, sehr viel autotelische Gewalt, cf. Reemtsma) sagen wir "hoihoihoihoi" und basteln flugs ein Legitimationsrähmchen. Uns ist ein klein wenig unwohl dabei und wir ahnen, dass dieses schlechte Gewissen ein klein wenig berechtigt sein könnte, wehren uns aber, gegenüber der klaren Fiktion sissyhafte oder sonstige distanzlose Hemmungen zu haben.
      Die Moral rufen wir also als negatives Maßregelungswerkzeug auf - die A-Moral werden wir schon irgendwo ästhetisch federn.

IV
Das Putzige daran nun wieder ist, dass wir - glaube ich - kaum konsistent sind in unserem ästhetischen Verhalten. Und in unserem moralischen? Natürlich weiß man von jeder "Spezialisten"-Kultur, dass Binnenprobleme wichtiger werden und anfangen, andere Bezüge zur Welt zu überwölben. Spezialisten sind wir, die wir triebhaft Kriminalliteratur und dergleichen lesen, zu Tagungen in Evangelischen Akademien auf katholischem Grund zusammensitzen, rezensieren oder sonstwie viel Zeit mit Mord & Totschlag verbringen. Da passiert es schon mal, dass wir laut lachen, wenn ein Mordinstrument auftaucht, dass wir bis jetzt, nach der Lektüre von hunderten und aberhunderten einschlägiger Texte noch nicht kannten, wie den berühmten Fettabsaugerüssel aus der plastischen Chirurgie in "Skin Tight" von Carl Hiaasen - da dominiert das Ästhetische das Moralische und dafür könnten wir zwar allerlei Theorien aufführen - von Sigmund Freud bis Michael Balint (das ist der mit der Angstlust), aber ganz schön geil finden wirs erst mal schon...

V
Und dann haben wir noch den Hohen vs. Niederen Gewaltfaktor: Das Quälmaschinchen in Kafkas "In der Strafkolonie" ist deutlich hochkulturell und damit Gegenstand psychoanalytischer, dekonstruktivistischer oder sonstiger Auslegungsmethoden und -rituale. Brutale Filme (wenn als Genre zu identifizieren) kommen viel schneller in die Auslegungslogarithmen von Rezeptionsforschung, Publikumssoziologie oder ganz und gar anderer Feldforschungen.
      Man listet die üblichen Verdächtigen auf, die Schuld sind, an der angeblichen Verrohung der Jugend, an Schulmassaker und Schulklassenterror. Man kommt ganz und gar automatisch immer an dieser Stelle auf unsere bedrohte Jugend zu sprechen, obwohl doch Jugendschutz nicht zu den Kerndissziplinen von Ästhetik gehört. Die wahlweisen Schuldigen sind, ich muss es nicht weiter ausfalten: Von Heavy Meatal und Manga, über Horrorfilme und G-Musik bis zum Computer- und Videospiel die üblichen Verdächtigen (so wie in meiner Jugend die Karl-May-Lektüre schuld war, wenn sich Kinder auch schon manchmal zu Tode gemartert haben).
      Mit dieser Ableitung von realer Gewalt aus medialer Gewalt hat man nolens volens schon ein "Unterschichtenphänomen" erfunden, denn ich habe nie gehört, dass man "bildungsnäheren Schichten" eine Verrohung in Folge der Lektüre von de Sade, Kafka, Lautréamont, Barbey d'Aurevilly, Grimmelshausen, Artaud etc. unterstellt hätte. Wenn nun einmal auch in diesen "besseren" Kreisen die Diagnose einer "Verrohung" oder eines "Gewaltexzess" unumgänglich ist, werden gerne und schneller andere Parameter wie "Lieblosigkeit", "soziale Kälte" etc. ins Feld geführt.
      Zugeben, Videospiele werden auch für die Untaten "höherer" Söhne verantwortlich gemacht. Dennoch - das Hin- und Her-Switchen zwischen realer und fiktiver Gewalt ist keinesweg so säuberlich distinkt, wie man es von de Diskursen darüber gerne fordert.

