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Leichenberg 07/2020

 

Rose Royal 95 Seiten hochkonzentrierte Prosa: Rose Royal von Nicolas Mathieu (Ü: Lena Müller und André Hansen, Hanser Berlin). Rose ist ein "ganz normale" Frau - Ende vierzig, hat im Leben so ziemlich alles durchgemacht, vor allem mit allen möglichen Männern, die allesamt nicht wirklich gut für sie waren. Sie hat sich im Elend irgendwie eingerichtet, Resignatio ist zwar keine schöne Gegend, um Gottfried Keller zu zitieren, aber ihr Dasein ist immerhin erträglich, im "Royal", einer Kneipe mit permanenter "Feierabendstimmung" hat sie eine Art zweites Wohnzimmer gefunden, und Alkohol hilft immer. Von Kerlen will sie sich nichts mehr bieten lassen, deshalb hat sie einen Revolver in der Handtasche. Dann taucht Luc auf, ein Bild von einem Mann, auch er vom Leben gerackelt, aber so scheint es, genau wie Rose, bescheiden und zufrieden mit einer milden Altersliebe, die zwar nicht perfekt, glühend oder romantisch ist, aber immerhin gegen die Leere der Einsamkeit hilft. Rose will Sicherheit und Schutz, sie will Liebe und sie will es ein letztes Mal riskieren. Und wieder sitzt sie, wie immer, in der Falle. Luc ist kein bisschen anders, sie hat Angst vor ihm, er tut ihr weh, er hält sie in völliger Abhängigkeit (er hat Geld, sie weniger), sie ist sehenden Auges in die Falle gerannt, unverbesserlich in ihren Illusionen. Aber sie hat ihren Revolver. Mathieus (immerhin Prix Goncourt geadelt) knappe, kurze, seziermesserscharfe Sätze zergliedern gnadenlos und mit brillanter Erzählökonomie diese fatale Mann-Frau-Konstellation und damit die realen gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Kein Trost nirgends, auch am Ende nicht, das an die Giftigkeit von Claude Chabrol erinnert. Ein schmaler roman noir, aber extrem gehaltvoll und vor allem sehr virtuos.

 

Verdammte Liebe Amsterdam An den guten, alten roman noir der Woolrich, Goodis und Co. erinnert Jason Starrs Seitensprung (Ü: Thomas Stegers, Diogenes). Ein frustrierter Ex-Musiker, der sich als Immobilienmakler eher erfolglos durchs Leben quält, mit angeknackster Ehe und zu kleiner Wohnung, will sich auf einer Dating-Seite ausleben, trifft dort auf eine reiche Lady, ferkelt ein wenig mit ihr im Chat rum und lässt sich auf ein reales Date ein. Als er dort ankommt, ist die Lady tot, anscheinend artig mit einer (seiner?) Krawatte erwürgt, und er landet unter Mordverdacht bei der Polizei, die ihn aber zunächst laufen lässt. Und jetzt: Wie sagt er's seiner Frau, wie seinem Kind? Kann er sich selbst aus dem Schlamassel rauswursteln? Lüge türmt sich auf Lüge und auf Halbwahrheiten. Die Gattin wirft ihn raus, seine Suche nach dem wirklichen Mörder produziert weitere Leichen. Jack Harper, so heißt der Loser, war zudem noch Alkoholiker mit einem "Gewaltproblem", das er anscheinend im Griff hat. Ein selbstmitleidiger Jammerlappen ist er auch noch, aber natürlich will er doch ein ganzer Kerl sein.
     Soweit ein dutzendfach durchgenudelter Plot - aber dann plötzlich kippt die Situation: Alles scheint gut zu werden, die Gattin kehrt reumütig zurück. Ab da geht die Story dann in Richtung "Gaslight", rsp. Gaslighting, das allerdings mit einem schön gemeinen Twist am Ende. Letztendlich auch kein besonders originelles Muster, aber hier geschickt eingedreht. Umso plausibler, weil Starr ja ein Genre-Aficionado ist, der hier mit seinem großen Thema "toxische Männerbilder und ihre Folgen" die aktuelle Tragweite traditioneller Erzählmuster austestet. Neuer Wein in alten Schläuchen, könnte man fast sagen. Oder die Revitalisierung überkommener Muster, wenn man gutwillig ist. Aber toxische Vorstellungen von Geschlechterkonstellationen waren schon immer das Kerngeschäft des roman noir, siehe gerade Woolrich und Goodis, meinethalben auch Chandler, insofern steht Starr in einer langen, ehrbaren Tradition. Das ist völlig okay so, hat eine grundsolide Basis und bedient sicher verlässlich ein Publikum, das keine Experimente schätzt.

