In Kapstadt wird die Stimmung zwischen jüdischen und muslimischen Bevölkerungsteilen ungemütlich, als in einer Synagoge die geschändete Leiche eines anscheinend muslimischen Kindes gefunden wird. Der Nahost-Konflikt, jetzt auch in Südafrika? Von Inspector Eberard Februarie, nicht gerade everybody's darling bei der Polizei, erwartet man höheren Ortes eine bestimmte Handhabung des Falles, in dem auch eine reiche christliche Kirche, der Geheimdienst und der Innenminister mitmischen. Andrew Browns neuer Roman Trost (btb) nimmt ein Thema auf, dass auch seine Kollegen Mike Nicols und Deon Meyer umtreibt: Besteht nicht die Gefahr, dass das demokratische Projekt "Republik Südafrika" allmählich umkippt und zu einem gigantischen, byzantinischen Geflecht aus Korruption und Organisiertem Verbrechen wird? Brown ist an diesem Punkt noch ein klein wenig optimistischer als Mike Nicol, der einen solchen schlimmen Zustand in seiner "Rache-Trilogie" schon quasi festgeschrieben hatte. Aber auch Browns Trost geht davon aus, dass vernünftige, sinnvolle Polizei-Arbeit nur noch unter großen persönlichen Risiken machbar ist - und ein bisschen Hilfe von Freunden bedarf, die notfalls auch von ausländischen Geheimdiensten kommen dürfen. Denn Religion und ethnische Konflikte haben nicht nur eine globale Dimension, sondern können auch zu lokalen politischen Verwerfungen führen und Profitquellen sein. Brown seziert eine solche Gemengelange in seinem Roman schmerzhaft präzise, kühl und dennoch mit großer Empathie für seine Figuren. Ganz feiner Roman.
Völlig unterschätzt ist bei uns die schottische Schriftstellerin Denise Mina, deren neues Buch Das Vergessen (Heyne) ein Highlight des (neuen) britischen Polizeiromans ist, auch wenn das Buch im schottischen Glasgow spielt. Die in jüngster Zeit notorisch gewordene kleinteilige Regionalisierung, die in dem manchmal einfach nur dämlichen Begriff tartan noir steckt, wenn er einfach nachgeplappert wird, verdeckt ein paar andere, viel wichtigere Themen, die die Kriminalliteratur(en) aus dem UK und Irland gemeinsam am Wickel haben: Wie ist die Polizei auf den Inseln verfasst? Wer macht gute Polizeiarbeit für wen? Wie weit sind der Rechtsstaat und seine "Organe" korrumpiert? Wie weit reicht die Verflechtung von Politik und Wirtschaft und "Innerer Sicherheit" in die Alltagsarbeit? Wie motiviert sind Polizisten? Und wie, das ist auch ein Subthema von Minas Roman, kommt zum Bespiel ihre Heldin DI Alex Morrow mit ihrem Job und ihrer Mutterrolle klar? Oder anders rum: Wie arbeitet der Job an den Cops? Es spricht sehr für Denise Mina, dass sie solche Themen nicht als atmosphärische Details oder (soap-biographischen) Hintergrund ihrer Figuren behandelt, sondern dass sie direkt für ihre Geschichte über eine seltsame Anwaltssippe tragend sind. Dazu kommt Minas fettfreie, genaue und analytische Erzählweise, die »Das Vergessen« zu einem großen, seriösen Kriminalroman macht.
Schön, dass es Verfilmungen gibt - vor allem, wenn James Gandolfini und Noomi Rapace mitspielen, naja Tom Hardy auch: Deswegen präsentiert uns Diogenes jetzt den kompakten Roman The Drop - Bargeld von Dennis Lehane - ein (klein-)kriminelles Sittenbild mit Bankraub, Loyalität und Verrat aus den Flats von Boston. Ein Regio-Krimi, wenn man so will, auf Weltniveau. Lehane schreibt hier in der Tradition von Elmore Leonard und noch deutlicher George V. Higgins, vor allem was besagte Regionalität und die soziologische Genauigkeit des Plots und der Figuren angeht. Der Beitrag der USA zur Weltliteratur besteht zum wesentlichen Anteil aus solchen Texten.
Dazu gehören auch alle Matt-Scudder-Romane von Lawrence Block, nach ihrer Hauptfigur Matthew Scudder, Privatermittler ohne Lizenz und ohne Limits, so genannt. Ruhe in Frieden (Heyne) hieß bei uns 1994 »Endstation Friedhof« und im Original 1992 »A Walk Among The Tombstones« - und auch hier haben wir es als Windfallprofit der aktuellen Verfilmung mit dem großen Liam Neeson zu verdanken, dass endlich mal wieder ein Scudder-Roman auf Deutsch greifbar ist. Wie immer bei Block ist das Verständnis von Gut und Böse, von Gerechtigkeit und Recht sehr, sehr dialektisch und wie stets ist der Roman ein leuchtendes Beispiel dafür, was zum Entsetzen vieler heutiger "LektorInnen" und "FormatberaterInnen" der Literaturverhinderungsindustrie ästhetisch und technisch geht und, mehr noch, was Genre richtige Literatur für erwachsene, denkende Menschen sein lässt.
Ein sehr erwachsener Comic (nicht nur für die nämliche Zielgruppe, sondern auch in Qualität und Anspruch) ist Max Cabanes' Adaption von Jean-Patrick Manchettes Fatale (schreiber & leser noir). Zusammen mit Manchettes Sohn Doug Headline erzählt Cabanes mit ausgefuchster Farbdramaturgie - so toxisch wie der Text - ziemlich vorlagentreu eine der enigmatischsten Stories von Manchette - femme fatale trifft auf Provinzhonoratioren, das wird blutig, weil noch lange nicht raus ist, wer skrupelloser und brutaler ist, die Biedermänner oder die Lady. Zumal die Bilder des Comics die ätzenden Figuren, die Manchette agieren lässt, noch pronocierter demaskieren, ohne sie wesentlich mehr zu karikieren als sie selbst als normale Soziotypen des Bürgertums schon Karikatur sind... kein Wunder, dass der engagierte Bourgeoisie-Hasser Claude Chabrol Manchette verfilmt hat ("Nada").
Und weil man gar nicht genug Manchette lesen und bedenken kann: Der lobenswerte Alexander Verlag hat mit Portrait in Noir eine von Doug Headline (s.o.) veranstaltete Sammlung bisher auf Deutsch unveröffentlichter kritischer und feuilletonistischer Texte, nebst ein paar anderen Paraphernalia aus dem Nachlass von Manchette zusammengestellt und mit einem schönen und liebenswerten Nachwort von Dominique Manotti versehen. Es handelt sich hauptsächlich um Texte zum Film, ein paar fiktionale Fragmente und Notizen zum Kriminalroman an und für sich, also alles, was nicht Eingang in die berühmten »Chroniques« gefunden hat. Das alles ist wie die meisten theoretischen Sachen von Manchette mit großem Beifall oder großem Dissens, aber auf jeden Fall mit großem Gewinn zu lesen. Muss man haben.
© Thomas Wörtche, 2014