kaliber .38 - krimis im internet

 

Krimi-Auslese 08/2001

 

Gottes Gehirn Den modernen Naturwissenschaften verdanken wir eine Fülle perverser Fragen, mit denen wir uns auseinander zu setzen haben. Jüngstes Beispiel ist die Diskussion um die Stammzellenforschung, die den Zeitgenossen mit der etwas merkwürdigen Überlegung konfrontiert: Was darf man mit überzähligen Föten machen oder eben nicht, bevor sie in der Bio-Tonne landen?

Die Diskussion ist nur ein schwacher Abglanz dessen, was uns im 21. Jahrhundert erwarten wird. Überlegen Sie nur kurz die Implikationen einer - prinzipiell machbaren - Gehirn- oder Kopftransplantation. Einen, äh, faszinierenden Ausblick auf diese und weitere Fragen bieten Jens Johler & Olaf-Axel Burow in ihrem Wissenschafts-Thriller "Gottes Gehirn".

In Florida wird der Klimaforscher John Eklund ermordet, dem Nobelpreisträger wurde das Gehirn extrahiert. Kurze Zeit später stirbt in Berlin der Zukunftsforscher Ralph Kranich im Anschluss an einen Vortrag. Bei den Recherchen zu den beiden Todesfällen stößt Richard Troller, Leiter des Wissenschaftsressorts beim Magazin Fazit, auf eine Reihe mysteriöser Unfälle, bei denen weitere Wissenschaftler ums Leben kamen. Sie alle hatten 1995 an einer Konferenz teilgenommen, die augenscheinlich ein ehrenwertes Ziel verfolgte: die Bündelung interdisziplinären Wissens zur Überwindung der wichtigsten Probleme der Menschheit - der Kriegsgefahr, der ökoligischen Bedrohung und der Überbevölkerung.

Richard Troller und die Kriminalreporterin Jane Anderson, genannt »Calamity Jane«, reisen in die USA, um andere Teilnehmer der Konferenz zu befragen. Ihren Trip tarnen sie als Interview-Reise, aus der eine journalistische Serie über die Aussichten der Wissenschaft im neuen Jahrtausend entstehen soll. Dabei stoßen Troller und Anderson auf ein gigantisches Projekt, in dem die Vereinheitlichung des Wissens viel konkretere Formen annimmt, als die beiden Journalisten es sich je hätten vorstellen können.

Erleben wir einen Übergang vom Terror der Ökonomie zum Terror der Wissenschaft als Kennzeichen im neuen Jahrhundert? Johler & Burow entführen ihre Leser in das Gruselkabinett moderner Möglichkeiten. Anschaulich referieren die Autoren über gegenwärtige Transplantionstechniken, über das Klonen, Künstliche Intelligenz, Astrophysik und weitere spannende wissenschaftliche Felder, die emsig mit dem immer wiederkehrenden Argument bestellt werden, die Natur sei unvollkommen:

»'Sehen Sie,(....) das Gehirn enthält alles, was den Menschen ausmacht, Wissen und Hoffen, Liebe und Hass. Ein Apparat zum Denken und Fühlen. Milliarden Nervenzellen sind darin auf äußerst komplizierte Weise miteinander verknüpft. Ein paar Millionen Jahre hat die Natur für dieses Spitzenprodukt gebraucht. Ein bewundernswertes Ding, aber troztdem höchst unvollkommen. Wir brauchen etwas Besseres.«

Die Autoren unterlegen ihren Thriller mit einer ganz eigenwilligen Atmosphäre: Menschen und Tiere verhalten sich merkwürdig, das Licht scheint verändert, und es ist ein seltsames Geräusch zu hören - eine neue Melodie, die dissonant aber auch interessant klingt, so als schwinge die Welt in einer neuen Frequenz.
"Nada Brahma, die Welt ist Klang."

Der Science-Thriller ist in Deutschland eine weitgehend unbearbeitete Sparte. Das ist gut so, denn nur wenige Versuche erträgt man länger als dreißig Seiten. Anders jedoch "Gottes Gehirn" - Johler und Burow ist ein spannender und fundierter Thriller geglückt. Nur schade, dass die beiden Hauptfiguren seltsam unberührt durch das erschreckende Szenario wandeln. Auch hätt' der Schluss gern etwas weniger esoterisch sein können.