 

Niewetow Karsten Stegemanns Niewetow (Edition Nautilus) ist im besten Wortsinn ein Mystery. Irgendein ein Kaff auf irgendeiner Insel in der Ostsee (eben Niewetow), ca. Mitte der 1990er Jahre, als es noch Münztelefone gab und Schreibmaschinen. Alles ist grau, neblig, es regnet, es ist kalt und unbehaust, die DDR wird gerade abgewickelt, die Schiffswerft zerlegt, die Häuser und Plattenbauten sind nur noch spärlich bewohnt und runtergekommen, der Hafen liegt voller Müll, Alkohol allenthalben, Verzweiflung, Rott und Depression. Dorthin hat sich der nicht sonderlich erfolgreiche Journalist Daniel Brandenburg zurückgezogen, auch er hat schwer den Blues, denn seine Freundin studiert in Kanada. Dann passieren mysteriöse Dinge: Ein alter Mann liegt ertrunken in einem im Hafen versenkten Bauwagen. Daniel entdeckt ihn und bringt diesen Tod mit einer unheimlichen Begegnung auf der Fähre in Zusammenhang, rein instinktiv zunächst. Der zuständige Polizist hält ihn anfänglich für einen Spinner. Aber dann kommen mehrere Leute zu Tode, Mord lässt sich nicht nachweisen, aber Daniel und ein blinder Kubaner wissen, dass eine nicht fassbare Entität umgeht, schwer atmet und nach "alter Socke" riecht. Das Wesen steht in der Dunkelheit, hinterlässt Häufchen von Seetang, manchmal scheint es direkt aus dem Wasser zu kommen, aber man weiß es nicht genau. Ein Leviathan, nahe Verwandte aus Carpenters "Fog" oder gar ein Nöck? Auch eine Ex-Film-Diva der DDR, die sich auf die Insel zurückgezogen hat und ein sehr kauziges Einsiedlerleben fristet, scheint bedroht. Daniels bester Freund Fanny ist es definitiv, der extrem übergewichtige Blues- und Jazzfreak ist auch plötzlich tot, mit seinem Rollstuhl umgekippt und an seinem eigenen Gewicht erstickt. Gewalteinwirkung ist, wie bei allen anderen Todesfällen, nicht festzustellen. Was Stegemann da abzieht, ist eine subtil gemachte Horrorshow, bei der lange auf der Kippe steht, ob es nun einen Mörder gibt oder nicht oder was da überhaupt passiert. Der eine Staat ist weg, der andere Staat ist noch nicht richtig angekommen - in dem Vakuum tummelt sich das Grauen, das Unheimliche, in einem Suspense-Szenario vom Feinsten. Vermutlich kann man das Buch, je nach persönlicher Interpretationswütigkeit, als Parabel lesen, auf den aufkommenden Neoliberalismus, auf die Lebenslügen der DDR, wie auch immer. Aber man kann den Text auch auf sich wirken lassen, sich der morbiden Stimmung hingeben (bei strahlendem Sommerwetter eine höchst irritierende Lektüre, by the way) und darauf warten, in welcher Gestalt das tappende, schwer schnaufende Ungeheuer sich zeigt. Sehr starker Text.

 

