Können schlechte Romane gute Bücher sein? Daniel Suarez' Kill Decision (rororo) ist so ein rarer Fall. Als Roman, ästhetisch betrachtet, total belanglos, hölzern, steif und standardisiert, eine Nullnummer, aber spannend und, wie es so schön heißt: brisant. Es geht um Drohnen, um Drohnenkriegsführung, um künstliche und um Schwarm-Intelligenz, um die Möglichkeiten, automatisierter und totaler Überwachung, um die strukturellen Voraussetzungen folgenlosen (im juristischen und politischen Sinn) und willkürlichen Tötens von Individuen, um die Giga-Profite, um globalisierte Kontrolle. Alles sehr bedrohliche, sehr reale, aber auch sehr abstrakte Szenarien, die Suarez durch Action-Handlung begreifbar macht. Eine Ameisenforscherin und ein undurchsichtiger Special-Forces-Typ namens Odin nebst seinen hightechmässig aufgebratzelten Raben Hugin und Munin legen sich mit allerlei fliegendem und fräsendem Killergerät (meine Lieblinge sind schiffezersägende Billigdrohnenschwärme) und deren Hintermännern und Dunkelfrauen an. Es knallt, zischt und schreddert zum großen Vergnügen literarischer Grobmotoriker; und es nimmt einem den Atem, wenn man bedenkt, wie viel davon nicht Science Fiction ist, sondern immer weiter unbemerkt in unsere Lebenswelt einsickert.
Dagegen sind die üblichen Verbrecher nette Gesellen. Stoffe für gute Romane liefern sie allemal - so wie für Vins Gallicos Respekt (Assoziation A), ein Buch, das vermutlich aus Marketing-Gründen den Untertitel "Ein 'Ndrangheta-Krimi" trägt. Besagte 'Ndrangheta ist die lokale Struktur organisierten Verbrechens in Kalabrien. Dort spielt der großartige Roman, der ohne sensationelle Makrokriminalität auskommt, sondern davon erzählt, wie tief sich "das Verbrechen" in das Alltagsleben der Menschen eingegraben hat und alles bestimmt. Morde, Brandstiftungen, Subventionen, Prozente an allen Geschäften und eben ein kitschig-ernsthaftes Verhältnis zu "Respekt", als nicht ganz freiwillig gewährte soziale Kategorie, bestimmen das Buch, deren Heldin nicht umsonst eine Journalistin in den Berlusconi-Jahren ist. Konkret, geerdet. Feines Buch.
Organisiertes Verbrechen auch im UK, in Brighton. Zwei lokale Organisationen bekämpfen sich aufs Messer, dahinter stehen russische und albanische Interessen. Aber recht eigentlich geht es in Mark Petersons Flesh & Blood (rororo) um die Polizei, die solche Aktivitäten unterbinden soll. Der Debutroman gehört in die große Tradition von Polizeiromanen, die dieser Institution misstrauisch bis skeptisch, also eher unter den Vorzeichen der Realitätstüchtigkeit, gegenüberstehen. Keine wackeren verbrechensaufklärende Inspector Barnabys, Daglishs oder Wexfords, sondern karriegeile, abgewrackte, opportunistische, brotdumme, korrupte, verkommene Bullen und ein paar anständige dazu, machen eher sich selbst als den Gangstern das Leben schwer. Nicht sehr originell oder innovativ, sogar mit ein paar Erstlingsmacken, aber trotzdem prima gemacht. Wir merken uns Mark Peterson.
Beklemmend eine grandiose graphic novel: Mein Freund Dahmer von Derf Backderf (Metrolit) - Backderf war Schulkamerad des berühmten Jeffrey Dahmer und breitet ein Porträt des Serialkillers als junger Mann aus, in zurückhaltenden, aber intensiven Bildern und einem peniblen Anmerkungsapparat. Keine Gräuelszenen - das macht das Projekt in der Tat furchterregend, weil man sofort anfängt, die eigene Umwelt nach leicht gestört wirkenden, linkischen, unbeholfenen und sonst wie rätselhaften Leuten zu scannen. Und wir kennen alle ziemlich viele davon. Backderf zwingt uns ein paar unbehagliche Perspektiven auf.
Neue Perspektiven auf die Welt des Kalten Krieges, die Welt an sich und auf das Handwerk der Spionage warf 1963 John le Carrés erster Welterfolg Der Spion, der aus der Kälte kam. Zum 50jährigen Erscheinungsjubiläum wartet der Ullstein Verlag jetzt mit einer Neuausgabe auf, die auch eine Neuübersetzung ist, über deren Sinn, Zweck und Gelungenheit zu diskutieren wäre. Aber das Buch selbst ist ein extrem haltbarer Klassiker, eine Undercover-Roman über Realitäten und Ideologien, über Loyalität und Verrat und die Abwesenheit moralischer Standards im staatsraisonablen Alltagsgeschäft - also ein aktueller Roman.
In der gleichen Gewichtsklasse wie le Carré spielte Ross Thomas. Die Gesamtausgabe beim Alexander Verlag schreitet erfreulich voran - gerade erschienen Dämmerung in Mac's Place, die melancholische Hymne auf die ideale Bar aller kompetenten Trinker dieser Welt, und gleichzeitig ein fieser, gemeiner Thriller um die beiden Ex-Geheimdienstler McCorkle und Padillo. Nostalgie auf allerhöchstem Niveau.
© Thomas Wörtche, 2013