Jens Johler & Olaf-Axel Burow: Gottes Gehirn. Roman. Hamburg, Wien: Europa Verlag, 2001, gebunden mit Schutzumschlag, 320 S., 38.50 DM, 19.90 Euro (D)

 

Die Tränen des Teufels Der Digger ist los.
Der Digger ist ein menschlicher Automat, der seine Anweisungen abspult wie ein Rechner sein Programm. Und das Programm schreibt dem Digger vor, alle vier Stunden mit einer schallgedämpften Uzi auf öffentlichen Plätzen um sich zu ballern. Schon der erste Anschlag in einer Washingtoner U-Bahnstation fordert 37 Menschenleben.
Alle vier Stunden.
Bis "der Mann, der ihm alles sagt", ihn zurückpfeift.

Bürgermeister Kennedy will umgehend die 20 Millionen Dollar Lösegeld zahlen, die in einem Bekennerschreiben gefordert werden. Das Geld wird bereitgestellt, doch der Erpresser erscheint nicht zur verabredeten Übergabe - weil er mittlerweile bei einem Unfall mit Fahrerflucht getötet wurde. Der Mann, der dem Digger alles sagt, ist tot - wer kann den Digger aufhalten?

Die FBI-Agentin Margaret Lukas leitet die Ermittlungen. Ihr einziger Anhaltspunkt ist das merkwürdig formulierte Erpresserschreiben. Lukas wendet sich an Parker Kincaid, ehemaliger Leiter der Urkundenabteilung des FBI. Kincaid gilt als der beste Handschriftenexpere des Landes. Nach seiner Scheidung und dem Zuspruch des Sorgerechts für die Kinder hatte er das FBI verlassen und überprüft als privater Dokumentenexperte vornehmlich die Authentizität historischer Dokumente.

Jeffery Deavers Roman "Die Tränen des Teufels" ist ein perfides Katz- und Mausspiel bis zum fulminanten Finale, in dem Deaver seine brilliant geplottete Geschichte nochmal auf den Kopf stellt. Glaubwürdig auf den Kopf stellt. Dass Deaver in die erste Reihe der Kriminalliteratur gehört, hat er nicht zuletzt mit seiner Serie um den gelähmten Ermittler Lincoln Rhyme und dessen Assistentin Amelia Sachs bewiesen (die übrigens einen kurzen Auftritt in "Die Tränen des Teufels" haben). Auch dieser stand-alone bestätigt Deavers Rang.

Stand-alone? Nun, dass Ende schreit nach einer Fortsetzung, und die werden wir uns mit Sicherheit nicht entgehen lassen. Darin allerdings liegt auch die Crux des Textes: Deaver schreibt mit kommerziellem Kalkül. Seine Figuren schwimmen so weit im Mainstream, dass sie - film- und fernsehgerecht - blass bleiben. Zwar gibt Deaver seinen Figuren eine Geschichte, aber eine Polizistin, die Mann und Kind bei einem Flugzeugabsturz verlor, kennen wir. Einen alleinerziehenden Vater, der in ständiger Angst um das Sorgerecht seiner Kinder lebt, kennen wir auch.

Ein bißchen weniger nach Hollywood geschielt, und der Roman hätte ein ganz großer Wurf werden können. Sei's drum - die Geschichte ist einfach prima konstruiert.

Jeffery Deaver: Die Tränen des Teufels. (The Devil's Teardrop). Roman. Aus dem Amerikanischen von Gerald Jung. Deutsche Erstausgabe. München: Goldmann Taschenbuch Verlag, 2001, 400 S., 17.00 DM, 8.50 Euro (D)

 

Die Wege des Todes Ordentlich gemacht, wenn auch weitgehend belanglos ist der Roman "Wege des Todes" der Dänin Kirsten Holst:

Carl Bruun junior, ein Luftikus und Tunichtgut, hat durch seine geschäftliche Inkompetenz bereits das väterliche Vermögen beträchtlich geschmälert, als der Vater ihm die Leitung der Firma anvertraute. Von einer Krebserkrankung schwer gezeichnet, eröffnet Carl Friedrich senior dem missratenen Filius, dieser werde von dem Erbe nur eine Hälfte bekommen - die andere Hälfte ginge an die Halbschwester Karen, von deren Existenz Carl junior bis dahin nichts wusste.

L.O. Beck ist Privatdetektiv und mag seine Arbeit, weil sie seiner natürlichen Faulheit entgegenkommt.

"L.O. Beck liebte es, sich als dänischen Philip Marlowe der Achtzigerjahre zu sehen. Vor zehn Jahren war er der Philip Marlowe der Siebziger gewesen und davor ... nein, soweit mochte er nicht denken.
Der Whisky in der untersten Schreibtischschublade gehörte mit ins Bild."

Anonym erhält L.O. Beck den Auftrag, Karen Jansen zu finden und dann näher kennen zu lernen. Als Karen Jansen nach einer fingierten Verabredung mit dem Privatermittler von der Bildfläche verschwindet, beginnt sich Beck für seinen Fall stärker zu interessieren.
Und für seinen anonymen Auftraggeber.

