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Tod und Kontingenz

Der Kriminalroman als Trutzburg der Sinnhaftigkeit des Seins?

Von Thomas Wörtche

 

Sehr geehrte Damen und Herren,
so viel wir wissen, liebt homo sapiens Erzählungen von Mord und Totschlag, von Grausamkeit, von Verrat und Marter, von Tücke und Hinterlist, von Gewalt und Macht. Ob Kain den Abel erschlug, ob Apollo den Marsyas häutete oder ob der in Maden und Schorf gekleidete Hiob Allerschrecklichstes erdulden musste, Achilles den Hektor tötete und selbst getötet wurde, beliebter Erzählstoff war und ist so etwas immer - wir sparen uns hier den üblichen Gang durch die Kultur- und Geistesgeschichte.

Die Menschen bekommen von dieser Art Erzählung den Hals nicht voll. Am Höhlenfeuer, in der polis, in der Oikumene, auf zugigen Burgen, auf Schaukastenbühnen, im Kintopp, auf DVD und Blueray und in allen Formen fiktionalen und semi-fiktionalen Erzählens. Der Darreichungsmodus ist egal - Gattungen und Medien können wechseln, von der Lyra bis zum Dolby-Surround, vom Pergament bis zum Kindle...

Die reale Gewalt-Geschichte der Spezies Mensch und die permanenten Erzählungen von der Gewalt laufen parallel. Mord, Verbrechen und andere üble Kategorien mehr waren und sind immer präsent, allgegenwärtig. In Realität und Fiktion hat man zwar immer auch versucht, diesen Zustand zu ändern, man hat versucht, einzuhegen, zu dämmen, zu mildern. Man hat Theorien entworfen, Modelle und Utopien, Theo- und Teleologien, um diese als "Böses" bezeichnete Kategorien ein für allemal auszukurieren, auszurotten, zu entsorgen, zu erledigen.

An der Sinnhaltigkeit und Sinnhaftigkeit der jeweiligen Erzählungen aber gab es kaum je Zweifel. Exempel, Allegorie, Symbol, Psychoanalyse, Geschichtsphilosophie, Ästhetik, Ethik und Moral sorgten für die Aufsplitterungen der Gewalt- und Morderzählungen in die verschiedenen Künste und Gattungen - vom Gemälde zum Requiem, von der Weisheitsdichtung bis zum Drama, von der Votivtafel zur Ikonographie. Mord und Verbrechen steckten überall und funktionierten sinnhaft in den jeweiligen rituellen oder religiösen, theologischen, ideologischen oder philosphischen Sinnsystemen. Und natürlich auch in den lebensweltlichen Sinnsystemen, die dem realen Hauen und Stechen und Morden ihre spezifischen sinnhaften Funktionen zuwiesen - vom Märtyrertod bis zum Sterben auf Feld der Ehre, vom pro patria mori bis zum sich Opfern für eine große Idee, ein Ziel, ein Versprechen oder 72 Jungfrauen.

Aber gleichzeitig tickerte ein anderes, geschichtsmächtiges Rädchen - die spätestens seit der Renaissance allmählich stattfindende Säkularisierung aller Lebensbereiche von homo sapiens. Vom Spirituellen jeglicher Couleur bleiben die Techniken: von, um Peter Sloterdijk wenigstens kurz zu erwähnen, von der frommen Askese führt der Weg der Körperdisziplin ins höchst säkulare Fitness-Studio. Ein Weg, der als "Ersatzreligion" schwerlich zu beschreiben ist, weil jegliche Transzendenz in letzter Konsequenz einem robusten, diesseitigen Pragmatismus gewichen ist, der kaum metaphysisch begründbar, geschweige denn letztbegründbar erscheint. Aber ich möchte diesen Gedanken hier nicht ausführen, ich brauche ihn an dieser Stelle nur als Parallelaktion.

Ich möchte auch nicht unbedingt auf die vielen gemeinsamen Aspekte eingehen, die die Erzählungen von Mord und Totschlag mit den "letzten Dingen" haben - Schuld und Sühne, Vergebung und Verzeihung, die Verstöße gegen die christlichen Gebote, die drei Tod- und die sieben Kardinalsünden als Motivspender für allerlei Untaten. Das alles spielt selbstverständlich eine gewaltige Rolle, aber weist noch nicht in die Richtung, in die ich letzlich will.

Denn wie wir alle wissen, sind die vielen Modi des Erzählens von Mord & Totschlag seit dem Aufkeimen der Moderne (d.h. grob seit den 1840er Jahren und seit Edgar Allan Poe - also bezeichnenderweise seit der Schwarzen Romantik als negativer Spiegelung des lumen naturale der Aufklärung) geronnen in einem Superparadigma des Erzählens: Der Kriminalliteratur mit all ihren medialen spinoffs - Film, Radio, Comic, Game, TV, Hörspiel und Drama. Und das Ganze global und wie nur ein Blick ins TV-Programmheft, ins Kinoprogramm und auf die Bestsellerlisten zeigt, exponentiell beschleunigend.

Crime fiction - obwohl immer noch oder wieder oder gar neuerdings immer mehr - unter Trivialverdacht stehend, ist der Metaphernspender für alles und jedes (...spannend wie ein Krimi...), garantiert zum Beispiel das anekdotische Moment von Fotos oder Malerei (das Gesamtwerk Helmut Newtons etwa hat zu 95% kriminogene Anekdoten als Bildinhalte, und die sozialkritische Malerei seit Dix, Grosz, Zille und Co. illustriert manisch immer wieder crime-plots oder denken Sie an die Bildwelten von Francis Bacon). Crime fiction funktioniert als Handlungschiffre in Algerien wie in Argentinien, über Crime Fiction kommunizieren ganze Gesellschaften ihre Probleme, Widersprüche, Identitäten, wie wir es gerade am Beispiel Südafrika beobachten können...