Der Fall Melchior Nikoleit Beeindruckend Max Annas zweiter Roman über die Morduntersuchungskommission Gera, Der Fall Melchior Nikoleit (Rowohlt Tausend Augen). Gerade ist Gorbatschow an die Macht gekommen, die DDR geht auf ihr Ende zu. Die Jugend wird immer unruhiger, hier in Gestalt der Punk-Szene und ihren Verknüpfungen zur kirchlichen Opposition. "Die Organe" werden nervös, VoPO und MfS gehen mit brutaler Gewalt und den üblichen "Zersetzungstaktiken" gegen die jungen Menschen vor. Auch die MUK kann nicht "ideologiefrei" operieren. Als der Punk Melchior Nikoleit erschlagen aufgefunden wird, weist eine Spur in die Richtung eines "verdienten Parteigenossen", eines NVA-Offiziers zudem. Und der kann doch unmöglich ein Mörder sein? Max Annas ist allerdings zu klug, um hier den Haken seines ersten Romans um den Oberleutnant der MUK, Otto Castorp, noch einmal zu schlagen. Otto hat Beziehungsprobleme, ist frustriert, trinkt zu viel, aber er will weiterhin nur ein guter Mordermittler sein. Der Fall Nikoleit verzweigt sich immer mehr, die neuralgischen Probleme der DDR treten offen zutage. Dazu die Tristesse des Thüringer Alltags, grau, verfallen, marode. Noch zeigt sich kein Vorschein besserer Zeiten, noch dominiert klemmige Enge, aber immerhin leben die Punks, gegen alle Widerstände, und das gefällt vielen Leuten nicht. Annas splittet die Erzählperspektiven, ruft die Zeitkontexte geschickt auf (das Wort "urst" habe ich ewig nicht mehr gehört) und erfreut uns mit hübsch-ekligen Bandnamen wie "Smegma". Vor allem aber: Der Roman ist ein klassisches, perfektes Police Procedural mit vielen Extensionen, die bis heute reichen.

 

Trojanische Pferde Philip Kerrs Trojanische Pferde (Ü: Axel Merz, Wunderlich) ist der dreizehnte Roman um Bernie Gunther, den Mordermittler, der höchst effektiv für die schlimmsten Nazi-Verbrecher wie Reinhard Heydrich oder Arthur Nebe in der SS und im SD gearbeitet hatte, ohne je selbst Nazi gewesen zu sein. Aber seine Vergangenheit drückt ihn. Jetzt, 1957, in dem vorletzten Bernie-Gunther-Roman, den Philip Kerr noch vor seinem Tod 2018 fertigstellen konnte, verschlägt ihn sein komplizierter Lebensweg nach Griechenland. Gunther hat unter falscher Identität bei der "Münchner Rück" (Versicherung) als Schadensregulierer angeheuert, um endlich zu einer Art bürgerlicher Existenz zu finden. Der Job führt ihn nach Griechenland, wo er eigentlich nur ein Schiffsunglück begutachten soll. Zumindest denkt er das, aber peu à peu muss er zur Kenntnis nehmen, dass er mitten in einem extrem schmutzigen Spiel alter Nazis, dem BND und der Adenauer-Regierung gelandet ist, bei dem es um das Vermögen ermordeter Juden in Griechenland geht, und um die Ranküne der jungen BRD, keine Reparationen an Griechenland zahlen zu müssen. Wie immer bei Kerr treten Personen der Zeitgeschichte auf, nicht als Cameos, sondern als konstitutive Protagonisten des Romans: Hier Max Mertens, ehemals Verwaltungsoffizier der Wehrmacht in Saloniki, und SS-Hauptsturmführer Alois Brunner, verantwortlich für die Deportation und Vernichtung hunderttausender Juden nicht nur aus Griechenland. Der ansonsten mit anscheinend indolentem Zynismus gepanzerte Gunther fühlt an dieser Stelle das Bedürfnis endlich "Gutes" zu tun, als eine Art persönlicher "Wiedergutmachung" an den griechischen Opfern des Holocaust und an dem geschundenen griechischen Volk. Aber das ist angesichts der neuen politischen Realien - dem geplanten Beitritt Griechenlands in die schon wieder von den Westdeutschen dominierte EWG (später EU) - ein eher naives Ansinnen.
      Der Roman ist sehr fein geplottet und die erzählerisch souveräne Pranke Kerrs lässt über ein paar kontextuelle Ungenauigkeiten hinwegsehen. Dass Bernie Gunther ein eher steinzeitliches Frauenbild hat und mit galligen Bemerkungen über Griechenland und die Griechen nicht gerade zurückhaltend ist (tatsächlich hören wir sehr genau die Echos, die wir aus der Griechenland-Bashing während der "Euro"-Krise nur allzu gut kennen) kann man mit viel gutem Willen als "Figurenrede" zur Charakterisierung des alten Querkopfs Gunther verstehen. Der wird dadurch nicht unbedingt sympathischer, aber immerhin plausibler, zumal sich sein neuer moralischer Furor an zwei beeindruckenden Frauenfiguren entzündet, eine davon eine Mossad-Agentin, denn auch die Israelis haben ihre eigene Agenda in diesem Spiel.
      Die Bearbeitung deutscher Schuld aus britischer Feder - das hat schon was, zumal bis auf D.B. Blettenberg und Orkun Ertener sich kaum deutsche Autor*innen mit Griechenland während der deutschen Besatzung beschäftigt haben, zumindest nicht im Genre des "Polit-Thrillers". Aber wer weiß, schließlich hatte auch Philip Kerr schon 1989 die dann mit erheblicher Verspätung aufgekommene Welle der deutschen Produktion historischer Kriminalromane aus dem Berlin der 1920ff Jahre losgetreten.

