Die Vereinigten Staaten von Amerika stecken in einer tiefen Krise. Ihre Gesellschaft ist zerrissen und uneins, ihr außenpolitisches Gewicht fragwürdig, ihre moralischen "Werte" demontiert. Man kann darüber streiten, ob die Populären Kulturen auf diese Umstände reagieren oder sie, seismographisch, vorformulieren. Unübersehbar auf jeden Fall ist, dass Serien wie »Deadwood« oder »Boardwalk Empire« und Autoren wie u.a. James Carlos Blake oder Daniel Woodrell seit Jahren die Grundlagen dieser Gesellschaft neu denken, deren Mythen, Narrative und fragilen Konsense einer abermaligen Revision unterziehen und dabei den Stellenwert von "Genre" im Konzert der Künste spürbar erhöhen... Und was für die USA gilt, gilt (bald) auch für uns. Ein brillantes Beispiel für einen solchen Grundlagen-Check ist Bruce Holberts Debut-Roman Einsame Tiere (Liebeskind). Gleich drei Basis-Erzählungen werden überblendet: Der (Spät-) Western, der American noir und der Serialkillerroman. Im Okanogan County, im äußersten Nordwesten der USA, lässt sich der schon pensionierte Sheriff Russel Strawl noch einmal dazu motivieren, einen Serialkiller zu jagen, dessen Tötungen anscheinend Botschaften verkünden. Die 1930er Jahre mit ihren Automobilen und der Kommunikationstechnologie sind in den fernen Bergen nur sehr spärlich angekommen. Man bewegt sich meistens zu Pferde durch eine erhaben inszenierte, schreckliche und grandiose Natur. Und ob Strawl den Killer wirklich zur Strecke bringen will, wird immer unklarer. Auch wenn dessen Schlachtemethoden von extremer Brutalität sind (eingebettet in eine der Gewalt gegenüber sowieso indolenten Gesellschaft) - sie zielen auf biographischen Erzählungen, auf Lebensläufe, die als relevant oder nicht relevant bewertet werden, als habe das Jüngste Gericht begonnen. Denn auch darum geht es: Um die atavistische, alttestamentarische Religiosität, die (neben dem fundamentalistischen Puritanismus) eine zusätzliche "Story" im Gefüge der amerikanischen Wertewelt macht. Und genau diese fundamentalen Erzählungen greift Holberts Roman radikal und schmerzhaft an. Aus abstrakten Fragen wird ein faszinierender, verstörender Roman.
Das gilt - cum grano salis - auch für James Lee Burkes Roman Regengötter, mit dem der Heyne Verlag die längst überfällige Wiederkehr dieses literarischen Schwergewichts auf den deutschen Markt einleitet. Auch hier stehen sich ein alter Sheriff und ein mit alttestamentarischem Pomp und Pathos auftretender Killer namens Preacher gegenüber. Und beide ticken nicht so, wie man es gewohnt ist, wie überhaupt wenige Figuren dieses kapitalen Romans so ticken, wie "Genre" vermeintlich zu ticken hat. Ein netter Nebeneffekt der letzten Jahre und Beleg für das Auseinanderklaffen seriöser und rein formelhafter Genre-Varianten: Das berühmte "Genre-Wissen" wird immer mehr außer Kraft gesetzt und die Leser gezwungen, sich mit den Figuren direkt auseinanderzusetzen. Bei Burke ist das besonders wichtig - denn der ganze Roman bewegt sich weite Strecken jenseits der Plausibilitätsgrenzen, die "Genre" angeblich vorschreibt. Figuren agieren sozusagen "autonom" wider jede eingeübte Logik, Frauen werden an Stellen gewalttätig, an denen es ihnen konventioneller weise nicht zusteht, Böse vergeben und Gute sind unversöhnlich. Und auch hier kreuzen sich Biblisches, eine sinnhaft dargestellte Natur und die eigene Geschichte - der Korea- und der Irakkrieg -, deren standardisierten Narrative außer Kraft gesetzt werden. &rqquo;Regengötter« ist aber, trotz aller spannenden Subtexte, auch ein harter, genau beobachteter Kriminalroman um Profit, Gewalt und die dunklen Pfade des Organisierten Verbrechens und dessen "Bekämpfung". Große Klasse, widerborstig, rätselhaft.
Um globale Korruption geht es auch in Deon Meyers neuem Roman Cobra (Rütten & Loening), und Kapstadt ist ein gutes Szenario für so eine Geschichte. Bennie Griessel, der nicht allzu trockene Ex-Alkoholiker, hat es mit einem Genie und einer internationalen Intrige nebst einem schrägen Vogel von Taschendieb zu tun, und natürlich mit seiner Promi-Gattin Alexa. Das hat alles schöne Wiedererkennungswerte, Figuren und Handlungsführung sind nicht sehr überraschend. Das Ganze ist natürlich auch handwerklich gut gemacht und unterhält solide. Aber genau das ist das Problem: Während Meyers südafrikanische Kollegen Mike Nicol und Andrew Brown mit scharfkantiger Intellektualität und Literarizität sich um den Zustand ihrer Gesellschaft kümmern, gibt Meyer den global player, formal und inhaltlich für den breiten Weltmarkt-Mainstream konzipiert. Das ist völlig okay, aber irgendwie hat man das Gefühl, der pro-Jahr-ein-Buch-Produktionsmodus lässt eben lediglich formula fiction zu.
Apropos Basis-Erzählungen: Die meisten Erzählungen von exzessiver Gewalt und vom Verbrechen als gesellschaftlicher und moralischer Kategorien basieren auch auf den Schriften von Donatien Alphonse François Marquis de Sade, ohne den die Bild- und Vorstellungswelten der meisten Serialkiller- und Slasher-Romane nicht so wären wie sie sind. Auch wenn die Rezeption in den meisten billigen Metzelschwarten sehr oberflächlich und auf Grobreize angelegt ist, hat der geistesgeschichtliche so wirkmächtige Marquis gerade auf die Literatur, die Gewalt und Verbrechen per Definition behandelt, einen mehr als subkutanen Einfluss, der sich über das Grand Guignol und andere gewaltverarbeitende Künsten in der Kriminalliteratur von heute ausgebreitet hat. Deswegen ist es zunächst einmal wichtig, sich über den Spender des gleichnamigen -ismus kompetent informieren zu lassen: Die Biographie De Sade oder die Vermessung des Bösen von Volker Reinhardt (C.H. Beck) sollte man schon zur Kenntnis nehmen - es macht viele Lektüren spannender und reichhaltiger.
Und wer wissen will, wie Arthur Conan Doyle versucht hat, Geister und Wesen aus einer anderen Welt oder einer anderen Dimension zu photographieren und damit sozusagen "realitätssicher" zu machen, lese seine »Schriften zur Photographie«, die unter dem Titel »Spurensicherungen« sehr kompetent kommentiert und ediert bei W. Fink erschienen sind. Der Obskurant als Gründungsmitglied einer Literatur des Rationalen. Für Freunde des Paradoxen!
© Thomas Wörtche, 2014