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Leichenberg 04/2017

 

Der erste Stein

Der erste Stein von Carsten Jensen (Knaus) beginnt wie Kriegsroman aus Afghanistan. Erzählt wird vom Schicksal eines dänischen Nato-Kontigents, irgendwo in der Wüstenei der Provinz Kandahar. Der 3. Zug ist in einem vorgeschobenen Camp basiert, von dort aus werden Patrouillen gefahren, es herrscht die übliche Langeweile, punktiert von Momenten der plötzlichen Lebensgefahr, Gewalt und Tod, in einer unsicheren und vor allem völlig undurchsichtigen Gesamtlage. Wer ist Freund, wer ist Feind? Wer gehört zu den Taliban? Wer ist Warlord? Wer ist einfach nur Bauer oder Händler? Wie sehen die jeweiligen Konstellationen und fragilen Bündnisse aus, die noch vor Tagen anders aufgestellt waren? Was treiben die Spezialeinheiten der USA? Was die Söldner-Firmen? Wer hat welche Interessen? Aber noch scheint die Welt in Ordnung, was immer Ordnung im Chaos eines absurden Krieges bedeuten mag. Der 3. Zug hat seinen internen gruppendynamischen Problemen, der Kommandeur denkt, er sei clever und verstehe, wie Land und Leute ticken, wann man verhandeln, wann man den starken Mann geben muss. Schließlich hat man die überlegene Feuerkraft, die hochgezüchtete Kriegstechnologie. Und dann bricht die Welt dieses 3. Zuges zusammen - radikal. Der Zugführer, ein Oberleutnant namens Rasmus Schrøder, verrät seine Leute, die Hälfte von ihnen wird von Afghanen ermordet, die andere Hälfte verschleppt. Ein Höllentrip beginnt, keine einzige Gewissheit wird ihn überleben. Gleichzeitig beginnt ein dänischer Geheimagent paschtunischer Herkunft, nach den verschwunden Soldaten zu suchen und eine us-amerikanische Drohne gerät außer Kontrolle. Ist Schrøder nur ein Verräter? Welche Strippen werden wo und von wem in welcher Absicht gezogen? Und so wird aus dem Kriegsroman nach und nach ein böser Polit-Thriller, dessen Ränkezüge so ziemlich alles übertreffen, was man selbst in diesem Genre je gelesen hat. Der Roman entwickelt nach und nach einen Sog ins wahrhaft Ungeheure, an dessen Realitätstüchtigkeit man allerdings keine Sekunde Zweifel hat. Und dann gesellt sich noch eine dritte Dimension dazu: Es geht ganz seriöserweise um Menschheitsfragen. Nicht nur um Loyalität und Verrat oder um Identität, sondern auch um Virtualität und Wirklichkeit, um Bestimmung und Kontingenz, um Tradition und Moderne, um Konzepte von Zivilisation und Barbarei. Vor allem Barbarei - denn Jensens Schilderungen der Kriegsrealitäten sind gnadenlos, wie überhaupt der ganze Roman auch alle körperlichen Implikationen - von der Verdauung bis zur Menstruation der Soldatinnen - der jeweiligen Situationen mitbedenkt. Dass Krieg toxisch ist, wissen wir. Wie toxisch er sein kann, was er für Menschen bedeutet, was überhaupt leben, sterben und überleben bedeutet, dafür findet Jensen unfassliche Bilder und Szenen. Radikal auch die Schicksale, die er seinen Figuren angedeihen lässt, die physischen und psychischen Qualen, denen er sie aussetzt. 638 Seiten Terror, der alle verändert. Und der unseren Blick auf Afghanistan nochmal verändert, unsere Einschätzungen brüchig werden lässt, und der die ganz konkreten Folgen einer zynischen und zutiefst heuchlerischen Politik mit deren Konsequenzen für Menschen - Afghanen und Dänen gleichermaßen - konfrontiert. Ohne Versöhnlichkeit, ohne Hoffnung, ohne Ausweg. Der erste Stein ist längst geworfen, jegliche Transzendenz bietet keinen Trost, die Archaik des Landes scheint unüberwindbar, aber auch das ist nicht wirklich ein Grund für Optimismus. »Der erste Stein« ist auch deswegen ein großes Stück Literatur, weil Jensen seine genauen Recherchen tatsächlich in den Text einfließen lässt, sie zum organischen Teil der Handlung macht und nicht um Fakten herum eine dürre Handlung baut, die uns "etwas über Afghanistan" erzählen will. Der Roman erzählt in sehr klarer Prosa, ruppigen Dialogen, extrem grausamen und dann wieder rührenden Szenen in ultrazynischen und empathischen Passagen sowie grandiosen Landschafts- und Himmelsbildern von Menschen und ihren Lebensumständen und von den Folgen von Politik. Ein Polit-Thriller ohne Genre-Klischees und sicher eine neue Qualität von Polit-Thriller, der Maßstäbe setzen wird. Ohne wenn und aber: Ein wirkliches Meisterwerk.