 

Der Fall Melchior Nikoleit Und weil wir gerade bei alten Nazis sind und ihrem Treiben nach dem 2. Weltkrieg sind: Die Assoziation A hat Uki Goñis Standardwerk Odessa. Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher (Ü: Theo Bruns und Stefanie Graefe) von 2002 neu aufgelegt. Goñi schreibt aus der argentinischen Perspektive, aber das ist auch für uns sehr sinnvoll, sieht man doch noch deutlicher wie feingesponnen dieses Netzwerk aus Politik, katholischer Kirche und Ideologen gesponnen war und wie tief der Antisemitismus auch in Südamerika verwurzelt war, lange vor der NS-Zeit. Auf jeden Fall ein wichtiges Buch, gerade in unseren Tagen, wenn man tatsächlich verwundert zu sein vorgibt, dass es sowas wie offene Bekenntnisse zum Nationalsozialismus wieder gibt. Sie waren nie weg, ODESSA ist nur ein Baustein einer langen Kontinuität. Und die sollte man kennen.

 

Durruti Man sollte eigentlich auch José Buenaventura Durruti (1896 - 1936) kennen, die mythische Gestalt des Anarchosyndikalismus. Nach einer beachtlichen Karriere als militanter Gewerkschafter, Revolutionär, Bankräuber, Attentäter und Praktiker des Anarchosyndikalismus kommandierte er im Spanischen Bürgerkrieg die "Kolonne Durruti", als er im November 1936 während der Belagerung von Madrid durch die Faschisten erschossen wurde. Von wem, das ist bis heute ungeklärt. Von den Faschisten, von den Kommunisten innerhalb der republikanischen Truppen (nichts war den Stalinisten so verhasst wie die Anarchisten), von den eigenen Leuten? Auch der biographische Roman Durruti. Die neue Welt in unserem Herzen von Francisco Álvarez (Ü: Manfred Gmeiner, bahoe books) bietet keine neue Lösung an oder legt sich gar fest. Der Roman stützt sich im Wesentlichen auf Abel Paz' große Durruti-Biographie ("Durruti. Leben und Tode des spanischen Anarchisten"), zerlegt aber Durrutis Leben in einzelne Episoden, die von einer Rahmenhandlung zusammengehalten werden: Eine französische Journalistin, die einen biographischen Bezug zu Durruti hat, versucht, seine Todesumstände genauer zu rekonstruieren und trifft auf Zeitzeugen, die ihrerseits ihre eigene Agenda haben. Vor allem gelingt es Álvarez, komische und absurde Szenen einzubauen, die nicht etwa den Mythos Durruti beschädigen - der leuchtet auch hier hell wie eh und je - , sondern machen sich über den Umgang der spanischen Regierungen noch weit vor dem Bürgerkrieg lustig, mit der immer stärker werdenden Arbeiterbewegung fertig zu werden. Das gibt dem Roman eine schon fast heitere Wendung, bei aller Wut und Trauer über die Vergeblichkeit eines gesellschaftspolitischen Gegenentwurfs zu den Mainstream-Ideologien der Zeit. Und natürlich ist in den Roman auch der ewige Diskurs über legitime und illegitime Gewalt eingeschrieben - Durruti war kein Pazifist und tanzte zu oft auf der Trennlinie zwischen Sozialbanditentum (nach Eric Hobsbawm) und Revolution. Anyway, den Namen Buenaventura Durruti in geschichtsvergessenen Zeiten im Gespräch zu halten, ist nicht die schlechteste Idee. Sein Leben als politischen Abenteuerroman zu erzählen, mitsamt allen prekären Dialektiken, auch nicht. Weniger schön sind die Unmengen von Druckfehlern und die, milde gesagt, oft arg ungelenke Übersetzung.

