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Leichenberg 11/2018

 

Der Nachbar

Ärger mit den Nachbarn? Die einem auf dem Kopf herumtrampeln, lärmen, poltern und allzu laut kopulativ jauchzen... Dann sollte man vielleicht doch nicht einfach hingehen und töten, auch wenn's nur allzu verständlich ist. Aber genau das tut, wenn auch eher aus Versehen, Patrícia Melos Hauptfigur in ihrem neuen Roman Der Nachbar (Tropen). Und schon gar nicht hätte der vom Leben und seinem Job frustrierte Biologielehrer sein Opfer dann in der Badewanne zerteilen und in Häppchen verpackt, in dessen Wohnung verstecken sollen. Das gibt richtigen Ärger, führt letztendlich zu Knast und Wahnsinn. Knapp 160 Seiten braucht Patrícia Melo, um aus einem makabren Alltagsereignis eine Rundumwatsche für ihre, also die brasilianische Gesellschaft zu machen, wobei auch die nur exemplarisch ist. Ihr Anti-Held ist überfordert, von seinen eigenen, selbstherrlichen Vorstellungen, von dem täglichen Stress der Lebenswelt, von selbstbewussten Frauen, von anderen Lebensentwürfen, vom Schulsystem, von Lärm und Hektik, von elektronischen Pieptönen, der Übermacht der Bakterien und anderen unschönen "Wirklichkeitsfetzen". Kein Trost nirgends, schon gar nicht in der Literatur. Doch halt, da ist noch Rúbia, eine der Frauen, die sich in Mörder verlieben - aber deswegen, ein typisch Melo'scher Sarkasmus, weil "ein Großteil der männlichen Bevölkerung des Landes im Gefängnis sitzt". Jair Bolsonaro wird zu diesem Trend durchaus beitragen, dürfen wir vermuten. Die Frauen müssen "lernen, uns zu lieben", wie ein Co-Gefangener unseres Helden feststellt. "Sich in ehrenwerte Männer zu verlieben, wird nur noch etwas für perverse Frauen sein." Der Nachbar ist ein sehr komisches, sehr maliziöses und intrikates Buch, Erzählökonomie pur.

Blind Sight

Seit 1994 ist Carol O'Connells Hauptfigur Kathy Mallory von der Special Crimes Unit des NYPD schon unterwegs und immer noch ist sie Mitte Zwanzig. Immer noch ist sie eisig, exzentrisch, erschreckend intelligent, skrupellos, knallhart, wenig sozialkompatibel und mit einem sehr eigenartigen Humor ausgestattet. Empathie strahlt sie nicht gerade aus, oberflächlich gesehen. Und ausgerechnet Empathie ist das subkutane Thema ihres neuesten Abenteuers: Blind Sight (btb). Carol O'Connells New York City ist, ähnlich wie bei Jerome Charyn, ein phantasmagorischer Ort, in dem alles mit allem zusammenhängt. Der Bürgermeister ist eine hochkriminelle Hedgefond-Heuschrecke, die katholische Kirche hat ihre schmutzigen Finger in so ziemlich allem, die Superreichen wähnen sich außerhalb jeder Gesetze, Polizei und Staatsanwaltschaft sind ein korrupter Haufen. Und so ist die bizarre Tatsache, dass im Garten von Gracie Mansion (der Residenz des Bürgermeisters, Isaac Sidel hat eine zeitlang auch dort gewohnt) vier Leichen ohne Herzen auftauchen, wenig verwunderlich. Die Herzen kommen später, mit der Post. Die New Yorker Medien freuen sich schon auf die nächste Lieferung, Quote pur. Und irgendwie ist auch eine Nonne zu Tode gekommen, die früher mal auf dem Babystrich anschaffen war, und ihr kleiner Neffe, ein blinder Junge, wurde entführt. Der Plot des Romans ist, im schönsten Wortsinn, labyrinthisch, verästelt, wahnsinnig und grotesk. So wie Mallorys Methoden, ihre Art, Auto zu fahren, jenseits der Legalität zu agieren und ihr skorpiongleicher Umgang mit ihren Mitmenschen - blitzschnell hat sie deren schwachen Stelle erkannt und sticht unbarmherzig zu. Der kleine, blinde Junge, der sich im Laufe des Romans grandiose Dialoge mit seinem Entführer, einem bis zur Halskrause zugedröhnten Auftragskiller, liefert, ist, so hat man den Eindruck, derjenige, der noch am ehesten durchblickt. Was er mit seinen blinden Augen sieht, ist nicht schön: Eine Gesellschaft, die, ohne dass der Namen Trump je fällt, brutal, gleichgültig und widerwärtig geworden ist. Herzlos und ohne jede Art von Empathie. Aber halt: Es gibt Empathie in dem Buch, die aber ist, und das ist ein bitterer Zeitkommentar, nicht mehr von dieser Welt. Carol O'Connell in Hochform.