Dass, kleinteiliger geschaut, ausgerechnet das Krimi-Festival, das inzwischen fast jede Mittelstadt oder jeder Regierungsbezirk in Europa zu bieten hat, für das jeweilige Tourismus-Marketing attraktiv, weil publikumsmagnetisch ist, mag auch einem gewissen Zeitgeschmack, einer Mode geschuldet sein, obwohl ich daran so ganz nicht glaube, weil es nie so flächendeckende Science-Fiction-, Horror- oder Romance-Paradigmen gegeben hat, mit denen soviel Disparates kommuniziert oder distribuiert werden konnte, wie das mit Kriminalliteratur anscheinend funktioniert (selbst die globale Harry-Pottermania bleibt in den Einfriedungen der Jugendkultur und der harmlosen Geister...). Nicht so das Paradigma Crime Fiction. Von ihm bleibt noch kaum ein kommunikativer Zusammenhang unberührt. Seine Verbindlichkeit, zumindest auf der Ebene des kommunikativen Potentials, ist gigantisch geworden.

 

So etwas macht nachdenklich, ist aber sogar ein bisschen historisch logisch. Wenn man Dorothy Sayers berühmte Rede "Aristotle on Crime Fiction" als einen Markstein in der Produktions- und Rezeptionsästhetik der Kriminalliteratur versteht, und zwar als einen Markstein, von dem zwei Pfade sich - im fast Borges'schen Sinn- verzweigen, könnte man sagen: Sayers Plädoyer für die Kriminalliteratur ist ein Plädoyer gegen die Moderne. Ästhetisch und erkenntnistheoretisch und metaphysisch. Gehalten 1935, als der Nachhall des Massenschlachtens des Ersten Weltkriegs und der Vorschein des Zweiten Illusionen über das Töten und Morden und deren zivilisatorischen Folgen kaum ernsthaft noch zuließen, zelebriert Sayers' Vortrag weniger einen aparten Zynismus im Umgang mit derlei unschönen Gegenständen, sondern bietet eine schon fast rührende Verdrängungsleistung: Sayers versteht ihre Gegenwart, das Jahr 1935, als eine etwas "nervöse Zeit" in der die "Beschäftigung mit Verbrechensgeschichten ein Sicherheitsventil für unsere blutdürstigen Leidenschaften darstellt, die uns sonst zur Ermordung unseres Ehegatten treiben würde". Damit betreibt sie eher eine Beschwörung, eine Abwehr von Umständen und von eminent weittragenden Umbrüchen, die sie lieber nicht wahrnehmen möchte.

Ein Hinweis bestärkt diese Vermutung: "'Falls ... Detektivromane zu einer höheren Kriminalität führen, dann wird steigendem literarischen Niveau eine Steigerung der Kriminalität entsprechen" zitiert Dorothy Sayers einen anonymen Text aus der Literaturzeitschrift "The Author", um ihm sogleich empört zu widersprechen. Dass das Argument an sich (fiction führt zu erhöhter Kriminalität) nicht totzukriegen ist, ist uns nach den ganzen Debatten um Ballerspiele und Schulamokläufe durchaus bewusst; seine latente Bescheuertheit im Zusammenhang von guten Krimis und erhöhter Kriminalität ist natürlich auch Dorothy Sayers klar, aber sie steigt begeistert auf diese Scheindiskussion ein, weil sie ja mit ihrer lebensfremden Verniedlichung von Mord und Totschlag in "nervöser Zeit" die ganze Moderne gleich miterledigen möchte. Nicht nur die Texte von James Joyce und der ganzen Avantgarde der Zeit (die zudem noch massiv unter Unsittlichskeitsverdacht standen), die Sayers mit ihrer nicht ganz so sattelfesten Feier der aristotelischen Poetik glaubt, in die Tonne treten zu können - nein, Sayers meint die ganze schlimme Zeit, ihre eigene historische Gegenwart gleich mit, in der das Morden - das schwant ihr furchtbar - eben nicht mit den gepflegten Grillen und Launen der besseren Kreise zusammengeht, sondern grimmige soziale Realität ohne erkennbares Telos geworden ist. Eine Zeit, die dann auch konsequenterweise Texte ohne Zucht und Ordnung hervorbringt, so wie sie, die gebildete, kluge und vermutlich herzensgute Altphilologin Dorothy Sayers eben die literarische Moderne miß-versteht.

Kriminalliteratur wird spätestens ab hier und spätestens in der Variante Sayers, Christie & Co. zur Trostliteratur wider schlimme Zeitläufte. Der Erfolg genau dieses Musters von Kriminalliteratur hat sich erstaunlich gut und vor allem gut erkennbar gehalten. Auch zeitgenössische AutorInnen bestehen offensiv und sich der Implikationen völlig bewusst, auf dem Trostpotential dieser Form. Sie möchten dem Publikum sozusagen menschliche Wärme mit dem Erzählen von Bluttaten geben. Es funktioniert ja auch: Es geschieht eine Tat. Es wird jemand ermordet, "etwas ist nicht geheuer", wie es bei Ernst Bloch heißt, es eilt die Aufklärung herbei. Es zeigt sich am Ende, dass Mörder und Opfer letztendlich in einem irgendwie gearteten Verhältnis zueinander gestanden haben. Der Tod des einen ist nicht kontingent, er ist sinnhaft... Deshalb kann man diesen Tod aufklären, deshalb lässt er sich einfach erzählen, deswegen kann man an ihn sämtliche Fragen anhängen - auch gerne theologisch gewendete. Der irdischen und der himmlischen Gerechtigkeit steht da nichts im Wege, gerne darf deswegen der Detektiv oder Ermittler selbst ein geistlicher Herr sein oder ein Ex-Mönch wie bei Friedrich Ani oder J. W. Rider... Gegen Widerstände, klar, und wenn der Täter am Ende der einen, der irdischen Gerechtigkeit entkommt, bleibt noch die andere - nennen wir sie die himmlische oder die poetische (wenn letztere auch manchmal ironisch erscheinen mag - ironisch intendiert ist sie vermutlich eher selten...).