 

Gordon Parks - The Atmosphere of Crime, 1957 Die Binse, dass man die Vergangenheit kennen muss um die Gegenwart zu verstehen, kann man sich schenken. Angesichts der Debatte um rassistische Polizeigewalt ist der Band Gordon Parks: The Atmosphere of Crime, 1957 (Steidl) ein brandaktuelles Buch. Gordon Parks war nicht nur der Regisseur des Blaxploitation Films "Shaft" (1971) und damit der erste PoC-Regisseur, der in Hollywood reüssieren konnte, er war auch Romancier, Lyriker und Musiker, und eben Fotograf. 1957 engagierte ihn LIFE für die Fotos zu einer Serie "Crime in the US" (in diesem Band abgedruckt) und Parks lieferte brillante Fotos, die den Narrativen des weißen Mainstreams über Kriminalität zuwiderliefen. Weiße Mainstream-Narrrative, die sich in hysterischer Angst vor dem bösen "schwarzen Mann" suhlten, ohne im Geringsten zu reflektieren, wie "Kriminalität" unter anderem auch über Bilder von Kriminalität konstruiert wird. Parks zeigt keine Bilder von Verbrechen, keine blutigen Szenarien (wie Weegee), er zeigt Bilder von weißer Polizeipräsenz, von polizeilichem Vorgehen, vom Weg aus dem schwarzen Alltag ins Gefängnis, er zeigt Armut, vernachlässigte Gegenden, Drogenmilieus, Menschen in Handschellen, gequälte Körper und auch Momente von grace under pressure, wie das berühmte Foto der Hand, die elegant eine Zigarette haltend, aus einer Gefängniszelle herausragt. Das geschieht auch oft gegen den Text des Magazins, der alltägliche Situationen in einen kriminellen Zusammenhang stellt, eben nur auf Grund der Zugehörigkeit der dargestellten Menschen zu einer bestimmten Minderheit.
      Ein kluger Essay von Nicole R. Fleetwood, "Policing and the Production of Crime", flankiert Parks' Arbeiten und skizziert die politisch gewollte Kriminalisierung von PoCs und anderen Minderheiten nach, die sich unter der Trump-Administration noch einmal verschärft hat, jedoch niemals nicht existiert hat. Amerikanische Verhältnisse, ja sicher. Aber der Blick durch Gordon Parks' Kamera und die Qualität seiner Bilder zeigen eine ziemlich universale Gültigkeit. Die zunehmende Akzeptanz rechtsnationalistischen Gedankenguts erfordert ein klares Bewusstsein, dass "Kriminalität" ein keinesfalls interessefreies Konstrukt ist, genauso wenig wie "Polizeiarbeit" (im positiven wie eben auch negativen Sinn) es nie war und nie ist. Deswegen sind Gordon Parks' Fotos ein Must.

 

SOKO Heidefieber Wie schrecklich belanglos dagegen irgendein Ballyhoo zum Thema "Regionalkrimis." Vor allem, wenn so etwas arg Unkomisches wie SOKO Heidefieber von Gerhard Henschel (HoCa) mal so richtig zeigen will, wie peinlich die doch sind. Ein Serialkiller begeht grauenhafte Morde ("angewandte Literaturkritik", wie eine Figur sagt, der einzig gute Gag des Buches) an erfolgreichen Autor*innen von Regio-Krimis, jeweils im Stil der Romane der Opfer. Von Wölfen zerfleischt, von giftigen Viechern getötet, in Baumstämme gestopft, zerlegt etc. etc. - wobei die Vorlage "Who killed the great Chefs of Europe?" von Nan & Ivan Lyons allzu deutlich durchschimmert. Außerdem irrt der Autor Frank Schulz durch den Roman und wird unaussprechlichen Qualen und Abenteuern ausgesetzt, eines alberner als das Nächste, Gerd Haffmans und Stephen King bekommen Cameos. Die meisten Polizisten sind doof, die Griechen stinken nach Knoblauch, Albanien ist eine Verbrechenshöhle und die Vereinigung der Regio-Krimi-Autoren eine Ansammlung von Vollpfosten. Jeder Satz ein Gag, der brüllt, boah was bin ich witzig. Das ist sehr, sehr anstrengend. Völlig schleierhaft bleibt: Was soll das? Eine Parodie von Regionalkrimis? Eine Satire auf Regionalkrimis? Was würden die außer Evidenzen angreifen? Eine intellektuelle Demontage dieses Subgenres? Das wäre so ähnlich riskant und anspruchsvoll, wie Babys Bonbons wegzunehmen. Das tut niemand weh, das schlachtet keine heiligen Kühe. Henschel bläst belanglose Regio-Krimis auf, um ihnen dann die Luft rauszulassen. Als Rache-Akt eines Insiders kann man das nicht lesen, Henschel ist keiner, die "Krimiszene", die er zerlegt, gibt es so nicht. Und neue Erkenntnisse über die Auswüchse des Subgenres kann man auch nicht aus dem Buch saugen, die sind auch so absurd genug. Vielleicht hat sich niemand je so contre cœur um die Nobilitierung des Regio-Krimis verdient gemacht, das wäre eine schöne List der (Un-)Vernunft. Aber vielleicht beugt sich da auch nur mal wieder ein Hochliterat zu den Niederungen des Genres hinab und schändet etwas, was sich schon längst selbst ad absurdum geführt hat. Ach ja...