Goster

Einen hohen Wahsinnsquotient hat auch Gerd Zahners Goster (:transit). Auch Goster ist ein, milde gesagt, egozentrischer Polizist aus Berlin, ein Einzelgänger und Quertreiber. Vermutlich Eigenschaften, die man braucht, um mit dem kreischenden Wahnsinn fertig zu werden, der sich in merkwürdigen Todesfällen manifestiert: Locked Room Mysteries, die ihren Ursprung in eigenartigen Sexualpraktiken und deren viraler Verbreitung haben, und Schusswaffen, die ein doch recht autonomes Eigenleben entfalten. Spott und Hohn für alle Leute, die einen "anständig geplotteten" Kriminalroman verlangen, als ob sowas "realistischer" sein könnte als die Halluzinationen, die Gerd Zahner so erzählt, als ob sie "realistisch" seien. Aber um genau diesen "Sachrealismus" in die Tonne zu treten, stilisiert Zahner seine Prosa. Deutlich hört man die Echos von Adornos eigenwilliger Satzstellung, die Szenen sind minimalistisch, "Maximen und Reflexionen" allüberall, aber garantiert ins Schräge gedreht, Minima Moralia aus dem Stadtalltag, das Banale wird überhöht, das Wichtige wird peripher. Und ziemlich komisch ist dieser wunderbare schmale Text auch noch.

Nanos. Sie bestimmen, was du denkst

"Realismus" ist nun nicht gerade das Geschäft von Dystopien und Dystopien sind gerade angesagt. Und wenn ein Trend erkannt zu sein scheint (ob's ihn wirklich gibt, ist eine andere Frage), dann kann man die Uhr danach stellen, dass jetzt halt Bücher "im Trend" hergestellt werden. So auch Nanos. Sie bestimmen, was du denkst von Timo Leibig (Penhaligon). Irgendwann, bald, demnächst, hat es mal wieder ein Mad Scientist geschafft, Deutschland zu beherrschen. Mit Nano-Messages, die durch Biofood (gesunde Ernährung sollte schon misstrauisch beäugt werden) miese, böse Botschaften in die Hirne der Menschen transportieren, die dann das machen, was der "Führer" will. Nur ein paar Leute sind immun dagegen (irgendwelche sich wissenschaftlich gerierende Gründe dafür sind schnell gestrickt), und die sind der Widerstand, und dann knallt's und scheppert's nonstop. Ach ja, und so wird auch alles, was nicht schnell genug auf die Bäume kommt, verwurschtet - von "The Handmaid's Tale" bis Max Annas' "Finsterwalde" und a weng an Orwell, a weng an Darth Vader auch. Und natürlich Action, Action, Action, die aber eher schlichter Gewaltporn ist. Am Ende kommt dann aber doch wieder nur eine Bruder-gegen-Bruder-Story raus und der ganze futuristische Fidelwipp ist so überflüssig wie nur was, Erkenntniswert null. Implikation: Ohne dass deutschen Menschen was Fremdbestimmtes in die Hirne geschraubt wird, würden die doch nie einem totalitären System begeistert aufsitzen. Never ever, das weiß man doch.