Dieser Trost aber, und da wird die Angelegenheit für mich interessant, ist aber nicht mehr notwendigerweise und bei weitem nicht immer theologisch abgesichert, auch wenn es so aussehen mag. Er tut nur so, technisch gesehen - so wie die Körperdisziplin gewisse asketische Techniken benutzt.

Der Trost, den die Überführung des Täters stiftet, ist ein ganz und gar säkularer Trost. Auch wenn er ein Trost ist, der genre-konstitutiv für den Kriminalroman resp. für einen bestimmten Typus des Kriminalromans ist: Dieser Trost ist nur auf Kosten bestimmter Beugungen zu haben - nämlich, dass erzählenswerte bzw. kriminalromanlegitime Kriminalität und Gewaltverbrechen im privaten Bereich aufgeht, in dem auch in der Realität nach dem Sünden- und Lasterkatalog gemordet wird. Einem Sündenkatalog, der eher universalistisch denn rein christlich ist: Eifersucht, Habgier, niedere Triebe... Auch die Beugung, dass ein guter Kommissar, ein professioneller Aufklärer, der hinter all das schaut, was zu diesem Mord geführt hat, diesen Trost garantieren kann, muss dieser Typus von Text verantworten.

Und sei's auf einer zweiten, auf einer Metaebene - Friedrich Ani hat in seinem jüngsten Roman "Totsein verjährt nicht" genau diesen zweiten Schritt riskiert: Ein kleines Mädchen ist vor Jahren verschwunden, vermutlich ist es ermordet worden. Der Täter war geständig, ein geistig etwas zurückgebliebener junger Mann, der fürderhin weggesperrt wurde. Doch die Sonderkommission, die zuerst den Fall bearbeitet hatte, hatte damals keine opportunen Ergebnisse geliefert. Ihr Leiter wurde ersetzt, ein neuer Chef kam zu einem schnellen Ergebnis, Politik und massenmedial beeinflußte Bevölkerung waren zufrieden. Gerechtigkeit herrschte, Trost für die Öffentlichkeit - aber der falsche Täter sitzt ein. Jetzt tritt Anis großartige Ermittlerfigur Polonius Fischer, Ex-Mönch, mit Gott hadernd, ringend & suchend, auf den Plan - und klärt die Dinge endgültig. Der Zufall, der einer politisch opportunen, wenn auch fachlich nicht ganz überzeugenden Lösung den passenden Verdächtigen damals geliefert hatte, hatte die innere Notwendigkeit übersehen, mit der der wirkliche Täter damals zu Werke ging. Und die jetzt, nach Jahren korrigierend erkannt werden kann. Polonius Fischer beweist uns, wie haarscharf hier Kontingenz umschifft wird, um eine befriedigende Sinnhaftigkeit irdischen Waltens zu erzeugen.

Aber das ist Friedrich Anis Entscheidung, seine Setzung, seine Antwort. Denn Polonius Fischer war damals der Leiter der SoKo gewesen, den man, weil er skrupellös arbeitend, eine einfache Lösung verweigerte und dadurch politischen Druck erzeugt, suspendiert hatte. Jetzt, Jahre später, arbeitet Fischer, so sehr er nach Gerechtigkeit lechzen mag, auch an seiner eigenen professionellen Rehabilitation. Er steckt also in dem Dilemma von persönlicher Identität und allgemeiner Gerechtigkeit. Dieses Dilemma ist ein geradezu prototypischer Fall dessen, was Richard Rorty über die Rolle der Kontingenz in der Dialektik von Privatem und Öffentlichem expliziert. Rorty diskutiert nämlich exakt das Problem von Polonius Fischer: Wie "entscheidet man, wann man gegen Ungerechtigkeit kämpfen und wann man private Selbsterschaffungspläne verfolgen soll?" Denn möglicherweise hat ja auch Polonius Fischers Kreuzzug gegen Ungerechtigkeit Elemente einer anderen Ungerechtigkeit gegenüber einem Kollegen, der damals nach Lage der Dinge, aber nicht bösartig gehandelt hat. Rorty nun argumentiert an dieser Stelle dezidiert post-religiös, post-metaphysisch: "Wer glaubt", so sagt Rorty über diese Polonius-Fischer-Frage und andere Problemstellungen ähnlicher Art aus den empfindlichen Schnittbereichen von Privatheit und Öffentlichem, "wer also glaubt, es gäbe wohlbegründete theoretische Antworten auf Fragen dieses Typs - Algorithmen zur Lösung moralischer Dilemmata dieser Art -, ist im Herzen immer noch Theologe oder Metaphysiker. Er glaubt an eine Ordnung jenseits von Zeit und Veränderung, die festsetzt, worauf es im Leben ankommt, und eine Hierarchie der Verpflichtungen einrichtet."

