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Leichenberg 07/2015

 

Little Tulip

Little Tulip (Splitter) heißt der neue gemeinsame Comic von Jerome Charyn und François Boucq. Es ist die dritte (nach »Teufelsmaul« und »Die Frau des Magiers«) und lange erwartete Zusammenarbeit zweier kongenialer Köpfe. "Kleine Tulpe" ist der Ehrenname, den sich der Meistertätowierer Pawel unter den Verbrechern in einem stalinistischen Gulag verdient hatte. Jetzt, 1970, arbeitet er als genialer Phantombild-Zeichner für die New Yorker Polizei, Seine schon fast magischen Künste sind umso mehr gefragt, als eine Serie von Morden die Handschrift ukrainischer Gangster trägt. Seine Gegenwart und seine Zukunft verweben sich über die Kontinente. Im Lager hatte er als Kind das Zeichnen und dann das Tätowieren gelernt, um überleben zu können. Und so springt auch die Handlung zwischen diesen beiden Lebensabschnitten hin und her. Der Mythomane und Visionär Charyn verbindet dabei ein paar seiner Lieblingsthemen: Das Schicksal der osteuropäischen Einwanderer - aus solch einer Familie stammt er selbst -, das unsichtbare, extrem gewalttätige, von ominösen Mächten durchzogene New York, die Beschädigungen, die totalitäre Systeme Menschen antun und die Macht der Kunst. Auf Pawels Körper ist sein ganzes Leben eintätowiert - Ray Bradburys »The Illustrated Man« grüßt deutlich -, und in der ästhetischen Qualität der Zeichnungen steckt pure Magie, die notfalls sogar sehr handgreiflich werden kann. Boucq, der viel von Giraud/Moebius gelernt, aber einen unverkennbaren Personalstil entwickelt hat, setzt die phantasmagorische Story in die passenden Bilder um. Doppelt tricky hier, weil das gezeichnete Buch auch ein Buch über das Zeichnen ist. Daraus keinen Meta-Comic zu machen, sondern in sehr eindrucksvollen Bildern (nicht zu vergessen die Colorierung) die jeweiligen Atmosphären des Lagers, des Moskau der 1930er Jahre (wo das Unglück anfing) und das New York der 1970er einzufangen, dass es den Leser nachgerade anspringt, ist ziemlich genial. Boucqs gequälte und geschundene Leiber, seine Porträts von Tätern und Opfern und vor allem der "gesprenkelten" Charaktere unterstreichen die notwendige Brutalität der Handlung.

54

Ein konzeptionelles Meisterwerk ist auch der Roman 54 von Wu Ming (Assoziation A). 1954 bricht Tito mit der Sowjetunion, die Franzosen kassieren in Vietnam die entscheidende Niederlage bei Dien Bien Phu, aus der Tscheka wird der KGB, der aus den USA exilierte Lucky Luciano, ein mastermind des Verbrechens, organisiert von Neapel aus neue Drogenrouten, später als French Connection berühmt geworden. Cary Grant dreht mit Grace Kelly Hitchcocks »Über den Dächern von Nizza«, und lässt sich vorher vom britischen Geheimdienst anwerben, um einen Propaganda-Film über Tito zu drehen, der damit dem Westen gewogen gestimmt werden soll. Dies alles und noch viel mehr, mal wahr, mal glatt erfunden, fügt das italienische Autorenkollektiv Wu Ming zu einem grandiosen Hybrid aus Abenteuer-, Spionage-, Gangsterroman und politischen Pamphlet zusammen, in dem sich Geschichte neu und subversiv denken lässt. Das ist spannend, sehr komisch und sehr originell. Kriminalliteratur pur und ein kreativ mächtiger Schlag gegen ausgeleierte Formattexte. Es geht auch anders, 54 ist ein Paradebeispiel dafür.