 

Hunkeler in der Wildnis Regionalität ist ja per se nichts Schlimmes, für sehr viele gute Kriminalromane ist sie konstitutiv. Ganz sicher gilt das für Hansjörg Schneiders "Hunkeler"-Romane, dessen zehnter, Hunkeler in der Wildnis (Diogenes) jüngst erschienen ist. Peter Hunkeler, der pensionierte Polizist, pendelt zwischen Basel und seinem Häuschen im Elsass, und erfreut sich an der Windstille des Lebens. Aber als er eine Leiche im Park entdeckt, muss er doch ermitteln, auch wenn er das so nicht nennen wollte und auch nicht wirklich begeistert ist, seinen alten Job nicht loszuwerden. Aber die Umstände, sie sind nicht so. Das Spektakuläre an allen Hunkeler-Romanen, also auch an diesem, ist ihre totale Unspektakularität. Alles ist down-to-the-ground, nichts ist schrill oder schick oder sensationell. Menschen bringen Menschen um, das ist seit Kain und Abels Zeiten so, manche Menschen waren Nazis, manche sind Mystiker, Außenseiter, Drop Outs, auch die kommen manchmal zu Tode, genauso wie Feuilletonisten. Und manche bringen sich um. Hunkeler bleibt, zumindest äußerlich, stoisch. Manchmal schläft er gut, manchmal schlecht. Manchmal wirft er lärmenden Nachbarn einen Stein ins Fenster. Gutes Essen ist in der Region selbstverständlich, es macht die Menschen auch nicht besser oder schlechter. Und im Wald können auch Tiere unschöne Schicksale erleiden. Über dem ganzen Szenario aber liegt eine Atmosphäre von Wohlhabenheit und Kultiviertheit, deren toxischen Anteile während Hunkelers beiläufigen Ermittlung aufblitzen, beinahe genauso beiläufig. Darum macht Schneider kein Geschrei. Die Welt ist, wie sie ist. Und Hunkeler freut sich auf eine Trota al limone. Der Anti-Zeitgeist par excellence.

 