Man kommt, da ist Rorty deutlich Wittgensteinianer, in diesem Zusammenhang nicht an dem berühmten "Vortrag über Ethik" vorbei, in dem Wittgenstein den "Unsinn" von Aussagen über das Wunderbare et al bekräftigt, aber gleichzeitig jedem persönlichen Versuch, ethisch in einem System des Absoluten zu handeln, seine Hochachtung ausdrückt.

Genau das macht Friedrich Ani hier mit seinen literarischen Mitteln: Er demontiert den Trost und die Sinnhaftigkeit der ersten Lösung (die man auch als die Lösungsoption schlechter, weil allzu simpler Kriminalliteratur bezeichnen könnte), bezieht sich auf die Spiritualität seiner Figur Polonius Fischer und beschließt dann eine Lösung, die sich nicht aus einem System des Absoluten herleitet, sondern aus einer in der Tat Rorty'schen (insofern auch ironischen) post-metaphysischen, "liberalen" Entscheidung: Die kann optional religiöse Gestalt haben, ist strukturell aber nicht auf religiösem Weg entstanden. Das Religiöse wird dadurch von Ani aus dem Notwendigen, dem metaphysisch Unbedingten, dem Dogma des Glaubens, der Sinn-Garantie herausgelöst und als Option menschlichen Handelns unter anderen Optionen sozusagen operabel gemacht.

Auch die Kriminalromane von Georges Simenon haben oft diesen double bind von theologischem Modell einerseits und struktur- aber nicht funktionsanaloger Praxis andererseits. Romane mit dem Commissaire Maigret scheinen sogar das Heilsversprechen durch einen gütigen Gottvater-adäquaten Verbrechensbekämpfer tröstlich einzulösen. Maigret überführt den Täter und führt die Welt in ihre (klein-)bürgerliche Ordnung zurück, so scheint es.

Aber so ist es nur auf den allerersten Blick. Denn die Ordnung der Welt wird in allen Romanen von Simenon - solchen, auf denen "Krimi" draufsteht, und solche, die er "romans durs" nannte - nicht in erster Linie von Bösewichtern gestört, sondern von Gelegenheit, Zufall, timing - oder wie andere Kategorien eines gleichgültigen Kosmos so heißen mögen. Hätte, in Georges Simenons aus vielen Gründen (nicht zuletzt solchen der Erzählökonomie) großartigem Roman "Maigret und die Keller des Majestic" der arme, hässliche, aber grundanständige Prosper Donge auf seinem Weg zur Arbeit als Chef der Kaffeeküche des "Majestic" keinen Platten an seinem Fahrrad gehabt, hätte der schmierige, fiese Jean Ramuel keine Gelegenheit gehabt, die zu Reichtum gekommene Hure Mimi umzubringen und den unschuldigen Nachtportier gleich mit. Zwar entlastet das gleiche timing am Ende des Buches den guten Prosper Donge, bringt aber für zwei andere Menschen den gewaltsamen Tod.

Dieses moralische Paradox ist für Simenon kein Anlass für allerlei scharfsinnige Reflexionen über Zeit und Tod und Gerechtigkeit, sondern eine erzählerische Miniatur im allerersten Kapitel des Romans, das nur scheinbar streng chronologisch den tristen, aber heimeligen Alltag des Kaffeeküchenvorstehers erzählt und die furchtbare Katastrophe, die sich aus so etwas Banalem ergeben kann. Aber das Beispiel zeigt, gerade wegen seiner signifikanten Beiläufigkeit, welche enorme Rolle die Kontingenz aller Geschehnisse für Simenons Konzept von Kriminalliteratur spielt. Der Detektiv in den Maigret-Romanen scheint noch so etwas wie die Sinnhaftigkeit aller Detektion zu beglaubigen, aber die Kollateralschäden sind schon passiert, bevor "Trost" noch ernsthaft eine mildernde Kategorie sein könnte. Erst recht in den Simenon-Romanen, in denen die "Erlöser"-Figur Maigret fehlt, die aber deswegen nicht weniger Kriminalromane sind. Gerade da wird deutlich, wie zutiefst pessimistisch und kalt die Welt des Georges Simenon recht eigentlich ist. Auch hier sind die intellektuellen, psychologischen und spirituellen Techniken in die Funktionale gerutscht. Ein Sinn des Treibens außerhalb seiner narrativen Aufgabe, eine Geschichte ganz (pseudo-) "aristotelisch" (im Sayers'schen Sinn, um das nochmal zu betonen), nach dem Anfang und der Mitte mit einem Ende zu versehen, ist kaum noch auszumachen.

Kriminalliteratur, so können wir bis jetzt festhalten, produziert auch Spielarten, deren antimoderne (resp. vormoderne) Erscheinungsgestalt und Form ihrer Modernität nichts anhaben können. Allerdings bezahlen bei unseren beiden Beispielen die intakte, traditionelle "vormoderne" Form und die "modernen" (oder: ironischen) Inhalte, die in einem Text zusammengeführt werden, dies mit einer gewissen Inkongruenz. Sie sind, auf den ersten Blick jedenfalls, mit anderen Modellen verwechselbar.

