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Leichenberg 11/2014

 

Missing. New York

Keine guten Nachrichten für alle, die dachten, dass sich Don Winslow nach dem Debakel seiner Söldnerschwarte »Vergeltung« besinnen und mit Missing. New York (Droemer) wieder einen guten Roman vorlegen würde. Das neue Buch ist immerhin nicht so brachial-dumpf, atmet aber ganz und gar den Geist reaktionärer Modernitätskritik. Ein aufrechter, tapferer Kleinstadtsheriff aus Nebraska gibt der Mutter eines entführten Mädchens sein Wort, es wieder zu finden. Das ist absichtlich die Konstellation von Dürrenmatts »Das Versprechen«, gegen dessen bittere Ironie und gegen die Rolle der Kontingenz Winslow die amerikanische Hau-Drauf-Ideologie dessen setzt, der an das Gute glaubt. Der Sheriff also räumt in New York City auf, in der großen Hure Babylon, die schmutzig ist, stinkt und von dekadenten Wüstlingen bevölkert ist. Das sind die Leute, die reich und schön und berühmt sind. Und völlig verderbt und böse. Ob Winslow selbst die Ironie bemerkt, die darin steckt, dass sein selbstloser und naiver Held pausenlos den Zufall braucht, um das geraubte Mädchen nach einem Jahr der Suche buchstäblich in letzter Minute aus den Klauen schlimmer Perverser zu entreißen? Allerdings besteht die größte Sünde des Buches darin, völlig vorhersehbar und deswegen gähnend langweilig zu sein. Als ob wir wieder 1950 hätten und sich Mickey Spillane seinen Hass auf die Moderne aus dem Leib ballerte. Ach, Winslow...

Absolute Zero Cool

Gähnend langweilig ist leider auch Absolute Zero Cool von Declan Burke (Nautilus) - ein Meta-Krimi. Kriminalliteratur lebt nun mal davon, dass die Welt als "erzählbar" vorgestellt wird. Ein Meta-Krimi kann diese Illusion sichtbar machen, in dem er pausenlos auf das Gemachte, das Artifizielle der Texte hinweist, in dem er genau das zum Thema macht. Deswegen tritt auch hier eine Figur aus dem Werk und verwickelt ihren "Autor" in allerlei Diskussionen, macht sich selbstständig und beginnt selbst einen Roman zu schreiben, dessen Figuren wieder aus anderen Texten kommen. Diese entlaufene Figur scheint eine Art Todesengel zu sein, ein Krankenpfleger, der Leute final erlöst und am Ende noch das Krankenhaus in die Luft sprengen will. Dieser kriminalliterarische Anteil ist aber gering, die Feier des selbstbezüglichen Erzählens dominiert das Buch, bis auch der letzte gutwillige Leser entschlummert ist. Kein Wunder, denn allerspätestens seit dem 18. Jahrhundert gibt es eine lange, lange Tradition dieser Art Thematisierung der Entstehungsbedingungen von Literatur, so dass Declan Burke gegen die Großmeister dieser Strömung - Laurence Sterne, E. T. A. Hoffmann, Jorge Luis Borges, Italo Calvino etc, - einfach alt aussieht. Denn wer zu spät kommt und dann noch keine Idee für ein uraltes Prinzip hat...

London Underground

Richtig erfreulich dagegen London Underground (Blessing), Oliver Harris' zweiter Roman um den leicht schurkischen Detective Constable Nick Belsey, der bei seinem ersten Auftritt in »London Killing« ein brillanter Krimineller sein musste, um ein guter Polizist zu sein. Diese Eigenschaften helfen ihm auch hier, als er auf ein der Öffentlichkeit völlig unbekanntes London stößt - ein Tunnelsystem unter der Stadt und bis hinaus in die Peripherie aus den Zeiten des Kalten Krieges. Damals sollte im Falle eines Atomschlages die Elite des Landes, die "Führungspersönlichkeiten" handlungs- und entscheidungsfähig gehalten werden, auch wenn es über ihnen ein paar Millionen Menschen verglüht. Irgendjemand muss die Anlagen gebaut, sie geplant, befohlen und ausgeführt haben, ohne dass ein Sterbenswörtchen nach außen gedrungen wäre. Dagegen wurde schon damals final vorgegangen und auch heute sehen ein paar "Dienste" es nicht gerne, dass ein einfacher Detective einem Killer auf die Schliche kommt, der zu viel von damals weiß. Und so beginnt eine spannende, extrem lehrreiche Jagd kreuz und quer durch London, das durch die neu präsente Schicht von Tunnels und Gewölben (die alten Tunnels aus den Jack-the-Ripper- und U-Bahn-Narrativen kennen wir ja) eine "fremde", bis dato unbekannte, aber faszinierende Ansicht bietet. Stadtgeschichte und -soziologie sortieren sich neu und keinesfalls didaktisch. Klasse Roman!

La Frontera

La Frontera (Edition Faust) heißt ein großartiger, bilingualer Fotoband von Stefan Falke, mit dem Untertitel Die mexikanisch-US-amerikanische Grenze und ihre Künstler/La frontera entre México y Estados Unitos y sus artistas. Falke porträtiert eine Grenze zwischen zwei Welten, zwischen zwei Ökonomien, ein mystisch-mythischer Landstrich, den wir aus den Büchern von James Carlos Blake, James Crumley, Charles Bowden, James Lee Burke, Cormac McCharthy und vielen anderen kennen, die sich explizit mit den Gewaltstrukturen der Gegend beschäftigen. Bei Falke kommt eher der mexikanische Blick ins Spiel - denn Texte von Rogelio Guedea, Yurri Herrera, Orfa Alarcón richten den Fokus noch einmal anders aus. Die grandiosen Fotos von Falke zeigen, warum la frontera, the crystal frontier, so ein extrem bedeutungsvoller und kunst-produktiver Ort ist. Ein ganz wichtiger Band, der hilft, die Welt zu verstehen.

Der Geisterseher

Eines der merkwürdigsten Fragmente der deutschen Literatur ist Friedrich Schillers Lieferungsroman Der Geisterseher, der sich von 1787 bis 1789 durch die Hefte der Literaturzeitschrift "Thalia" quälte und auch als Buchausgabe 1792/1798 unvollendet blieb. Schiller mochte den Text, den man gerne als ersten deutschen Polit-Thriller bemüht, so gar nicht - "welcher Dämon hat ihn mir eingegeben?" Tatsächlich ist eine wirre Mischung aus Verschwörungs- und Schauerroman herausgekommen, in dem finstere Mächte (Jesuiten?) auf einen protestantischen Duodez-Prinzen mit allerlei hochkomplizierten Spuk und Geisterfidelwipp einwirken, um ihn zur Konvertierung zum Katholizismus zu bewegen. Oder so. Schiller hat nicht mehr durchgeblickt, niemand recht eigentlich und auch nicht die Szenaristin Dacia Palmerino und der Zeichner Andrea Grosso Ciponte, die den Geisterseher (Edition Faust) in einen prächtigen, opulenten Comic-Band verwandelt haben. Ästhetisch überwältigende Schauwerte lassen leicht darüber hinwegsehen, dass sie das ganze Durcheinander auch nicht auf den Punkt bringen können. Aber wenn Schiller das selbst nicht konnte, ist es eh egal. Die schönen Bilder aber retten alles.

 

© Thomas Wörtche, 2014

 

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