Das alte Böse

Wie eine Gauner-Komödie unter älteren Menschen beginnt Das alte Böse des Briten Nicholas Searle (Kindler). Der über 80jährige Roy ist darauf spezialisiert, per Internet-Dating einsame alte Damen auszuplündern, und so gerät er an Betty. Und die, so ahnen wir, scheint den Spieß umzudrehen. Je mehr wir aber von Roy und Betty erfahren, desto undurchsichtiger wird die Angelegenheit. Wir tauchen in die unappetitliche Biographie von Roy ein und die führt zunächst ins Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und nachdem Searle immer mehr Zweifel an der Identität seiner Figuren sät, gelangen wir an den Ursprung der Geschichte in der Nazi-Zeit. Roy ist nicht Roy und Betty nicht Betty. Die Drehung des Romans ist atemberaubend gut, sehr intelligent gemacht und läuft am Ende dann doch nicht ganz so, wie man es ein zweites Mal ahnen wollte. Das ist, trotz der herzzerreißenden Wendung, sehr vergnüglich und raffiniert gemacht. Komödie und Tragödie siedeln nah beieinander, Searle handhabt diese Balance meisterhaft und sehr spannend. Ein brillanter Erstling, jenseits aller Schubladen.

Suff und Sühne

Einer der originellsten Autoren von Kriminalliteratur und damit von Literatur überhaupt kommt aus Haiti: Gary Victor, dessen drittes Buch um den dem Alkohol verfallenen Inspecteur Dieuswalwe Azémar plausibel Suff und Sühne (Litradukt) heißt. Azémar erträgt die verrotteten Zustände seines Landes nur im Suff und leidet wie ein Tier darunter, dass er Menschen umbringen muss, um zumindest einen Hauch von Gerechtigkeit herzustellen. Als er von seinen Vorgesetzten gezwungen wird, eine Entziehungskur zu machen - was uns grandiose Visionen und Halluzinationen beschert, reihenweise ekliges Viehzeug, was auch ein bisschen an die Suff-Sequenzen in Melvilles "Vier im Roten Kreis" erinnert - fällt ihm die Vergangenheit auf die Füße: Er hatte im Suff einen brasilianische Blauhelm-General erschossen (auf Haiti war ein brasilianisches UN-Kontingent stationiert) und kann sich daran partout nicht mehr erinnern. Außerdem wurde gerade der Sprössling einer der Plutokraten-Familien entführt, die Haiti permanent ausplündern. Im Verdacht steht ein Gangster, der sich passenderweise Raskolnikow nennt und auch eine Geschichte mit Azémar hat. Nüchtern kommt der Inspecteur mit all dem nicht klar, zumal auch seine geliebte Adoptivtochter entführt wird. Wieder muss er töten. Victor verwirbelt die Realitätseben bis zum Surrealismus, bleibt dabei aber stets angriffslustig, satirisch, sarkastisch und vor allem ungeheuer komisch. Auf bizarre Zustände reagiert er mit einem bizarren Szenario, dass deswegen die Realitäten umso genauer trifft. Das hat weltliterarisches Niveau und dass Gary Victor immer wieder Chester Himes als Einfluss nennt, ist keineswegs zufällig.

Geld ist nicht genug

Auch Subgenres können eine Art Mainstream bilden. Gangster-Romane à la Donald E. Westlake haben Einfluss bis nach Australien, zu Garry Disher etwa. Auch der Amerikaner Wallace Stroby gehört mit seinen Büchern um die Räuberin Crissa Stone deutlich in diese Tradition, auch wenn seine Heldin eben eine Frau ist. Das allerdings ist in unseren Zeiten und immerhin über fünfzig Jahre nach Modesty Blaise kein besonders starkes Alleinstellungsmerkmal mehr, zumal es keine irgendwie ästhetischen oder sonstwie konzeptionelle Konsequenzen hat. Dennoch ist Strobys Geld ist nicht genug (Pendragon) sehr schön gelungen. Das liegt vor allem an der Geschichte: 1978 wurde bei der Lufthansa in New York ca. 20 Millionen Euro in Cash und Juwelen geraubt. Der Coup wurde weltberühmt und fand seinen Niederschlag unter anderem in Martin Scorceses Meistwerk "Good Fellas". Stroby geht nun davon aus, dass ein beträchtlicher Anteil des Geldes nie gefunden wurde, alles Wissenswerte zu diesem Kontext findet sich in dem Nachwort von Alf Mayer. Crissa Stone nimmt die Witterung auf, ein paar abgewrackte Alt-Mafiosi, die damals eher am Rande beteiligt waren, allerdings auch. Die Jagd nach der Kohle wird robust und blutig und vor allem richtig altmodisch spannend. Stroby erzählt geradlinig wie ein Strich, keine Mätzchen, keine Schnörkel, kein Kunstverdacht. Man könnte das schon fast puristisch nennen oder retro. In diesem Fall ist das die ideale Lösung, unterhaltsam, intelligent, mit Tempo, Drive, Action und knappen Dialogen. Ein Genre-Kondensat, das nur Spaß macht.

 

© Thomas Wörtche, 2017

 

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