Denn auch eher regressivere Modelle arbeiten mit explizit christlichen resp. theologischen Feldern und Bezügen. Das auffallendste Prinzip dabei ist natürlich die Theodizee, die gerade im modischen Serialkillerroman der "art moyen" (nach Bourdieu) überlaut vernehmbar ist. Nicht, weil ein durchschnittlicher Serialkiller-Schmöker im Gefolge von Thomas Harris "Hannibal Lecter"-Romanen dies bewusst so anlegen würde - so etwas passiert nur in einigen wenigen hochreflektierten Ausnahmewerken dieses Subgenres, bei Derek Raymond etwa. Die Romane, die ich hier meine, also solche von Karin Slaughter, von Val McDermid oder Mo Hayder oder wie auch immer die austauschbaren VerfasserInnen von dergleichen Fluchtliteratur heißen mögen, häufen Gräuel auf Gräuel auf Gräuel, die Menschen angetan werden, dass selbst Hiob wie eine gehätschelte Prinzessin auf der Erbse wirkt. Sie wissen dabei schon, dass die Antwort auf die Frage, wie Gott so etwas zulassen kann, von der Fiktion selbst gestellt (weil sie real existierende Gräuel der Welt nur karikierend nachäfft) gestellt und damit gleich auch beantwortet wird: Der Autor wird's schon richten lassen, bevors wirklich metaphysisch wird. Von seinem heldenhaften Gerichtsmediziner, seinem Profiler, seinem Kämpfer gegen die Mächte der Finsternis, die wiederum allesamt aus sündigen Seelen bestehen. Böse Leute eben, aus Prinzip oder aus Schwäche, aus Krankheit oder devianter Disposition, aber nie aus Gründen kontingenter Umstände wie bei Simenon oder wegen handfester politischer und sozialer Determinanten.

Die Theodizee, die ja laut Günter Anders, als "Sinnfrage" ihre säkularisierte Version hat, ist da zur Ideologie geronnen. Denn die simple Botschaft dieser Variante von Kriminalliteratur, also die Variante der blutigen, gewaltgeilen und evasiven Kriminalliteratur, heißt ja, dass nichts so schlimm, so furchtbar, so grauenhaft inszeniert werden kann, als dass die Gegeninszenierung nicht immer und jederzeit rettend zur Stelle sein wird. Die Welt in dieser Art Bücher wird so schlecht gemacht, auf dass jeder wissen soll, dass die reale Welt unmöglich wirklich so schlecht sein kann. Die Tücke dabei: Die reale Welt ist auf ganz andere Art und Weise noch viel schlimmer verfasst als es eine fiktionale Welt je sein könnte, aber dagegen sind wir dann durch besagte Gräuelfiktionen schon bestens gepanzert. Die "Sinnfrage" ist somit von der eigentlichen Theodizee losgekoppelt. Sie wird nur noch rhetorisch gestellt. Ihr "Sinn" ist Ideologie, Evasion, Entertainment light.

Und mit einem zweiten, sehr theologisch besetzten Mittel arbeitet diese Art der Gräuelfiktion: Mit dem "Schutzversprechen". Je grausamer der geschilderte Täter, je furchtbarer die Gefahren, je unvorstellbarer die Bedrohung, desto benevolenter und tyrannischer das Schutzengelprogramm. Das aber gibt es nicht umsonst. Schutzleistungen müssen bezahlt werden, die Schutzbefohlenen müssen auf ihre Mündigkeit verzichten, damit der Schutz sie überwölben kann. Sie müssen sich selbst präventiv schützen lassen wollen. Und da können Gesetze, Verfassungen, zivilisatorische Standards, gar Menschenrechte durchaus im Weg sein - wir kennen den Kalauer, dass die Verfassung aber "ja nicht Täterschutz sein" dürfe von diversen Innenministern und Heimatschützern.

Das ist auch die Moral vieler Thriller von Tom Clancy bis zum späten Joseph Wambaugh, in denen eingeübt wird, welche Bürgerrechte, welche Selbstbestimmungsmaßnahmen gestrichen werden müssen, um die als überlebensgroß aufgebauten Schurken, die menschheitsfinalen Bedrohungen erfolgreich bekämpfen zu können. Hier gilt der von Rorty ausgemachte Diskurs um Selbsterschaffung und Gerechtigkeit schon als theoretisch und prinzipiell begründet gelöst: Und zwar im Sinne einer wie immer gearteten höheren Raison, die dann keine Option unter anderen mehr ist, sondern als notwendig sinnhaft vorgestellt werden muss. Ihren "Sinn" ertrutzen sich diese Art von Fiktionen sozusagen "monotheistisch" - denn: Du sollst keinen anderen Sinn neben mir haben...

Der mit allen Wassern des Mediengeschäfts gewaschene Willy Haas hatte schon 1929 in der "Literarischen Welt" die Idee, in der Kriminalliteratur ein "unterirdisches theologisches Zeitsymptom" in einer transzendent eher unbehausten Periode zu sehen. Weil der Mensch nicht ohne Religion leben könne, so Haas, es aber am Glauben aus vielen bekannten historischen Gründen mangele, brauche man in Zeiten der "sinkenden Ordnung, des drohenden Chaos, einer unsicheren, neu entstehenden Ordnung" Zuversicht. Zumindest die Zuversicht, dass "für die Guten alles gut endet". Für so wirkmächtig hält Haas dieses Phänomen, dass es selbst grottenschlechte Kriminalliteratur auf eine gewisse Weise veredele. Sein Paradebeispiel ist sicher einer der allerschlechtesten weltbekannten Kriminalautoren aller Zeiten: Edgar Wallace. Dessen Wirkung aber, meint Haas, sei dennoch so groß, dass er selbst jenseits der "Schwelle der unfreiwilligen Lächerlichkeit" funktioniere.

