kaliber .38 - krimis im internet

 

Krimi-(Vor-)Auslese 04/2020

 

Bei den vielen Joggern, die man dieser Tage sieht, kommen wir arschfit aus der Corona-Krise! Ich selbst hab's nicht so mit körperlicher Ertüchtigung und bin mehr mit meinem Styling beschäftigt: Ich trage jetzt auch Maske und muss sagen - ich sehe wirklich gut damit aus! Ein bisschen Hannibal Lecter, ein bisschen Fetish-Porn. Jedenfalls deutlich kleidsamer, als diese quietschengen Lauftights, in denen sich vor allem ältliche Männer in der Öffentlichkeit zeigen.
      Wenn Sie in diesen seltsamen Tagen nicht nur fürs Laufen, sondern auch fürs Lesen etwas Zeit erübrigen können, lesen Sie bitte nicht draußen! Das ist bußgeldbewehrt und bringt Ärger mit der Polizei! Sport unter freiem Himmel ist erlaubt, Lesen unter freiem Himmel verboten - das klingt nach einem perfiden Einfall aus einem dystopischen Roman von Juli Zeh...

 

Coco Butternut Ob's an Corona liegt, wissen wir nicht, aber Joe R. Lansdales Coco Butternut, ein neuer Auftritt der Texas-Krawallos Hap Collins und Leonard Pine, der im April im Golkonda-Verlag erscheinen sollte, kommt doch nicht. Quel dommage - ein bißchen Haudrauf hätte jetzt gut getan! Überhaupt ist der Erscheinungstermin vieler Titel verschoben, aber das verbliebene Angebot reicht locker, um mit spannenden Texten auch eine längere Zeit der sozialen Isolation zu überstehen.
      Late Show Da ist z.B. neuer Stoff von Michael Connelly: Late Show (Kampa Verlag, aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb) präsentiert mit Detective Renée Ballard eine neue Serienfigur (die in zwei weiteren Romanen an der Seite Harry Boschs ermittelt). Ballard hat ihren Vorgesetzten der sexuellen Nötigung beschuldigt und wurde daraufhin in die Nachtschicht - die titelgebende "Late Show" - abgeschoben. Die Late Show ist verhasst, denn die Nacht-Cops reichen morgens ihre Fälle an die Tagesschicht weiter und kommen selbst kaum zum Ermitteln. Doch statt tagsüber die Sonne am Venice Beach zu genießen, ermittelt Ballard nach Schichtende auf eigene Faust, und das in gleich mehreren Fällen: Das Spektrum reicht von harmloseren Delikten, wie Einbruch und Kartenbetrug, über eine üble Prügel-Atacke auf eine Transsexuelle bis zu einer Club-Schießerei mit fünf Toten. Ein realistischer Polizei-Roman, der den Leser auch ins undurchdringliche Dickicht bürokratischer Prozesse führt. Michael Connelly schippert mit der »Late Show« nicht im Fahrwasser der #metoo-Debatte: Die amerikanische Originalversion erschien im Sommer 2017 - ein paar Monate, bevor die Anschuldigungen gegen Harvey Weinstein erhoben wurden.

 

Die man nicht sieht Schon 2018 war im Wagenbach-Verlag ein schlanker Roman aus Argentinien erschienen, den wir seinerzeit übersehen haben: Die man nicht sieht von Lucía Puenzo, der jetzt druckfrisch als Taschenbuch vorliegt (Deutsch von Anja Lutter). Der Roman erzählt von einer Kinder-Einbrecherbande aus Once, einem Vorort von Buenos Aires, die so unauffällig vorgeht, dass die Bestohlenen den Verlust ihrer Wertgegenstände erst nach Wochen bemerken. Angeleitet werden die kleinen Latino-Strolche von einem Sicherheitsmann, der geeignete Objekte für die Raubzüge auswählt, sie mit Hinweisen versorgt und Abnehmer des Diebesguts ist. Ein Spezial-Auftrag führt die Kids an die mondäne uruguayische Küste, wo sie innerhalb kurzer Zeit gleich neun Luxusvillen leerräumen sollen. Natürlich stinkt die Angelegenheit gewaltig, da es aber ums nackte Überleben geht, bleibt dem kleinen Räubertrio keine Wahl. Mit "sozialer Tiefenschärfe", so der Vorschautext, schaut die Autorin Lucía Puenzo auf das Schicksal der Straßenkinder, und die FAZ attestiert eine "starke, bewegende, harte, spannende gutgeschriebene Geschichte.". Prima, da schauen wir gerne rein!

 