Der Bluthund

Sehr geschickt hingegen fädelt Lee Child in seinem 22. Reacher-Roman, Der Bluthund (Ü: Wulf Bergner, Blanvalet), ein brisantes, aktuelles Thema ein: Die sogenannte Opioid-Krise in den USA, ihre Ursachen, ihre Auswirkungen, ihre kriminellen Implikationen und ihre menschlichen Verheerungen. Wie immer fängt alles ganz zufällig an - schließlich ist Lee Child der Großmeister der kalkulierten Kontingenz. Während einer Pause bei einer von Jack Reachers unendlichen Busfahrten durch die weiten, leeren Räume der USA entdeckt er in einem Pfandhaus einen Westpoint-Ring, der einer Frau gehört haben muss. Reacher, ein Wizzard der Deduktion, schließt daraus, dass die Person, die diesen Ring versetzt hat, in großen Problemen stecken muss, denn einen Ring von der erfolgreich abgeschlossenen Militärakademie gibt man nicht so einfach her, schon gar nicht als Frau, deren Weg durch diese Eliteschmiede doppelt so hart gewesen sein muss. Und dann läuft das übliche Reacher-Programm ab. Er wühlt und wühlt und gibt keine Ruhe, bis er das Geheimnis gelöst hat. Wie immer muss er hin und wieder Leute verprügeln oder umbringen, nicht, dass er sie nicht gewarnt hätte, und auch vor dem finalen Gebrauch einer Trockenschleuder macht er praktischerweise nicht Halt. Ein Raubüberfall aus benevolenten Gründen kann auch schon mal vorkommen, denn inzwischen hat er die Besitzerin des Ringes, ein weiblicher Major der Infanterie, gefunden und korrigiert aus emphatischen Gründen deren schlimmes Schicksal. Die Reacher-Formel hat sich seit 1997 nicht grundlegend geändert und man konnte ruhig ein paar Romane auslassen, dennoch funktioniert sie hier ziemlich gut. Spannend, mit knorrigem Witz und interessanten Figuren, nicht von Beginn an ganz ausrechenbar, dazu eine nicht unangenehme Portion human touch und, siehe "Opioid-Krise", einen sehr neuralgischen Punkt der amerikanischen Gesellschaft treffend. Klare, kühle Luftigkeit im Kopf bei der Lektüre garantiert.

 

Boomerang Ein Polit-Thriller abseits der üblichen Spion-gegen-Spion Spiele ist Boomerang von Nicholas Shakespeare (Ü: Anette Grube, HoCa). Oberflächlich geht es um eine neue Methode der Kernfusion, die der iranischer Wissenschaftler Marvan Rustum, der in Oxford forscht, erfunden hat: spottbillig herzustellen. Wer diese Technologie besitzt, kann ungeheure Profite einfahren und dominiert die ganze Welt. Vorsichtshalber hält die iranische Regierung die Frau und ein Kind des Wissenschaftlers als Geisel, andere interessierte Parteien sind hinter der Formel her - Geheimdienste aller Art und Finanzinvestoren. In wessen Hände die Formel auch fällt, es werden die falschen sein. Aber welche wären dann die richtigen? Bevor der Wissenschaftler mit seinem Sohn spurlos verschwindet, vertraut er die Formel seinem Freund Dyer, an. Und der steckt nun in einem moralischen Dilemma. Was soll er tun? Wem soll er die Formel geben, soll er sie der Öffentlichkeit enthüllen? Hätte das den Tod von Rustums Frau zu Folge? Wer würde politischen Unfug damit treiben? Dyer traut niemanden, aber er muss eine Entscheidung treffen. »Boomerang« ist ein Roman, in dem es um Loyalität geht, um Verantwortung, um "das Richtige". Das aber ist keine feste Größe, sondern eine sehr oszillierende Kategorie, die zudem von ihren Rahmenbedingungen abhängt. Deshalb inszeniert Shakespeare Oxford als Welt in der Nussschale, in der sich Hightechforschung, Geld und politische Macht konzentrieren. In Oxford lassen Mogule, Geheimdienstler und Finanzjongleure ihre Kinder ausbilden und gehen ihren opaken Geschäften nach - ein Panoptikum des Neoliberalismus. Diese erzählerische Einheit von Raum und Zeit ist das ideale Spielfeld für Shakespeares elegante Prosa und erlaubt ihm, in großen Zusammenhängen zu denken, ohne deren menschliche Dimensionen zu vernachlässigen. Ein beeindruckender philosophischer Roman.

 

Mission Blindgänger Sophie Hénaffs ersten beiden Romane um das "Kommando Abstellgleis", eine Loser-Truppe aus inkompetenten, irren oder unbequemen Pariser Polizisten, hatten einen frischen Ton, bizarre Figuren und eine erfreuliche Leichtigkeit des Erzählens. Doch ach, nicht so der dritte Teil, Mission Blindgänger (Ü: Katrin Segerer, C. Bertelsmann). Capitaine Eva Rosière, Mitglied der Chaos-Truppe, hat als Romanautorin Karriere gemacht, ein Werk von ihr wird verfilmt, sie schreibt das Buch und will, als der Regisseur ermordet wird, den Film zu Ende bringen, indem sie ihren Kollegen Filmrollen verschafft und aus den Abenteuern des Kommandos einen Blockbuster macht. Deswegen ist sie auch die Mordverdächtige Nummer eins. Das ist schon sehr bemüht, wird aber durch alle Untugenden eines Whodunnits noch schlimmer: Elend zähe Befragungen (Wo waren Sie wann warum?), absurde chemische Mixturen, die üblichen Haupt- und Nebenverdächtigen und vor allem ein nerviges Kleinkind, das die Chefin der Truppe, Anne Capestan, mit flatternden Nerven durch die Handlung schleppt. Das Ganze ist sehr unlustig, gewollt und vor allem bleischwer. Schade.

