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Leichenberg 06/2013

 

Leichendieb

Was für ein mieser Molch! Noch nicht mal einen Namen gönnt Patrícia Melo der Hauptfigur ihres neuen Romans Leichendieb (Tropen/Klett-Cotta). Erst fliegt der Typ aus seinem Job als Chef einer Telefondrücker-Truppe in São Paulo raus, weil er eine Mitarbeiterin geschlagen hat, dann wurschtelt er sich so durch am Rio Paraguay, irgendwo im Nichts, im Grenzgebiet zwischen Brasilien und Bolivien (schauen Sie mal auf die Karte!). Plötzlich fällt ein Flieger vom Himmel und unserem Helden vor die Nase, mitten rein in den Fluss. Im Wrack ein toter Pilot und ein Päckchen mit Koks. Der Tote wird im Fluss versenkt, das Kokain verdealt. Und so beginnt eine Kette von widerwärtigen Taten, die Melo maliziös und sarkastisch erzählt. Mit seiner Freundin Sulamita, die die Vorsteherin des örtlichen Leichenschauhauses ist, versucht der namenlose Wicht die reiche Familie des Unglücksfliegers, in deren Dienste er sich mittlerweile geschleimt hat, zu erpressen. Denn die Mutter des Toten, die einzig einigermaßen nette Figur des Romans, möchte Gewissheit über das Schicksal ihres Sohnes und ist bereit, für dessen Leiche, die vermutlich längst von Piranhas gefressen ist, eine Menge Geld zu zahlen. Kein Problem für das saubere Pärchen, siehe den Titel des Buches. Patrícia Melo in Hochform - »Leichendieb« variiert ihr Lieblingsthema: Die Deregulierung aller Moral und die Aufstiegsmöglichkeiten für fiese Charaktere, die eine solches gesellschaftliches Klima befördert. Nicht nur im hintersten Winkel von Brasilien. Großartiger Roman, mit vielen schönen Subtexten von CSI bis Robert Louis Stevenson.

Der Pistoleiro

Noch ein Buch aus Brasilien, was einfach damit zu tun hat, dass Brasilien Gastland der Frankfurter Buchmesse im Oktober sein wird: Der Pistoleiro von Klester Cavalcanti, erschienen bei :TRANSIT in der gewohnt schönen und liebevollen Aufmachung. Das Buch basiert auf langen Gesprächen, die Cavalcanti mit dem Auftragsmörder Júlio Santana geführt hat, der 492 Menschen für "die Obrigkeit" ermordet und sich damit ein auskömmlich kleinbürgerliches Leben gesichert hat. Morden als Weg des gesellschaftlichen Aufstiegs, die berühmte Banalität des Bösen. Das ist durchaus eindrucksvoll erzählt - im Grunde wie ein Roman: Aufstieg, Blütezeit und wohlverdienter Ruhestand eines Killers. Leider gehen die Paratexte des Buches, vor allem das Nachwort, nicht auf den Topos des "Auftragskillers" (des Sicario) in der lateinamerikanischen Literatur ein, noch gibt es einen Hinweis, wie sehr gerade das Thema des sich gleichgültig nach oben mordenden Gehülfen-Typs - und die Perspektive aus dem belly of the beast - seit Rubem Fonsecas »O Cobrador« bis Patrícia Melos »O Matador« die brasilianische Literatur geprägt hat. Insofern hängen der arme Cavalcanti und seine "Reportage" ein bisschen in der Luft, denn neue Aspekte zu einem uralten lateinamerikanischen Thema liefert das Buch nicht, schon gar keine ästhetischen.

Das Fest der Schlangen

Nichts allzu Neues auf der Story-Ebenen bietet Stephen Dobyns' Das Fest der Schlangen (C. Bertelsmann): In einem kleinen Städtchen in Neuengland, diesmal in Rhode Island, ist der Teufel los. Vielleicht sogar buchstäblich. Kojoten marodieren durch die Gegend, Leute werden skalpiert und sonstwie ermordet, Katzen aufgehängt, Babys entwendet, Carl Krause, einer der eindrucksvollsten Irren seit Stephen Kings Jack Torrance, ist knurrend und schnappend hinter Kindern her und es werden die Hinterbeinabdrücke einer sehr großen (!) Ziege gefunden. Smalltown America steht mal wieder vor dem Kollaps. Das alles ist extrem unterhaltsam aufgezogen, aber der wahre Mehrwert liegt im virtuosen Spiel des Erzählers, den Dobyns alles kommentieren lässt: Spöttisch, cool, ironisch und mit uns Lesern spielend wie die Katze mit der Maus. Macht großen Spaß!

Gun Machine

Großen Spaß hatte vor ein paar Jahren, genauer 2009, Warren Ellis' Erstling »Gott schütze Amerika« gemacht, ein bösartig-rasante Satire auf Heuchelei, Doppelmoral und überhaupt amerikanische Werte. Jetzt ist Ellis zurück mit Gun Machine (Heyne) - schon fast ein seriöses Buch mit einer gespenstischen Figur, die sich durchs heutige Manhattan mordet, das aber in der Perspektive des "Jägers" (unter dieser Bezeichnung agiert die Figur) zum Manhattan vor der Besiedlung wird.... Die urbane Stadtlandschaft überschreibt sozusagen wie ein Palimpsest die Naturlandschaft und die wird durch die Augen des Jägers wieder sichtbar. Brillante Idee, leider durch eine störend steife Übersetzung (ein weiblicher Lieutenant, the lieutenant im Original, wird ohne Not zu "die Lieutenant" usw.) ein bisschen beschädigt. Der Roman hat weniger mit "Law & Order" zu tun, wie der Paratext schreit ("blutiger als Law & Order oder CSI"), sondern ist eher ein Exerzitium in schrägen Figuren à la Stuart MacBride. Die Schotten wirken auf die Amis ein, nette Pointe.

Das Sachbuch des Monats: Die Gespräche, die Éric Rohmer und Claude Chabrol mit Hitchcock 1957 geführt haben und die jetzt endlich von Robert Fischer übersetzt und herausgegeben im Alexander Verlag vorliegen. Noch vor Hitchcocks berühmten Interviews mit François Truffaut werden hier seine ersten 45 (!) aufs Feinste analysiert und interpretiert. Muss man zur Kenntnis nehmen, wenn man sich für suspense, Kino und überhaupt das Gemachte von Kunst interessiert.

 

© Thomas Wörtche, 2013

 

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