Krokodilwächter

Ein schönes Beispiel für "so-richtig-an-den-Haaren-herbeigerissen" ist die Geschichte, die Katrine Engberg in Krokodilwächter (Diogenes) erzählt. Ein fieser, machtbesessener Westentaschen-Hemingway, der tatsächlich Kingo (!) heißt, manipuliert schwache Möchtegernkünstler zu schlimmen Mordtaten (Gewaltporn), eine emeritierte Professorin im Dauersuff liefert in einem Roman-Manuskript die Durchführungsanleitung (meta), für ganz Blöde hören ihre Möpse auch noch auf die Namen Episteme und Doxa, und wir lernen beklagenswerterweise auch viel mehr als wir wissen wollen über die Erektionsprobleme des ermittelnden Polizisten (doch siehe, Erlösung naht: "Ihre Brüste! Ihre weichen, phantastisch runden Brüste!" Na also, geht doch), der zudem noch Rücken hat (siehe unten). Vermutlich wollte Katrine Engberg mal so alle Klischees umdrehen, die sie so am Werk sieht: Der männliche Polizist ist ein winselndes Weichei, seine Partnerin down to the ground, die Unschuld vom Lande ist eine ganz schöne Schlampe und so weiter - und etabliert dadurch die nächsten Klischees: Künstler wahnsinnig, Sex irgendwie deviant, abtreibewillige Frauen böse. Gesellschaftliche Parameter irrelevant. Und ein paar Trivialitäten als Reflexion über den Kriminalroman: "Einen Krimi zu schreiben ist ungefähr ähnlich schwierig wie der Versuch, einen Zopf aus Spinnweben zu flechten", jo. Aber ganz schick das Ganze, wie ein Lifestyle-Führer durch Kopenhagen. Am Ende noch ein bisschen Bauchaufschlitz und Augenraus, aber dann ist alles wieder gut. Eine Gegenschrift zum politisch motivierten "Nordic Noir"? Oder einfach ein ziemlich überflüssiger Roman?

Der Schmetterling

Ziemlich ähnlich tickt Der Schmetterling von Gabriella Ullberg Westin (HarperCollins). Der Weihnachtsmann schlachtet die Gattin eines weltberühmten schwedischen Fußballers ab (wer mag damit gemeint sein?), was ziemlich unnötig ist, weil die Gattin sich gerade in suizidaler Absicht mit irgendwelchen Mittelchen vollgepumpt hat. Und daraus entspinnt sich eine verworrene Geschichte über neurotische Menschen, Pferdewetten, Fußballskandale und Kinderschänder. Der Quell allen Übels siedelt in einer "Kommune", brünstige Frauen geiern hinter strammen Sportlern her, der Ermittler hat (siehe oben) Rücken. Auch hier: alles ganz schick. Mode, Florenz (Dienstreise ins Sternehotel für zwei Fragen, die haben Kohle, die Schweden), Lifestyle-Magazin. Und wer oder was ist an dem ganzen Schlamassel schuld? Das Böse. O sancta simplicitas, und wir lernen, dass auch wirre Plots durchaus sehr schlichten Geistes sein können.