VI
Die Tendenz zur Auslagerung unangehmer, mit Gewalt verbundener Phänomene - ob lebensweltlich oder fiktional - scheint mir unbestreitbar. Mit Auslagerung meine ich - mich darin nur schwach an Reemtsma anlehnend: Irgendwie befrieden, irgendwie beschwichtigen, entschärfen. Das geht, wie im klassischen Krimi, z.B. durch Verharmlosen und Ausblenden. Uncle Toby greift sich ans Herz, fällt um und ist vergiftet und tot. Basta. Der Spielstein im Rätselspiel. Natürlich, dagegen zielte u.a. Chandlers berühmter Vorwurf an die "aufgeregten alten Damen beiderlei Geschlechts", denen er, pro Hammett, ins Stammbuch schrieb, es könne nichts schaden, wenn sie daran erinnert würden, dass "Mord ein Akt von unendlicher Grausamkeit" sei...
      Was Chandler, by the way, nicht beachtet hat allerdings: Dass es möglicherweise ein noch größerer Zynismus sein könnte, dieses Kuschelmorden als nun mal zu akzeptierendes Vorspiel für das wirklich aufregende Mörderknobeln zu betrachten. Denn ginge es tatsächlich ums Knobeln, ums Rätselspiel - ein Rebus würde diese Funktion sicher besser erfüllen -. Aber das Mordrätsel will sich schon am Tod ergetzen, nur mit den unschönen Details nicht belästigt werden.
      Klar, es handelt sich ja nur um einen Roman, der ganz andere Dominanten hat. Was die Grundfrage nicht löst... Immerhin, die Gewalt wird beschwichtigt, sie ist nicht schlimm.

Genauso schräg der Gewaltexzess. Kein Mensch fürchtet sich mehr vor allerlei hackenden, blutspritzenden Irren - auch nicht vor Rex Millers "Fettsack". Hat man den Grausamkeitsgenerierungsfaktor entdeckt - meisten, o Wunder, Steigerung und Überbietung und ausgefuchste Bosheit menschlichen Wesens - dann überrascht nichts mehr. Es ist ja nicht so, dass wir homo sapiens nicht alles Übel zutrauen...
      Auch beim Exzess sind die Exkulpationen schwach: Man will zeigen, wie böse Menschen sein können?! Wem man das nach dem 20. Jahrhundert (oder überhaupt nach dem Studium der Menschheitsgeschichte) noch erklären muss, ist vermutlich ziemlich kindischen Gemüts. Man will zeigen, was Gewalt mit Menschen macht. Nix Schönes, auch das ist evident.
      Man will zeigen, wie Gewalt auf Körper wirkt - aber doch nicht primär im Roman, dafür gibt es wahrlich andere Quellen. Also will man schlicht und einfach terrorisieren und man will - sonst würde das Zeug sich nicht verkaufen - leserseits terrorisiert werden - ein bisschen nur, klar, und kontrolliert und natürlich nicht wirklich. Eben gedämpft, beruhigt, entsorgt, angstberuhigt...

Gewalt also scheint etwas zu sein, dass weg muss von uns. Literarisch sowieso, lebensweltlich auch. Ich kenne erwachsene Menschen, die allen Ernstes von sich behaupten, noch nie mit Gewalt, physischer zumindest, konfrontiert worden zu sein. Nur aus Medien und Kunst sei so etwas bekannt, habe dort aber einen anderen ontologischen Status. Wie wahr! Aber eben auch nicht. Denn wenn man dergleichen nur aus dem Studium der Literatur, nur aus den eh wahrnehmungspräfigurierenden Medien kennt, wie möchte man dann über die angemessene oder eben nicht angemessene Repräsentation von Gewalt sprechen? Dann weiß man nämlich gar nichts und die vermittelte Gewalt kann man nicht einschätzen.
      Natürlich ist so ein Statement Unfug. Man ist lebensweltlich pausenlos von physischer Gewalt umgegeben. Gehen Sie ruhig mal durch's stille, nächtliche Schwerte und haben eine Polizeistatistik über domestic violence etwa zur Hand. "Sowas gibt es hier nicht", solche Sätze weisen so deutlich weg, dass man ganz genau hinschauen möchte.
      Und das Vergnügen am grausamen Spektakel? Das weist der Gewalt eben auch ihre Bezirke zu - die niederen Triebe und Gelüste: Voyeurismus, Schau- und Sensationslust, gar - gier, so wie man selbst bei Verkehrsunfällen glotzt und froh ist, selbst noch einmal davongekommen zu sein.