Das ist eine benevolente Volte, deren Befund man eine etwas bösartigere Variante hinzufügen könnte: Als nachgerade alt-testamentarische (oder noch archaischere) Geste wird ja bekanntlich das berühmte Ende von Mickey Spillanes "I, the jury" gewertet, wenn der Held Mike Hammer einer bösen Frau mit den Worten "Es war einfach" eine Kugel in den nackten Unterleib schießt. Das gilt oft als entzückend politisch unkorrekt, aber man muss nicht feministisch argumentieren, um die abgrundtiefe Misogynie einer solchen Handlung zu bemerken, mit der die Stimme des McCarthyismus, also Mike Hammer, hier in der Tat im amerikanisch-fundamentalistisch-christlichen Sinne agiert (Mickey Spillane gehörte bekanntlich zu den Zeugen Jehovas). So hat es bösen Frauen nun einmal zu ergehen, denn sie sündigen ja schließlich mit dem Unterleib.

Wie überhaupt die ganze Veranstaltung namens hard-boiled-novel einerseits kluge ökonomische Analysen liefert, seit Dashiell Hammett 1929 in "Red Harvest" die Analogien von Verbrechen und Geschäftswelt fiktional zum ersten Mal glasklar formuliert hatte und einen veritablen kleinen, fetten Mörder, seinen Continental Op, zur positiven Hauptfigur eines Roman ernannte. Andererseits bezieht die hard-boiled-novel ihr Weltbild, einen "tieferen" Sinn und eine begeisterte (wenn oft auch hebephrene) Leserschaft auch aus ihrer zutiefst christlich (oder: monotheistisch) begründeten Misogynie, wonach vor allem Frauen mit einem bösen Ende notwendigerweise rechnen müssen, wenn sie vorher sexuell autonom waren. Heilige, Mutter oder Hure sind nicht alle Varianten. Die schlimmste, verderblichste und verwerflichste ist weibliche Autonomie, deren "Selbsterschaffung" mit der Gerechtigkeit nur final kollidieren kann - eine Rorty'sche ironische Verhandelbarkeit findet hier nicht statt. Und Kontingenz in der Handlungsführung von hard-boiled-novels eben auch nicht.

Nicht umsonst spielt ein literarhistorisch später Reflex auf die hard-boiled-novel mit diesem ganzen Bündel von Bezügen. Ich meine die beiden kapitalen, in Deutschland fast völlig unbeachtet gebliebenen Romane von J. W. Rider: "Jersey Tomatoes" und "Hot Tickets" von 1986 und 1987, die instinktsicher auf deutsch "Der Teufel hat viele Masken" und "Der Teufel kennt kein Gesetz" heißen. J.W. Rider war das damals noch ungelüftete Pseudonym des Schriftstellers Shane Stevens, der mit dem schon beinahe "Meta-Serialkiller-Roman" zu nennenden "By Reason of Insanity" 1979 schon die Reflexionsebene über das Sujet "Serialkiller" so hoch gelegt hatte, dass später eine aufwändige publizistische Verdrängungsmaschinerie die Aufmerksamkeit für wesentlich schlichtere Produkte wie die Lecter-Romane erzwingen musste. Das aber nur nebenbei...

In den beiden genannten Romanen um den Privatdetektiv Malone aus New Jersey, der sich nur mit Mordsachen beschäftigt, hat Rider die tiefe, fundamentalistisch verwurzelte Misogynie dieses Subgenres eingelagert in ein ganzes Geflecht christlich-religiöser Bezüge, Anspielungen, Zitate und direkte Übernahmen. "Wir standen auf dem Berggipfel mit der Welt zu unseren Füßen, während ich darauf wartete, dass mich der Teufel versuchte. Zuzuhören war ungefährlich", so beginnt ein Kapitel, in dem Malone mit einer schönen und mörderischen Frau von einem Hochhaus auf Hoboken hinab und auf Manhatten hinüber über den Hudson schaut. Bibel direkt, die Frau als Teufel. Und auch noch ironisch gebrochen. PI Malone war, so lernen wir, einst katholisch, jetzt ist er Mormone, aber beides kann sarkastisch gemeint sein. Denn Religion, christliche Werte, überhaupt die Werte des Abendlandes werden immer im Munde geführt, pausenlos thematisiert, pausenlos in ihrer Wertigkeit demontiert und atomisiert und leiten doch, so hat es den Anschein, das Handeln der Personen in den beiden Malone-Romanen.

Eine Figur mit dem schönen Namen Charisma Kelly etwa, betreibt eine Organisation namens "Anonyme Christen", die Menschen aus neurotischer Religionsabhängigkeit zu befreien verspricht. Und wenn Malone aus sehr pragmatischen, diesseitigen Gründen Menschen mit Bedacht, Vorsatz und ohne Reue umbringt, könnte er dies, so wie Rider bzw. der Ich-Erzähler es uns situativ erzählen, auch aus oben genanntem alttestamentarischem Zorn - Auge-um-Auge - tun, wäre der ganze Gestus, die Färbung der Romane nicht grundsätzlich ambigue, gebrochen und extrem polyvalent. Religion erscheint hier auch als "license to kill", nicht aus ideologischer oder moralischer Empörung, wie das noch beim Fundamentalisten Spillane der Fall war, sondern sozusagen system-unterstützt und heiter. Aber so läge der Fall eben nur, wenn nicht die Parodie der in den USA der Reaganomics und des neuen Patriotismus ubiquitären Religiosität mit maliziösem Sarkasmus folgte: In einem kirchlichen Restaurant, einem christlich-kulinarischen theme park namens "Haus der Einkehr" werden blutige Steaks serviert, die auf der Speisekarte "Bibel" heißenoder "Leib und Blut" und natürlich kommt am Ende die Rechnung als "Opfergabe" daher. Wobei auch die Parodie, die ja keine normative Gegenbildlichkeit braucht, noch kein Garant ist, dass J.W. Rider eine christliche Grundorientierung total ablehnen würde. Aber sicher sein, kann man, wenn man texttreu interpretiert, auf gar keinen Fall. Die Leistung von J.W. Rider aber war es (und ist es noch, weil noch kein Autor auf dieser Linie weitergegangen ist als er - die heutige, neuen Versuche einer retro-hard-boiled-Welle sind dagegen naiv und unbedarft und befriedigen höchstens ein entsprechendes Publikum), die Grundvoraussetzungen der Unterstellung, Kriminalliteratur könne man durchaus als Religionsersatz betrachten, ironisch zu unterlaufen und zu sabotieren. Auch für diesen Akt braucht es keine Gegenbildlichkeit, keine Gegennorm, sondern die Demontage der Norm trifft das eine im anderen. Eine Teleologie des Kriminalromans findet hier sowenig statt wie eine Theologie des Kriminalromans, der sich dann erzählerisch doch mit der ganzen Kontingenz des Universums herumprügeln muss.