Die Detektive vom Bhoot-Basar Ebenfalls um drei Kinder geht's im Roman Die Detektive vom Bhoot-Basar, dem Debüt-Roman der Inderin Deepa Anappara (Rowohlt, aus dem Englischen von pociao und Roberto de Hollanda). Der Roman, so der Rowohlt Verlag "erzählt von den Farben und Widersprüchen des heutigen Indien, von sozialen und religiösen Spannungen, Korruption und Ungerechtigkeit, vor allem aber von der unbesiegbaren Vitalität dreier Kinder, von deren Wagemut, Unschuld und überbordender Phantasie.". Klingt doch gut!
      Die Geschichte: Der neunjährige Jai lebt in den Slums einer nichtbenannten indischen Stadt und schaut gerne Polizei-Dokus. Als ein Klassenkamerad verschwindet, brennt er darauf, seine Fernseh-Kenntnisse zu nutzen. Mit den Freunden Pari und Faiz, von Jai zu seinen Assisten erkoren, macht er sich auf die Suche. Doch Detektivarbeit ist kein Kinderspiel, und was als naiver Spaß beginnt, wird bald bitterer Ernst. Weitere Kinder verschwinden, und Jai führt seine Freunde - und den Leser - in die dunklen und gefährlichsten Gegenden der indischen Großstadt.
      Die Autorin Deepa Anappara kennt die Hintergründe ihres Romans genau: Als Journalistin in Dehli und Mumbai hat sie über Kinder in Armut- und Gewaltverhältnissen geschrieben. Ihr Roman »Die Detektive vom Bhoot-Basar« basiert auf wahren Begebenheiten und wurde schon vor dem Erscheinen der Originalfassung im Sausetempo in diverse Sprachen übersetzt. Wir sehen einem "literarisches Debüt von besonderer emotionaler Tiefe", wie der Rowohlt-Verlag verspricht, erwartungsfroh entgegen!

 

Unschuldige Täter Neues auch aus Japan von Keigo Higashino, einem mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Autor (wenn ich's richtig sehe, war Higashino als bisher einziger asiatischer Autor für einen Edgar-Award nominiert): Unschuldige Täter (Tropen Verlag, übersetzt von Ursula Gräfe) heisst der Krimi aus dem Fernen Osten. Der Roman ist nach »Heilige Mörderin« und »Verdächtige Geliebte« der dritte mit dem Physikprofessor Yukawa, genannt "Kommissar Galileo". Yukawa ist eine Art kriminalistisches Superhirn, ein japanischer Sherlock Holmes, der mit scharfem Verstand die perfidesten Verbrechen durch bloße Logik löst. Im neuen Roman geht es um einen mörderischen Wettstreit um die Bodenschätze des Meeres und ein streng gehütetes Familiengeheimnis. Keigo Higashino war vor seiner schriftstellerischen Karriere Ingenieur für Elektrotechnik und schreibt eisig strukturierte Kriminalromane, die mit Sudoku-Rätseln verglichen wurden - Stoff für Leser, die sich an kombinatorischen Volten und Pirouetten erfreuen.

 

Die Lieblinge der Justiz Was ist das? Juri Andruchowytsch: Die Lieblinge der Justiz (Suhrkamp, Deutsch von Sabine Stöhr). Ein "Parahistorischer Roman in achteinhalb Kapiteln", steht da auf dem Cover. Holla - das macht neugierig! Andruchowytsch stammt aus der Ukraine, dem immerhin zweitgrößten Land Europas, das man aber nie so richtig auf dem Schirm hat - politisch nicht, kulturell vielleicht noch weniger. »Die Lieblinge der Justiz« ist ein Episodenroman, der einen Bogen spannt vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart, und historisch-philosophische Betrachtung von Verbrechen und Justiz. In schillernden Farben - und, wie wir der Leseprobe entnehmen, mit Humor - erzählt Andruchowytsch von Agenten und Auftragsmördern, von Gaunern und Banditen, von Mord, Liebe und Verrat: "Samijlo (Samuel) Nemyrytsch", heisst es im ersten Kapitel, "dieser zu früh verdorrte und unglücklich vergessene Spross am Baum unseres nationalen Banditentums, zieht vor allem stilistisch Aufmerksamkeit auf sich, und die außergewöhnliche Schönheit seiner Verbrechen gründet auf absoluter Freiheit.". Das lädt doch ein zum Weiterschmökern... (1)

 

Meine Schwester, die Serienmörderin Schließlich: Meine Schwester, die Serienmörderin von Oyinkan Braithwaite, einer in Nigeria geborenen, weitenteils in der Nähe von London aufgewachsenen jungen Schriftstellerin (Blumenbar Verlag, aus dem Englischen von Yasemin Dinçer). "Zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten" heisst es im Verlagstext. "Ayoola ist das Lieblingskind, unglaublich schön - und sie hat die Angewohnheit, ihre Männer umzubringen.". Blödes Laster, lästig wie das Rauchen! Ayoolas Schwester heisst Korede, ist Krankenschwester von Beruf, und versteht sich aufs Aufräumen - hier also Kadaver entsorgen und Spuren verwischen. Etwas angespannt gestaltet sich das Verhältnis der beiden, als sich ein gut aussehender Arzt, auf den eigentlich Korede ein Auge geworfen hatte, in das mordende Biest Ayoola verliebt. Wie das wohl enden mag? Die New York Times fand das Oyinkan Braithwaites Debüt "schnell und witzig, ironisch und böse funkelnd", der Blumenbar Verlag verspricht einen Text "beiläufig feministisch wie abgründig". Na fein - und wir ergänzen: Barry und Anthony Award für das beste Debüt!

 

Viele weitere Anregungen finden Sie in den Neuerscheinungen April 2020.

 

(1) Das Literaturhaus Berlin hatte Juri Andruchowytsch eingeladen, »Die Lieblinge der Justiz« am 25. März in der Berliner Fasanenstraße vorzustellen. Die Veranstaltung wurde "ins Netz verlegt", wie es auf der Homepage heisst: Ein gut hundertminütiges Gespräch mit dem Ukrainischen Schriftsteller und Essayisten steht online unter https://literaturhaus-berlin.de oder auch bei youtube.

 

© j.c.schmidt, 2020

 

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