Chasing the Scream

Manche Bücher brauchen ewig lange, um hier anzukommen, manche finden nie einen deutschen Verlag. Deswegen ausnahmsweise die dringende Empfehlung für das bis jetzt nur auf englische vorliegende Chasing the Scream. The First And Last Days Of The War on Drugs (Bloomsbury/Circus) von Johann Hari (*). Sachbuch, Mega-Essay, Reportage, egal, wie man es nennen mag - Hari nimmt den realpolitisch fatalen und fiktional sehr fruchtbaren Begriff des "War on Drugs" auseinander. Er tut dies anhand von dessen Protagonisten, Kombattanten und Nicht-Kombattanten, Tätern und Opfern und Helden. Wir treffen Harry Anslinger, einer der Köpfe hinter der Idee der "Prohibition", die sich nicht nur auf den Genuss von Alkohol beschränkt(e). Wir begegnen Arnold Rothstein, "the genius of crime", wie ihn Jerome Charyn nennt, der im Organisierten Verbrechen schlicht eine Geschäftsform sah, egal, mit was man handelt, Hauptsache, man tut es professionell. Ein Kernkapitel des Buches geht um Billie Holiday, die userin par excellence, gehetzt, gejagt und kriminalisiert von Menschen, denen es wie Anslinger um die Durchsetzung ihres Rassismus ging, um die gesellschaftliche Kontrolle über Kreativität und die Durchsetzung rigid puritanischer Moral. Wir begegnen am Ende einer tour de force durch hundert Jahre blutiger Ideologie-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte einem Killer der Zetas (ein inzwischen eigenes mexikanisches Kartell, das sich aus eine legalen Armee-Einheit entwickelt hatte) und am Ende José Mujica, dem von 2010 bis 2015 amtierenden Präsidenten von Uruquay, der den Anbau von Cannabis legalisiert hat - und mit dieser Entkriminalisierung dem kriminellen Profitstreben einen ersten zaghaften Schlag versetzt hat. Wer sich ein bisschen bei der Fiktionalisierung des Themas auskennt, also seinen Jerome Charyn gelesen hat, seinen Don Winslow, Dennis Lehane & Co., wer seinen Scorsese, seinen Coppola kennt und »Boardwalk Empire« etc., der findet bei Hari die jeweiligen Vorlagen und Fakten. Aber viel wichtiger: Haris Buch ist ein gigantisches Panorama bewusst falschen staatlichen Handelns, basierend auf Ideologie, gefühliger Moralvorstellungen und blankem Zynismus, der die Profite interessierter Kreise extrem ersprießlich hält.

Der dunkle See

Ein erfreulich tückischer Roman ist Der dunkle See (Dumont) von Conny Schwarz. Hinter diesem Pseudonym verbergen sich Kristin Uhling und Martin Maurer. Und hinter der Fassade eines fast gemütlichen, auf den ersten Blick sehr konventionell konzipierten Regio-Krimis aus einer schwäbischen Kleinstadt verbergen sich Sprengfallen. Es geht im Kern um die Paranoia, verstanden als demokratischen Tugend, die dann, jenseits von albernen Verschwörungstheorien und abseits von "Lügenpresse"-Parolen auch bei den bravsten Bürgern aufkommen muss, wenn ein Mega-Skandal wie NSU von den staatlichen Stellen so gehandhabt wird, wie er nun mal gehandhabt wird. Kann man seinen Nachbarn noch trauen? Wie werden aus engagierten Pädagogen Pegida-Anhänger aus der berühmten "Mitte der Gesellschaft" und wie weit kann und darf man darauf setzen, dass der Polizei-Apparat tatsächlich zum Schutz der Demokratie agiert und nicht au contraire? Aus gemütlich wird bald sehr ungemütlich und auch das liebe, fast idyllische Ende könnte schon wieder ein Täuschungsmanöver sein. Regio, intelligent gemacht, kann auch sehr giftig sein.

Und obwohl ich kein ausgesprochener Ken Bruen-Fan bin: Kaliber (Polar) ist ein rotziges, sehr witziges Buch über Kriminalromane (Jim Thompson, Ed McBain), über die Ähnlichkeit von Cops und Verbrechern, über verrottete Sitten in London und was man dagegen tun kann, wenn man völlig durchgeknallt ist. Das ist extrem komisch, sehr dialogstark, sehr gemein. Großartig.

 

© Thomas Wörtche, 2015

 

(*) Eine deutsche Übersetzung soll unter dem Titel »Drogen. Die lange Geschichte eines Krieges« Ende November 2015 bei S. Fischer erscheinen.
(Anm. der Redaktion)

 

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