Natürlich können direkt religiöse, meistens christliche Elemente auch anders funktionalisiert werden. Meistens christlich oder jüdische Motive und Themen deswegen, weil interessanterweise offen muslimische Kriminalromane relativ selten sind (animistische oder buddhistische noch seltener, und ob Willem van de Weterings Zen-Krimis wirklich ernsthafterweise zen-basiert sind, ist noch lange nicht ausgemacht) und mit Ausnahme von Driss Chraïbi und Yasmina Khadra bis jetzt noch keine Weltgeltung haben. Klar können wie bei Urs Schaubs Tanner-Krimis (wie gerade im "Wintertauber Tod") Bibelstellen und christliche Bezüge konstitutiv für die Handlung sein, klar kann das Numinose, Wunderbare, Übernatürliche wie bei William Marshalls Yellowthreadstreet-Mysteries und bei deren strukturellen Nachkommen, den Fred-Vargas-Krimis, für Verwirrung und Desorientierung sorgen, bis das lumen naturale der Aufklärung wieder das Rationale aufruft und bekräftigt.

Selbst wo dies wie bei den neueren Romanen von James Lee Burke oder in Dennis Lehanes "Shutter Island" deutlich nicht der Fall zu sein scheint, ist das Übernatürliche kaum mehr als Index auf eine andere Dimension, auf eine andere Welt, aber nicht im metaphysischen, transzendenten Sinn, sondern lediglich im populärkulturellen fantastischen Modus mit allen seinen Bildwelten und multimedialen Anschlußmöglichkeiten.

Bei intentionalen Genre-Bastarden wie den zur Zeit beliebten Mischungen aus Kriminalroman und Vampirroman zum Beispiel, ist das Übernatürliche, ist die metaphysische Dimension meistens nicht substantiell. Über das Leben nach Tode erfahren wir da doch sehr wenig. Die sehr gelungenen Romane um den "Vampir" und Privatdetektiv Joe Pitt des amerikanischen Autors Charlie Huston, verfahren rein metaphorisch. Der Vampirismus hat nichts mit den klassischen Untoten zu tun, die ihre aus viktorianischer Zeit stammenden Geschlechtswerkzeuge im Gesicht tragen, sondern diese (und andere) Vampire sind sehr un-numinose Resultate menschlicher Hybris, also genetischer Katastrophen und naturwissenschaftlicher Experimente - als Chiffren von Zivilisationskritik oder scifi-haften Extrapolationen. Und wenn es, wie bei Huston, um urbane Territorien und Macht geht, wie in einem beliebigen Polit-Thriller, dann folgen diese Romane ganz einfach den Gesetzen ersatzreligionshafter Funktion oder eben nicht... Für die Ventilation unseres Themas gehören sie an die Stelle, an der man über den Gebrauch und die Funktionalisierung christlicher und religiöser Bild-, Sprach- und Denkwelten reflektieren müsste.