 

Boomerang Selbst eine Wunderkammer ist der Prachtband: Massimo Listri: Cabinet of Curiosities - Das Buch der Wunderkammern (mit Texten von Giulia Carciotto, Antonio Paolucci. Taschen). In seinem einleitenden Essay "Artificalia und Naturalia. Die Welt als Sammlung" schreibt der Kunsthistoriker Antonio Paolucci: "Die Wunderkammer galt einst als Stätte der Sensationen, Raritäten und Wunderwerke, ja sogar als Spiegel und Abbild des Weltuniversums. In der Wunderkammer fand alles, aber wirklich alles, seinen Platz: bildende Kunst, wissenschaftliche Geräte, Astrologie und Medizin, Zoologie und Botanik, Gemmologie und Metallurgie, Esoterik und Alchemie". Zwanzig solcher Wunderkammern, von der Renaissance bis heute, hat der Fotograf Massimo Listri für den kiloschweren, wie immer bei Taschen, großartig aufgemachten Band, fotografiert. D.h. durch Licht, Perspektive und Sujetwahl neu inszeniert, also die jeweils zeitgenössischen Inszenierung der Exponate "überschrieben". Das macht die unfassbare Opulenz des Bandes aus, der eben kein Katalog ist, sondern ein autonomer Fotoband sui generis. Die Wunderkammern, die von Fürsten und Potentaten aller Couleur eingerichtet wurden, dienten nicht nur dem Drang, die "Welt" abzubilden, zu kategorisieren, in sinnvolle Zusammenhänge zu bringen, sondern genau so zur Repräsentation von Macht, Reichtum und nicht allgemein zugängigem Wissen.
      Sicher bildeten die Wunderkammern eine Art Keimzelle für Museen, aber die demokratische Idee des Wissens und Genuss für alle lag der Sammelwut nicht unbedingt zu Grunde. Die Kamera Listris insinuiert eine Zugängigkeit ex post. Aber sie mindert natürlich nicht das Staunen über all die Kostbarkeiten - die Möbel, das Geschmeide, die Mineralien und Korallen, die Waffen, die Artefakte und die naturwissenschaftlichen Rara. Kein Wunder, dass bei so viel geballter Exzentrik das Zeitalter des Manierismus in den Naturalia, Artificilia und Mirablia seinen perfekten Ausdruck fand - siehe etwa das Medusenhaupt von Caravaggio, das heute in den Uffizien hängt, aber ursprünglich ein Geschenk des Kardinals Francesco Maria del Monte an seinen Dienstherrn Ferdinando de' Medici war und später, 1598, in die Waffenkammer des Waffenmeister Antonio Maria Bianchi geriet, der es inmitten von Schwertern, Helmen, "indischen Dolchen" und anderem Kriegsgerät als Rundschild arrangierte, und damit mit der Gewaltgeschichte der Renaissance kontextualisierte. Das Medusenhaupt machte kulturgeschichtliche Karriere, kaum eine Darstellung manieristischer Kunst (von Gustav René Hocke bis Mario Praz kommt ohne es aus), wie sehr es aber mit der "dark side" der Renaissance, wie sie gerade von Catherine Fletcher in "The Beauty And The Terror. An Alternative History Of The Italian Renaissance" beschrieben wurde, zusammenhängt, verweist eben auch auf die nicht nur kulinarische Lesbarkeit der "Wunderkammern". Das nur als ein Beispiel für viele, wie wenig unschuldig das Stöbern in den Wunderkammern sein kann, denn auch Phäonmene wie "Raubkunst" (Gustav Adolf räumte schwer ab, für seine Sammlungen) oder Diskurse über "Normalität" vs "Abnormes" lassen sich zu Hauf in diesem unglaublichen Thesaurus finden. Man kann vermutlich Wochen und Monate mit diesem Buch verbringen, und man sollte es auch tun.

 

© Thomas Wörtche, 2020

 

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