VII
Wenn man Gewalt also idyllisiert oder hysterisiert (egal ob im Umgang mit lebensweltlicher Gewalt oder mit literarischer), dann hat man ihren Sonderstatus damit bestätigt, resp. ersteinmal generiert. Gewalt, so lautet die Nachricht, ist NICHT normal.
      Egal, daß das ganze Christentum auf einem Gewaltakt gründet (allein das reicht schon, ihn nicht als "normal" erscheinen zu lassen - Religionsgründung aus dem ganz und gar Banalen, das geht schlecht), egal, daß die Menschheitsgeschichte, die nur ein paar kriegsfreie Jahre kennt (und die sagen nichts über ihr Alltagslevel von Gewalt), egal, dass andere Säugetiere intentionale Gewalt - zumindest vom lozierenden und vom raptiven Typus kennen -, egal, was die unmittelbare Empirie sagt: Gewalt besteht auf einem Sonderstatus.
      Erst wenn sie das alles NICHT wäre -sexy, aufregend, spannend, unterhaltend, dann wäre sie in der Tat nicht mehr "schlimm", sondern hätte sich in die Cluster allgemeinen menschlichen Sozialverhaltens eingefügt. Daß sie aber sexy etc. rüberkommt, deswegen wird sie in Kunst und Literatur genau so inszeniert.

VIII
Wir reden immer noch über Kriminalliteratur. Ist sie wirklich de facto brutalisiert? Oder nur "gefühlt brutalisiert"? Vermutlich kommen wir auch dieser Frage eher durch die Hintertür näher.
      Wahr ist nämlich, dass über eine zunehmende Brutalisierung geklagt wird, seit es die einschlägigen Produkte gibt. Filme, bei denen man vor zwanzig, dreißig Jahren die Augen geschlossen hat, gelten heute als Klassiker und als lustig. Im Kino brüllen gemischte Menschenmengen jeden Alters, Geschlechts und jeglicher Pisa-Sortierung gemeinsam vor Lachen, wenn Brucie ganze Wohnhäuser hochjagt oder seine Gegner mit aus grossen Blutbeutelchen hergestellten Einschußlöchern perforiert. Köpfe fliegen auch im Herrn der Ringe...
      Und daß bei den einschlägigen Romanen die Anzahl der Unholde und die Intensität der Untaten eher Langeweilige erzeugen - Stichwort: Die Wiederkehr des Immergleichen plus - das ist banale Medienroutine im 21. Jahrhundert.
      Unbehagen an der Gewalt müsste sich also noch an anderen Parametern messen, wenn wir's denn wirklich ernst meinen sollten: Vielleicht an der Täter/Opfer Verteilung. Im Gegensatz zum Horror (egal in welcher medialen Darreichungsart) ist der Täter nur so lange simpatico, wie er die schleimigen Nebenfiguren ausrottet - meistens Männer, übrigens, bis das final girl übrigbleibt und ihrerseits das Monster (oder so) erledigt.
      Im angeblich realistischen Kriminal-Fall ist der Täter so viel interessanter als alle seine Opfer, die gar keine Eigenschaften haben dürfen, um von ihm ausgerottet zu werden (Einzelbeispiele dagegen gibt es immer) - er ist der große Intellektuelle, der Stilvolle oder der völlig Deviante. Man interessiere sich eben, heisst es in der Rechtfertigungsrhetorik, wie er tickt, der Täter.
      Warum eigentlich ist der Täter ein Sozio- oder Psychogramm wert an einer Stelle und in einem Textmilieu, das ansonsten jegliche Analysearbeit als "verkopft" von sich weisen würde?
      Auch hier beobachten wir also mit leichtem Amüsement die Rechtfertigung des gerade Opportunen mit der Rhetorik des ausserliterarisch Erprobten...
      Denn anscheinend brauchen wir diese Meta-Ebenen, um uns vor unserer eigenen Freude an Gemetzel und Schrecken nicht schämen zu müssen.