Mit nachgerade erfreulichster Sinnhaftigkeit in einem Meer kalter Kontingenz scheinen die Jack-Reacher-Romane des britischen Romanciers Lee Child erfüllt zu sein. In bisher dreizehn Romanen (zehn davon in deutscher Übersetzung erhältlich) wandelt der Ex-Militär-Polizist Jack Reacher auf Erden, um wie der barmherzige Samariter Menschen in Not zu retten, ihnen zu helfen, ihnen Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Reacher ist ein seltsamer Kauz. Irdischer Besitz interessiert ihn nicht, er trägt lediglich eine zusammenklappbare Zahnbürste bei sich, selbst Kleider kauft er neu, wenn die aktuellen schmutzig geworden sind. Bis auf ein am Anfang des Zyklus wohlgefülltes, im Laufe der Romanserie immer mehr schrumpfendes Bankkonto lebt Reacher nach dem omnia mea mecum porto-Prinzip des Bias von Priene. Reacher mischt sich ein, er handelt ohne Auftrag, ohne Amt, ohne Legitimation. Das Auswahlprinzip seiner Abenteuer (mit wenigen Ausnahmen) ist der Zufall. Reacher streift durch die Städte und Provinzen der USA, wird Zeuge einer Entführung, trifft auf Frauen, die Probleme mit ihren gewalttätigen Ehemännern haben, kommt in Kleinstädte mit tyrannischen Lokalpotentaten oder verspricht unbedacht Hilfe, die ihn zum Komplizen schlimmer Untaten machen würde. Dann wechselt er schnell die Loyalitäten. Und er tötet. Ohne mit der Wimper zu zucken, schnell, effektiv, kühl bis ins Herz. Der Katalog christlicher Werte, insbesondere die zehn Gebote, sind nicht sonderlich verbindlich für ihn. Die Welt, according to Reacher, scheint ein ziemlich sinnfreier Ort zu sein. Denn wenn Reacher fertig ist mit seinen jeweiligen Aufräumarbeiten und die Blutspuren und übrig gebliebenen Häppchen seiner Widersacher beseitigt hat, ist er verschwunden. Dann beginnt seine Sisyphus-Arbeit im nächsten Buch aufs Neue. Seine Art der (schon fast existentialistischen - falls das Paradox erlaubt ist) Heilsbringung hat einen hohen Quotient von Kollateralschäden, wobei Reacher die nicht besonders zu bedrücken scheint. Außerdem obwaltet eine stille Komik und eine permanent vorhandene Ironie in den Romanen, die schon alleine deshalb keinesfalls als protofaschistische Recht-und-Ordnungsphantasie oder als fernes Echo eines ordo-Gedankens irgendeiner ecclesia militans interpretiert werden können. Lee Childs Romane sind Action-Romane der hochintelligenten Sorte, die man auf verschiedenen Ebenen lesen kann. Ich möchte nicht so weit gehen und Friedrich Ohlys Exerzitien zum mehrfachen Schriftsinn aktualisieren (obwohl man's mal scherzeshalber probieren sollte...), aber bei aller eleganten und schnellen Gängigkeit der Reacher-Romane ist klar, dass sie mehrdimensional sind. Und die Frage nach Sinn und Unsinn (zum Beispiel) der Welt literarisch stellen: Die Radikalität und Gewalttätigkeit, mit der Reacher das durchsetzt, was er für moralisch oder ethisch, schlicht für gerecht oder auch nur für recht und billig hält, ist verwirrend: Weil es manchmal so konträr gegen unser reflektiertes Rechtsempfinden verstößt und gleichzeitig so voll deckungsgleich mit unseren Gerechtigkeitsreflexen einhergeht - wenn Reacher üble Menschen einfach ausknipst, die sich gerade an einem wehrlosen Wesen vergehen wollen.

Eine solche Unbedingtheit also kann man an die spontane Zustimmung zu vielen Arten der radikalen Moralkritik von Kierkegaard über Marx zu Nietzsche in nicht nur metaphysisch prekären Zeiten anschließen. Inklusive des darauf folgenden Katzenjammers. Denn die Katastrophen des 20. Jahrhunderts sind ja auch (unter vielen, vielen anderen Aspekten) Echos auf radikale Moralkritiken, auf "Übermensch"-Konzepte, auf das in der Tat religionsanaloge Telos der klassenlosen Gesellschaft und wie die Totalitarismen alle heißen. Aber Reachers gewalttätige Reflexe und auch die Ziele und Zwecke, die er damit verfolgt, retten ihn - paradoxerweise davor - moralisch perfekt zu sein und dadurch "heilig" zu wirken. Lee Child baut mit zunehmendem Verlauf seines Zyklus auch schleichende Defizite und Flecken auf Reachers weißer Rüstung ein. Sie ist blutbesudelt. Zudem verarmt Reacher stetig, sein Sozialprestige gerät ins Wanken, seine Sozialität wird fragwürdig. Kein Heiliger, längst ein Outlaw, nur noch selten ein Robin Hood, der den Reichen nimmt und den Armen gibt. Reacher ist kein ethisch perfektes Monstrum, kein rigoristischer Taliban, sondern ein mit prekärem Gewaltverständnis ausgestattetes Menschlein - bei aller Omnipotenz, die der Figur zunächst eingeschrieben scheint. Sein Schlachtfeld ist in der Tat auch das Schlachtfeld von Ethik und Moral. Aber er handelt oft moralisch indifferent, gar indolent - Moral steht in seiner Ethik als Handlungsmaxime nicht an höchster Stelle. Pragmatische Fragen und Entscheidungen sind für seine Taten entscheidend, die Kontigenz der menschlichen Existenz kann keine prinzipiellen Parameter mehr brauchen, nach denen man notwendigerweise handeln muss. Es reicht auch, einem Feind schlicht den Arm zu zerschmettern (aus pragmatischen Gründen der Entsorgung) anstatt ihn, der tausendfach den Tod verdient hätte, prinzipientreu und maximengerecht zu töten. Oder um mit Günter Anders zu reden - Lee Child und seine Figur Jack Reacher setzen nicht unbedingt voraus, dass "ein Leben, außer da zu sein, auch noch etwas haben müsste oder auch nur könnte - eben das, was Sie 'Sinn' nennen."

Sollte dieses Prinzip selbst allerdings auch schon wieder "sinnhaltig" sein, dann stiftet Kriminalliteratur, wie herum man sie dreht und wendet - immer "Sinn". Traditionellen Sinn, dass die Welt wieder in Ordnung komme. Und subversiven Sinn, dass dies keinesfalls der Fall, dies aber auch okay so sei. So oder so ist dann Kriminalliteratur eine Veranstaltung zur narrativen Generierung von Sinn und Gegensinn. Aber kann Kunst überhaupt etwas anderes sein?

Vielen Dank!

© Thomas Wörtche, 2009
(Vortrag gehalten auf der Tagung:
Unerlöste Fälle.
Religion und zeitgenössische Kriminalliteratur.
30.und 31.Oktober in Basel
)

 

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