Der pensionierte Kriminalassistent Niels Hoyer weiß mit seiner Freizeit nichts anzufangen. Auf Drängen seiner Frau nimmt er die Ahnenforschung wieder auf, die sein Onkel abbrach, als dieser auf eine "schreckliche Untat" in der Familie stieß, die sich im Jahr 1797 ereignet hatte. Hoyers Recherche in eigener Sache führt ihn nach Jütland, wo sich auch das Sommerhaus der Bruuns befindet. Nach einem unverfänglichen Gespräch in der Dorfkneipe wird Hoyer nachts auf dem Heimweg überfallen und niedergeschlagen. Nur bruchstückhaft kehrt seine Erinnerung wieder zurück.

Kirsten Holst verbindet in ihrem Roman "Wege des Todes" drei Kriminalfälle, die nebeneinander stehen und nur bedingt miteinander zu tun haben. Die Geschichte ist ordentlich aufgebaut und ansprechend geschrieben. Wie viele Kriminalautoren aus Skandinavien leidet auch das Buch von Kirsten Holst an einer gewissen Betulichkeit - letztlich kommt nicht mehr Spannung auf als in einer Derrick-Episode.

Kirsten Holst: Wege des Todes. (Dodens dunkle veje). Aus dem Dänischen von Hanne Hammer. Deutsche Erstausgabe. Dortmund: Grafit Verlag, 2001 (Krimi International), 219 S., 8.40 Euro (D), 16.43 DM

 

Blutprinzessin Ein ganz herber Verlust für die Kriminalliteratur ist der frühe Tod des Franzosen Jean-Patrick Manchette. Anfang der 90er Jahre plante Manchette nach einer langjährigen Schaffenspause, in der er keine Kriminalromane mehr schrieb, einen ganzen Roman-Zyklus um reale politische Ereignisse. "Die Menschen in schweren Zeiten" hatte er seinen Zyklus überschrieben. Manchette verstarb 1993 und konnte nicht einmal den ersten Roman fertig stellen. "Blutprinzessin" - so lautet der Titel des Fragments, das vor kurzem im Distel Literatur Verlag erschien. In düsteren Tönen erzählt Manchette eine grandiose Geschichte, an deren Anfang die blutrünstige Entführung des Mädchens Alba Black im Jahr 1950 steht, der Nichte eines international agierenden Waffenhändlers.

Ivory Pearl heisst eigentlich Marie. Sie ist an Krieg und Gewalt gewöhnt, seit das Waisenkind im zweiten Weltkrieg mit britischen Soldaten durch Deutschland zog. 1945 kommt Ivy nach Berlin und trifft den englischen Offizier Samuel Farakhan. Farakhan nimmt sich des Mädchens in väterlicher Freundschaft an und finanziert ihr eine Ausbildung in der Schweiz. Ivory wird Fotografin und zieht - gleich ihrem berühmten Vorbild Robert Capa - durch die Kriegs- und Krisengebiete dieser Welt:

"'Seit gestern abend bin ich ununterbrochen betrunken. (...) Verdammter Mist! Die berühmte Ivory Pearl! Die Fotografin, die in die beschissensten Ecken fährt, wo sich kein Kerl hintraut. Die weibliche Robert Capa. Ich schaff das nicht, Sam. Die Reportagen sind eigentlich nicht so aufreibend. Obwohl, ist ja einiges zusammengekommen seit 1950! Dreimal Indochina. Kenia mitten im Mau-Mau-Aufstand. Tibet. Die Philippinen. Der Aufstand in Ost-Berlin 1953. Was noch?'"

Die ausgebrannte Fotografin beschließt, ein Jahr Pause zu machen und sich an einen abgeschiedenen Ort zurückzuziehen. Statt der Schrecken dieser Welt möchte sie Pflanzen und Tiere fotografieren. Samuel Farakhan, der eine nicht ganz freiwillige Beziehung zum französischen Geheimdienst unterhält, überzeugt Ivy, die Sierra Maestra auf Kuba sei genau der geeignete Ort für ihr Vorhaben. Doch schon bald nach ihrer Ankunft in der Sierra muss Ivy feststellen, dass sie nicht so alleine ist, wie sie es gewollt hatte: Ivory trifft auf ein verwahrlostes Mädchen, das sie als Alba Black wiederzuerkennen glaubt - der Nichte des Waffenhändlers, die 1950 entführt worden war.