IX
Sind wir also alle "destruktive Charaktere" (according to Walter Benjamin, 1931), jung und heiter und geschichtsverloren und transitorisch und - interessant bei Benjamin an der Stelle - schon zutiefst von der Kontingenz des Daseins affiziert - denn "der destruktive Charakter lebt nicht aus dem Gefühl, daß das Leben lebenswert sei, sondern daß der Selbstmord die Mühe nicht lohnt" - aber wir wollen nicht blödeln :-)
      Ohne die vielen Metaebenen und Erklärungsansätze für unserer Fasziniertheit von Gewalt bliebe eben auch nur das fahle Eingeständnis, dass unser Umgang mit fiktionalisierter Gewalt analog ist mit dem, was wir von lebensweltlicher Gewalt halten - so sie uns nicht persönlich tangiert.
      Alle Autorinnen und Autoren, von denen ich definitiv weiß, dass sie mit physischer Gewalt irgendwie in Berührung gekommen sind (egal, in welcher Rolle), sie alle haben "anders" darüber geschrieben wie vor diesem Erlebnis oder wie Leute, die nie etwas damit zu tun hatten. Eric Ambler, z.B., Joseph Wambaugh, auch Ross Thomas etc. - sie alle haben - wie auch immer - sehr distanzierende Verfahren eingebaut. Und Leser, Polizisten, einschlägige Ärzte oder andere Gewaltprofis, lesen auch anders. Analog eben wie sie mit Lebenswelt umgehen.
      Das ist - natürlich - nur eine Beobachtung, über die Qualität von irgendetwas (gar von Prosa) sagt sie gar nichts.

X
Das Bemühen also, der Gewalt Bezirke zuzuweisen, in dem man ihren speziellen Status betont, ist eine sehr dialektische Angelegenheit. Zumindest der zweite dialektische Schritt, sie als Normalfall im menschlichen Verhaltensmuster zu begreifen, auch wenn sie exzessiv ist, scheint gewöhnungsbedürftig. Wenn man sie aber, würde Reemtsma sagen, nicht immer in der Kalkulation hätte, sie also als Option unter Optionen nicht adäquat behandeln würde, dann hätte das fatale Folgen - notfalls würden wir ihr sogar vertrauen.
      Gewöhnungsbedürftig deswegen vielleicht auch ein Typus von Kriminalroman - (nicht Horror oder dergleichen, wo nur symbolisch von einer Ebene ins Buchstäbliche und weiter ins arg Metaphorische transformiert wird -), gewöhnungsbedürftig also ein Typus von Kriminalroman, der diesen gleichberechtigt-optionalen Umgang mit Gewalt zum Thema macht. Ross Thomas gehört in diese Kategorie und natürlich als aktuellstes Beispiel die Jack-Reacher-Romane von Lee Child, in denen Töten so beiläufig ist wie Essen, aber nicht immer notwendig und dann auch, wenn es andere rationale Optionen gibt, entfällt. Natürlich ist Jack Reacher ein Zitat aus der Superheldenwelt, aber deswegen tief ironisch.
      Und tief ironisch ist eine Haltung, die - da sind wir wieder bei Reemtsma - das "Vertrauen" als verhandelbares Korrektiv für und gegen alle Optionen menschlichen Verhaltens versteht: Ergebnisoffen und nicht präjudiziert. Nicht durch Ideologie, Geschichtsphilosophie oder Transzendenz, aber auch nicht nur durch Reflex und Hoffnung und flächendeckender Benevolenz - sondern durch angstgestützte Vernunft. Denn die fiktionale Gewalt funktioniert nur, embedded sozusagen, in der realen.
      Das ist vielleicht nicht schön, aber sooo schlimm nun wieder auch nicht.
      Vielen Dank!

© Thomas Wörtche, 2008
(Thesen zur Diskussion beim Symposium:
"Grenzenlose Gewalt? Gewalt als Medienprodukt, ästhetischer Kick
und Skandalon (nicht nur im Kriminalroman.)"
1./2. November 2008, Evangelische Akademie Villigst
)

 

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