Krokodilwächter

Ein deutliches Designer-Produkt ist Die Tote im Wannsee von Lutz Wilhelm Kellerhoff (Ullstein). Das Autoren-Trio Martin Lutz, Uwe Wilhelm und Sven Felix Kellerhof hat sich das geschichtsrelevante Jahr 1968 ausgesucht, als (West-)Berlin ein Hotspot der "Studentenbewegung" war. Eine tote Frau wird aus dem Wannsee gefischt und die Ermittlungen führen prompt ins Milieu der 68er. Die Hauptfigur, Kommissar Heller, ist eine Art Außenseiter bei der Mordkommission, sein Vater ist ein schlimmer Nazi (aber auch Mensch), er wohnt zur Untermiete bei einer alleinerziehenden Mutter, mit der er ein Verhältnis hat und ein paar Kollegen bei der Polizei arbeiten für "die Gegenseite", in diesem Fall für die Stasi. Diesen Roman habe ich allerdings schon mal gelesen, da hieß er noch "Der nasse Fisch" und war von Volker Kutscher, die jeweiligen Ersetzungen sind evident. Lutz Wilhelm Kellerhoff sind schlicht auf die Timeline nach vorne gegangen und haben die Struktur von Kutscher eins zu eins übernommen. Bisschen dicke, diese Chuzpe. Die aber verzeihlich wäre, wenn sie nicht auch die Schwächen von Kutscher mit adaptiert hätten. Zeitgeschichte als Pappmaché-Kulisse, hergestellt durch Erklär-Dialoge, die sich direkt an die Leserschaft richten, name-dropping (Schily, Mahler, Bommi Baumann, Langhans, Benno Ohnesorg), Tourenführer (und da ist die K1), ohne dass das alles irgendeinen tieferen Bezug zur Handlung hätte. Nur Karl-Heinz Kurras hat eine kleine Rolle und die ist bezeichnend: Kurras wurde ja wegen der Tötung Ohnesorgs freigesprochen und war, wie sich später herausstellte, Stasi-Mann, Sven Felix Kellerhoff hat ausführlich über ihn gearbeitet. Und hier setzt das eigentliche Narrativ des Buches an: Die 68er Bewegung wurde von der Stasi gesteuert und finanziert, der Ruf der empörten Bürger "Geht doch rüber" war völlig richtig. Insofern klinkt sich der Roman in die trübe Tradition des 68er-Bashings ein, so als ob die Bewegung ein lokales (west-)deutsches oder Berliner Phänomen gewesen wäre. Die frühe Frauenbewegung ist dann logischerweise die Sache reicher Bürgertöchterlein, die sexuellen Usancen der Zeit sind krampfig, Sodom und Gomorrha (immer ein Hauptangriffspunkt gegen emanzipatorische Strömungen, dessen normative Basis ziemlich schauderhaft ist) und Drogen, oh weh, ja die auch. Sehr komisch ist dabei, dass unser Berliner Polizist nicht so genau weiß, was ein Joint ist und nach dem Verzehr eines Stückchen Hasch-Kekses gleich mal ins Delir fällt. Was erzählen die denn da?

Darktown

Auch Darktown von Thomas Mullen (Dumont) ist ein leicht problematisches Buch, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Zunächst einmal ist es ein sehr guter Roman. Es geht um die Etablierung einer schwarzen Polizeitruppe in Atlanta, im Jahr 1948, also zuzeiten des krassen Rassismus in den Südsaaten. Die schwarzen Polizisten haben nur sehr begrenzte Befugnisse, sie sollen die Verhältnisse in den schwarzen Vierteln der Stadt regeln, aber sobald weiße Menschen ins Spiel kommen, haben sie keinerlei Autorität. Ihre größten Gegner sind die weißen Cops, dies es a priori ablehnen, schwarze Menschen in Uniform zu akzeptieren (drei Jahre nach dem 2. Weltkrieg, deswegen sind auch viele der schwarzen Cops Veteranen), auch weil die ihre eigenen korrupten und rassistischen Agenda stören. Mullen zeichnet ein sehr beklemmendes, gut recherchiertes Bild dieser Zeit und ihrer Verhältnisse anhand eines Kriminalfalles, bei dem ein weißer Mann offensichtlich eine schwarze Frau umgebracht hat - höchstens ein Kavaliersdelikt für die weiße Polizei, eine Herausforderung für die schwarze. Die Problematik des Buches liegt an der deutschen Übersetzung. Ich bin auch überzeugt davon, dass sich der Übersetzer Berni Mayer und das Lektorat die Sache nicht leicht gemacht haben: Um das N-Wort zu vermeiden, steht im deutschen Text immer "der Negro" oder "die Negro" - nur in den deskriptiven Teilen natürlich, nicht in den Dialogen und den personalen Passagen. Sie hatten "einen Negro" festgenommen, "er trat den Negro erneut" usw. Im Amerikanischen ist "Negro", zumal in einem historischen Roman, der nicht sprachlich anachronistisch sein will, völlig okay, cf. Martin Luther King. Im Bemühen um sprachliche Korrektheit im Deutschen aber ist diese Lösung eher problematisch, weil sie nicht nur den Lesefluss hindert (zu artifiziell, man stolpert pausenlos), sondern auch direkt auf den Ethnophaulismus hinweist, den der Ausdruck eigentlich umgehen will. Klar, in dieser Lösung steckt natürlich das richtige Bewusstsein für die Tücken von Sprachverwendung, aber sie übererfüllt es mit einer unpraktikablen Variante.

 

© Thomas Wörtche, 2018

 

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