"Blutprinzessin" ist ein großartiges Schachspiel, in dem nicht immer klar ist, wer welche Figur wohin schiebt. Folgt man den Erläuterungen im Anhang, enthält das Fragment allenfalls die Hälfte dessen, was Manchette erzählen wollte. Keiner liest gerne Geschichten, die mittendrin aufhören. Dennoch möchte ich Ihnen das Buch mit Nachdruck ans Herz legen: Die Fotografin Ivory Pearl ist eine der ausgefallensten Frauenfiguren in der Kriminalliteratur überhaupt. Und Manchette erzählt auf so eigentümliche Weise, dass es nach der abrupt endenden Lektüre eine Weile dauert, bis man wieder im Hier und Jetzt auftaucht.

Ein erstklassiger, finsterer Politthriller, durch den nicht nur die politschen Ereignisse des Jahres 1956 schimmern - etwa Ungarn, Algerien und Kuba-, sondern das weltweite Chaos der Nachkriegszeit. Ein Roman, der nicht minder berührt als die Fotos von Robert Capa.

Jean-Patrick Manchette: Blutprinzessin. (La Princess du sang, 1996). Aus dem Französischen von Christina Mansfeld. Mit einem Nachwort von Doug Headline. Deutsche Erstausgabe. Heilbronn: Distel Literatur Verlag, 2001 (Série Noire), 200 S., 18.00 DM, 9.50 Euro (D)

 

American Skin Working-class fiction hat in den USA einen schweren Stand. Vor allem weiße working-class fiction. Buddy Giovinazzo etwa findet für seinen fulminanten Roman "Broken Street" keinen amerikanischen Verleger. Ähnlich erging es Don De Grazia, der für seinen Roman "American Skin" auch keinen US-Verlag finden konnte. Nach diversen Absagen kratzte De Grazia sein letztes Geld zusammen, und schickte das Manuskript in einem letzten, verzweifelten Versuch nach London zu Jonathan Cape. Cape sei Dank - aus dem Manuskript wurde ein Buch.
Ein gutes Buch.
(Das später dann auch bei Scribner's in New York erschien.)

Der siebzehnjährig Alex Verdi lebt allein in Chicago. Tagsüber arbeitet er als Entschmierer in einer stinkenden Galvanisierungsfabrik, die trostlosen Nächte verbringt er in einem Zimmer beim YMCA. Alex' Familie ist zerrissen: Nach einer Drogenrazzia landen seine Eltern im Gefängnis, seine jüngere Schwester ist in einem Kinderheim. So glaubt Alex jedenfalls, denn aus Angst, gegen ihn selbst bestehe ein Haftbefehl, traut er sich nicht, das Schicksal seiner Familie genauer zu erforschen.

Bei einem handgreiflichen Streit in der U-Bahn lernt Alex den Skinhead Timmy Penn kennen. Timmy und seine Gang sind mitnichten gleichzusetzen mit den Glatzköpfen die hierzulande das Bild prägen - Timmys Gang ist ein multikultureller Haufen, stolz auf ihre proletarische Herkunft, und haben nichts mit der Nazi-Ideologie zu tun. Im Gegenteil: Die erklärten Gegner sind Frank Pritzger und seine »Swazis«, wie die Nazi-Skins genannt werden.

Alex zieht zu Timmy und seiner Skin-Gang, die den Musikclub "The Gorgon" betreiben und dort auch zusammen wohnen. Alex' Kopf wird rasiert und er wird Schritt für Schritt in die subkulturelle Welt der Skins eingeführt. Schließlich verliebt sich Alex in das schwarze Skin-Mädchen Marie.

"American Skin" ist ein bewegender Entwicklungsroman. De Grazia erzählt die Odyssee eines auf sich allein gestellten Halbwüchsigen, der in die Rituale der Skinheads eingeweiht wird und dabei eine Welt kennenlernt, die einerseits Gewalt, andererseits Geborgenheit bietet. Um nach einer Schlägerei einer drohenden Haftstrafe zu entgehen, melden sich Timmy und Alex freiwillig für die Armee - das letzte Sammelbecken der Unterpreveligierten. Nach der Ausbildung trennen sich die Wege von Timmy und Alex, denn Alex will an einem College studieren. Doch ein weiterer Gewaltausbruch befördert Alex in ein Hochsicherheitsgefängnis, in dem er auf seinen alten Kumpel Timmy Penn wiedertrifft. Und auf den »Swazi«-Führer Frank Pritzger.

"American Skin" ist ein kraftvoller Roman, der von den Initiationsriten der weißen Upperclass erzählt - guter Stoff, harter Stoff, sinnlich aufbereitet.

Don de Grazia: American Skin. (American Skin). Roman. Aus dem Amerikanischen von Teja Schwaner. Deutsche Erstausgabe. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 2001, 336 S., 17.90 DM, 8.95 Euro (D)

 

© j.c.schmidt, 2001

 

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